24/03/2013

Der Essay wurde der Publikation "Was bleibt von der "Grazer Schule"? Architektur-Utopien seit den 1960ern revisited" (S.214-225), die 2012 von Anselm Wagner und Antje Senarclens de Gracy im Jovis Verlag herausgegeben wurde,  mit freundlicher Genehmigung des Verlags sowie von Anselm Wagner und Eugen Gross zur Wiederveröffentlichung auf www.gat.st entnommen.

24/03/2013

(118) Werkgruppe Graz, Terrassenhaussiedlung Graz-St. Peter, Präsentationsmodell, 1970

(119) Werkgruppe Graz, Terrassenhaussiedlung Strukturmodell, 1965

(120) Bernhard Hafner, Struktureller Städtebau, 1966

(121) Günther Domenig und Eilfried Huth, Überbauung Ragnitz, Axonometrie, 1967

(122) Team A Graz, urban spinal system, Beitrag zur Ausstellung Trigon 69, Graz, 1969

(123) Team A Graz, urban spinal system, Beitrag zur Ausstellung Trigon 69, Graz, 1969

Geht man von der Voraussetzung aus, dass der Strukturalismus die „Grazer Schule“ der Architektur beeinflusste, dann muss man fragen, welche strukturalistische Vorstellung zu welcher Zeit die „Grazer Schule“ beeinflusste und welche Ausprägungen diesen Einfluss zeigen. Diese Fragestellung ergibt sich dadurch, dass der Strukturalismus als Methode der Anwendung eines geistesgeschichtlichen Denkansatzes einerseits mehrere „Gesichter“ zeigte und andererseits die „Grazer Schule“ durch kein einheitliches formales Merkmal, wie Friedrich Achleitner ausführlich darlegte, gekennzeichnet ist.

Wir können nicht umhin, nach den Wurzeln des Strukturalismus als eines dominant europäischen Phänomens der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu fragen. In der Sprachwissenschaft vollzog sich ausgeprägt ein „Paradigmenwechsel“ – der sich auch in anderen geistesgeschichtlichen Disziplinen abzeichnete – in der Überwindung der historisch bestimmten positivistischen Weltsicht.

Es erwies sich, dass Sprache letztlich ein „ästhetisches Phänomen“ ist, mit dem man zwar Sachverhalte abbilden kann, jedoch ohne Anspruch auf „Alleingültigkeit“ oder „Wahrheit“. Sprache ist für den Strukturalisten nicht nur ein Werkzeug der Verständigung, sondern Spiegel eines Bewusstseinsprozesses. Aus der theoretischen Grundlegung – auf Ferdinand de Saussure zurückgehend – ist erkennbar, dass strukturalistisches Denken sich nicht formal auf bestimmte architektonische Ausdrucksformen einengen lässt, dass daher die Vielfalt der „Grazer Schule“ nicht im Widerspruch zu einer charakteristischen Herangehensweise an architektonische Problemstellungen steht, die – das ist meine These – von einer „Grazer Schule“ zu sprechen erlaubt.

Dennoch, im Wort Strukturalismus – in der Architektur erst 1969 durch Arnulf Lüchinger einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht, doch vom Japaner Kenzo Tange schon zehn Jahre früher formuliert – ist der elementare Begriff der „Struktur“ enthalten. Er geht auf das lateinische Wort structura zurück, welches wieder vom Verb struo – schichten, aufbauen, ordnen – abgeleitet ist. Struktur wurde bereits in der Antike auf die Architektur bezogen, aber ebenso auf die Anatomie und Gesellschaft. Struktur also ist der Architektur immanent
und jedem Architekten und jeder Architektin geläufig als Schaffung eines einheitlichen Ausdrucks für vielfältige Funktionen. Wir brauchen nur an das Wohnen denken, das in der Wohnung nicht anders als strukturiert erfüllt werden kann.

Der Strukturbegriff durchzieht durch alle Zeiten die Wissenschaft, doch hat er im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert eine neue Bedeutung erlangt. Dennoch muss man fragen, wie der Begriff der Struktur über die Wissenschaft hinaus eine Philosophie prägte, die schließlich über den „kulturellen Strukturalismus“ zu einem „ideologischen Strukturalismus“ führte, der in der Nachfolge des Existentialismus gesehen wurde. Wenn heute von „Neostrukturalismus“ gesprochen wird, der auch die Architektur berührt, erscheint die Durchleuchtung des Phänomens sinnvoll.

Beim strukturalistischen Modell kann man zwei sich überkreuzende Achsen beobachten, eine räumliche und eine zeitliche. Die eine wird durch die Differenzierung in kollektive Form und individuellen Ausdruck, die andere durch die Unterscheidung von gleichzeitigen (synchronen) und ungleichzeitigen (diachronen) Zuständen eines Systems gebildet. Den Veränderungen in der Zeit kommt daher eine große Bedeutung zu. Mit einem Blick auf die Architektur sind „offene räumliche Systeme“ als geläufige strukturalistische Ausdrucksformen der experimentierfreudigen 1960er Jahre angesprochen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts näherten sich Biologen im Begriff des Organismus einem aus Elementen zusammenwirkenden System. Die Jahrhundertwende war die Zeit der Gestaltpsychologen in ganz Europa. Eine „Grazer Schule der Gestaltpsychologie“ hat in Christian von Ehrenfels einen wesentlichen Exponenten hervorgebracht, der mit seiner Interpretation der „Gestalt“ ein Tor von der Logik zur Ästhetik aufstieß.

Der deutsch-amerikanische Psychologe Rudolf Arnheim hat in seinen Arbeiten nachgewiesen, dass die visuelle Wahrnehmung des Menschen immer einen geistigen Akt darstellt, der das Wahrgenommene zu Sinngestalten organisiert. In Übereinstimmung mit dieser These postulierte der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss, dass den Ausdrucksformen jeder Kultur Strukturen innewohnen, die es zu erkennen gilt. Auf Studienreisen zu Naturvölkern in Südamerika hatte er erkannt, dass deren gesellschaftliches Leben und die Gliederung der Dörfer auf Mythen beruhen, die einen festen Bestandteil ihres Lebens darstellen. Er sprach, strukturalistischer Diktion folgend, von der „Struktur der Mythen“. Damit schuf er das „Gelenk“ zwischen den unanschaulichen sprachlichen Strukturen und der „sichtbaren Realität“, die sich auch als Architektur darstellt. Kurz darauf, 1964, erschien das ebenso Aufmerksamkeit erregende Buch von Bernard Rudofsky, Architecture Without Architects, das jene „Archetypen des Bauens“ zeigte, die kulturübergreifend die Architektur inspirieren können.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkte die in den USA im Zuge der Kriegsführung entwickelte Kybernetik auf Europa zurück und erweiterte – durch die Regelkreishaftigkeit beflügelt – die systembezogenen Wahrnehmungsmuster zu einer allgemeinen Kommunikationstheorie.

Der ab 1964 an der Technischen Hochschule Graz lehrende Ferdinand Schuster konfrontierte in seinen Sondervorlesungen „Architektur als Medium“ erstmals die „Grazer Schule“ mit diesen Gedanken, wobei er auf den Amerikaner Charles Sanders Peirce zurückgriff. Sein strukturalistisch inspiriertes triadisches Interpretationsmodell (Triangel) mit Zeichen, Objekt und Interpretanten wandte er exemplarisch auf die Architektur an und versuchte, eine Logik des Entwerfens darzustellen. Diese entsprach, stark sozial durch die Biografie geprägt, seinem Architekturverständnis.

Versuchen wir nun, die „Grazer Schule“ nur umrisshaft soweit darzustellen, dass Einflüsse des Strukturalismus erkannt werden können, ist zunächst eine zeitliche Einordnung notwendig. Erstmals taucht der Name der „Architekturschule Graz“ 1951 in einer Publikation auf, die Folge einer 1949 ausgesprochenen Einladung zu einer Ausstellung von Studentenarbeiten am MIT (Massachusetts Institute of Technology) war. Mit diesem Schritt wurde eine Bewusstseinserweiterung vollzogen, die die „Schule“ mit einer Identität ausstattete, die über Graz hinaus einer Internationalisierung gleichkam. Seit Mitte der 60er Jahre haben ArchitektInnen in verschiedenen Kooperationen (Forum Stadtpark, Zentralvereinigung der Architekten etc.) ihre Projekte der Öffentlichkeit präsentiert und sind mit dieser in Dialog getreten. 1984 erschien zu einer Ausstellung ein Katalog, der mit Architektur-Investitionen – Grazer „Schule“ betitelt war und 17 ArchitektInnen vereinigte.

Friedrich Achleitner führt in einem 1993 verfassten Text Gibt es eine „Grazer Schule“? vier Gruppen von ArchitektInnen an, die ihm als charakteristisch erscheinen:

1. Eine funktional, sozial und bautechnisch orientierte Gruppe, die bewusst eine Tradition der Moderne suchte und fortsetzte.
2. Eine mit der Situation vielfältig verwobene „Fraktion“, die schwer abgrenzbar ist. Sie ist expressiv ausgerichtet. Ihr werden Haltungen wie sozialkritisch, anthropologisch, ökologisch bis regionalistisch zugeschrieben.
3. Die urbanen und technischen Utopisten, die Revoluzzer aus den Zeichensälen, aus denen sich zunehmend Mitglieder der nach außen wirkenden „Grazer Schule“ rekrutieren.
4. Schließlich die Individualisten, die „den Nullpunkt von Entwicklungen, von Gedanken, Bildern und Träumen in sich selbst suchen“.

Zusammenfassend bemerkt Achleitner, dass im Unterschied zu Wien, das einem „historischen Universalismus“ anhing, Graz jede mögliche Antiposition zu einem geschlossenen Architekturbegriff bezog. Zugleich aber stellt er fest, dass ein Realisierungsdruck jener „Tagträume“ feststellbar ist, der konkrete Ansatzpunkte in einem urbanen Kontext suchte. Aus diesen Äußerungen eines fundierten Architekturkritikers ist erkennbar, dass eine „Grazer Schule“ formal oder inhaltlich nicht in dem Maß bestimmbar war, wie beispielsweise in den 1920er Jahren eine frühe Moderne bekennerhaft ihre Ideen einer „Neuen Sachlichkeit“ vertrat.

Fragen wir nun konkret, wie in Graz die Ideen des Strukturalismus rezipiert wurden, dann wird man zwei Fakten mit Vorbildfunktion nennen können:

1. Die Bildung des Team X in der Folge des CIAM-Kongresses 1959 in Otterloo, Holland, bei dem erstmals von einer Gruppe von Architekten die Kritik am Funktionalismus ausgesprochen wurde. Der Niederländer Aldo van Eyck wurde zum Wortführer der Gruppe, die neue Strategien des Entwerfens forderte und die Zeitschrift Forum als Sprachrohr nutzte. Sein Vorstellungsbild von wachsenden Zellstrukturen, das er für ein additiv konzipiertes Waisenhaus in Amsterdam entwickelte, griff den strukturalistischen Systemcharakter auf. Zahlreiche Grazer Architekten wie Friedl Groß, Dieter Ecker, Franz Cziharz, Werner Nussmüller, Michael Szyszkowitz, Manfred Wolff-Plottegg und der Autor dieses Beitrags haben zu dieser Zeit durch Stipendien, Seminare und Studienreisen diese Vorstellungen kennengelernt.
2. Die japanischen Metabolisten, die durch Publikationen urbaner Großstrukturen bekannt wurden. Sie hatten einen anderen, in deren Kultur verankerten Begriff von Struktur, der eng mit dem Wandel verbunden ist. Die im Shintoismus begründete Erneuerung unter Aufrechterhaltung der Kontinuität des gesellschaftlichen Lebens wie der Bauformen wird durch kein Heiligtum besser verdeutlicht als den Iseschrein, der immer wieder abgebaut und neu errichtet wird. Die zyklische Weltvorstellung als lebenserhaltendes Prinzip durchdringt alle Bereiche des Lebens.

Wenn ich mich einigen charakteristischen Grazer Projekten zuwende, die ohne Zweifel dem Strukturalismus zugerechnet werden können, dann geschieht das mit Bezug zum „methodischen Strukturalismus“, der das Hauptanliegen der Exponenten der „ersten Tage“, befreit vom Ballast aller im Laufe der Zeit mitschwingenden Ideologien, war. Ich meine solche Ideologien technischer Vereinnahme wie politischer Ambition, die den Strukturalismus sowohl dem Diktat einer glorifizierten Massenproduktion als auch dem Marxismus dienstbar zu machen strebte.

Als zentrale Prinzipien des Strukturalismus in der Architektur gelten:

1. Der Ausdruck eines Programms in einer Primär- und Sekundärstruktur, die unterschiedlichen Lebenszyklen unterliegen.
Die Gemeinschaftsfunktion wird von der länger wirksamen Primärstruktur übernommen, während die Individualfunktion in der zeitlichen Anpassung ihrer Elemente zur Geltung kommt. Entscheidend ist, dass in der Überlagerung der Strukturen „Zwischenräume“ entstehen, denen eine soziale Relevanz zukommt.
2. Die Beziehungen zwischen sozialen und gebauten Strukturen durchdringen die architektonische wie die urbane Ebene. Funktionsmischung soll monofunktionelle Segregation verhindern. Motto: „Das Haus ist eine kleine Stadt, die Stadt ist ein großes Haus“. Übrigens taucht diese Analogie bereits beim Renaissancearchitekten Leon Battista Alberti auf.
3. Das synchrone Element der „Symbolbedeutung“ durch archetypische Formen korrespondiert mit dem diachronen Element der „Prozesshaftigkeit des Entwurfsvorganges“. Strukturen sind offene Systeme, die dem Wandel in der Zeit Rechnung tragen.
4. Regelhaftigkeit bestimmt den Entwurfs- wie Rezeptionsprozess, der als Kommunikationsprozess verstanden wird. Auf syntaktischer, semantischer und pragmatischer Ebene (Regel – Bedeutung – Wirkung) erheben die Gestaltungen den Anspruch, allgemein verständlich zu sein.

An vier signifikanten Projekten, alle in den 1960er Jahren entstanden, will ich die Anwendung der Prinzipien skizzenhaft erläutern:

1. Die Terrassenhaussiedlung Graz-St. Peter der Werkgruppe Graz [1] (Entwurf 1965, Ausführung 1972–1978, 118,119). Sie steht für die Konzeption des „IN-BETWEEN“, die dem Strukturalismus der „Ästhetik der Zahl“, wie sie Aldo van Eyck vertrat, zuzurechnen ist. Zwischenräume auf verschiedenen Ebenen vermitteln zwischen Gemeinschaft und Individuum. Die „freie Mitte“ ist jenes vorherrschende Identifikationsmoment, das der Siedlung bis heute die Geltung einer der wichtigsten Wohnanlagen im europäischen Kontext verschafft.
2. Das Ausstellungsprojekt „Struktureller Städtebau“ von Bernhard Hafner, 1966 (120). Das durch ein Modell visualisierte Projekt rückt eine von der Kommune zu erstellende Infrastruktur vorrangiger Verkehrslinien mit Umsteigeknoten in den Vordergrund und folgt damit den Grundlinien des Tokioplanes von Kenzo Tange. Hafner sieht die technische Infrastruktur aber als Vorgabe eines vierdimensionalen Stadtausbaues, bei dem die Veränderung in der Zeit ein offenes Raumkontinuum konstituiert.
3. Das Ausstellungsprojekt Überbauung Ragnitz von Günther Domenig und Eilfried Huth 1967 (121). Die Ausstellung Propositionen im Forum Stadtpark – gemeinsam mit Kristallisationen der Werkgruppe Graz – bot die Gelegenheit, eine verdichtete Bebauungsstruktur für eine Großsiedlung im Ragnitztal zu einer dreidimensionalen Megastruktur auszuweiten, die ähnlich wie bei Hafner die technische Infrastruktur vorgibt, aber den Schwerpunkt auf den individuellen Ausbau als identitätsstiftende Leistung von Individuen legt. Mit dem Zuspruch des Grand Prix d’Urbanisme et d’Architecture 1969 in Cannes erlangte das klar strukturalistisch bestimmte Projekt internationale Reputation.
4. Das Ausstellungsprojekt Spina des Team A Graz [2] bei Trigon 69 (122,123). Die Dreiländerbiennale unter dem Thema „Architektur und Freiheit“ bot die Gelegenheit, ein urbanes Netzwerk auszuarbeiten, das die Kommunikation als wesentlichstes Charakteristikum der Gesellschaft erkennt. Daraus folgt, dass ein Beziehungsnetz zwischen ursprünglich autarken individuellen Einheiten – vom Individuum bis zur Stadt – aufzubauen ist, das in Bewegungslinien die Grundelemente einer materiellen Struktur definiert. Diese verdichten sich zu immer enger werdenden Maschenweiten und konstituieren einen Stadtkörper.

Diese Hervorhebung einzelner Projekte, die in unterschiedlich gewichteter Weise den Prinzipien entsprechen, soll nicht übersehen lassen, dass eine Reihe von Architekten der „Grazer Schule“ strukturalistisches Gedankengut in ihren Arbeiten erkennen lassen – vielleicht eher unbewusst.

Die 60er Jahre waren auch die Zeit der urbanen Utopien, die sich in unterschiedlichen Megastrukturen niederschlugen: in der Bandstadtidee eines Raimund Abraham, in den virtuellen Raumkonfigurationen eines Friedrich St. Florian, der Vertikalen Stadt eines Klaus Gartler und Helmut Rieder sowie in manchen Studentenprojekte jener Zeit. Da es mir in diesen Ausführungen nicht um eine architekturhistorische Darstellung geht, beschränke ich mich architekturtheoretisch darauf, den Symbolcharakter einer „Neuen Gesellschaft“ in diesen Projekten hervorzuheben. Sie rückt die „Synchronität“ im strukturalistischen Sinn in den Vordergrund, indem sie den zukunftsweisenden Ideen gesellschaftsverändernden Charakter zumisst. Pragmatischer sind jene Projekte zu sehen, die auf eine Reform des Wohnbaues zielten und die Mitbestimmung der NutzerInnen propagierten. Das „Modell Steiermark“ als gesellschaftspolitischer Impuls mag für zahlreiche Namen stehen, die für eine Breitenwirkung der „Grazer Schule“ verantwortlich zeichnen, welche Vorbildfunktion für ganz Österreich hatte. In diesem konzeptuellen Ansatz tritt deutlich die „Diachronität“ strukturalistischer Einstellung hervor, indem die Veränderung in der Zeit konstitutiv in das Projekt eingeht.

Das Symposion Structuralism reloaded versammelte 2009 in München Theoretiker und Praktiker aus ganz Europa, um kritisch das Phänomen des Strukturalismus zu beleuchten. Daraus ergeben sich zwei Fragen:

1. Welche Spuren hat der „klassische Strukturalismus“ der 60er und frühen 70er Jahre hinterlassen, und wo ist Kritik angebracht, da in ihn gesetzte Erwartungen einer Humanisierung des Bauens nicht erfüllt wurden?
2. Welche Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben das strukturalistische Konzept in Frage gestellt, und welcher Ausblick stellt sich heute im Hinblick auf ein regelbasiertes Entwerfen unter Anwendung neuer technologischer Möglichkeiten dar?

[1] Werkgruppe Graz, bestehend aus den Gründungspartnern Eugen Gross, Friedrich Gross-Rannsbach, Werner Hollomey, Hermann Pichler mit den assoziierten Partnern Walter Laggner und Peter Trummer.
[2] Team A Graz, bestehend aus den Gründungspartnern Franz Cziharz, Herbert Missoni, Helmut Satzinger, Jörg Wallmüller.

Zur ersten Frage: Unzweifelhaft hat der Strukturalismus als ein planerisches Konzept, nicht als Stil im Sinn formaler Merkmale, den Städtebau und die Architektur stark beeinflusst. Dabei kann man zwei Konzepte beobachten: das Wachstum eines Clusters von einer inneren Struktur aus, indem Zellen angelagert werden, und die Ausfüllung von strukturgebenden Rahmen, die einem Containerprinzip folgen. Konstruktiv zeigen zahlreiche Projekte die Merkmale des brutalism – fälschlicherweise mit Brutalismus übersetzt – womit die Rohheit der Materialerscheinung (brut = frz. roh) beispielsweise bei Sichtbeton, Holz und Stahl gemeint ist. Stadterneuerungsmaßnahmen in ganz Europa haben sich strukturalistischer Prinzipien bedient, die topografische Gegebenheiten oder technische Infrastrukturen zum Ansatz von baulichen Eingriffen nutzten. Beispielhaft kann man in Wien die Donauinsel und den Gürtel nennen, für Graz ist ansatzweise die Verkehrsachse vom Stadtzentrum zum Liebenauer Stadion mit ihren Messebauten zu nennen, wobei bedauerlicherweise bis heute auf eine unter Terrain liegende, leistungsfähige Verkehrsverbindung verzichtet wurde.
Bereits in den 1980er Jahren einsetzende heftige Kritik beruhte darauf, dass rationalistisches Machbarkeitsdenken die Überhand gewann und Megastrukturen errichtet wurden, denen es an Identität mangelte. Auch bautechnische Mängel führten dazu, dass einige niedergerissen wurden. Der Strukturalismus wurde durch ein eher kleinräumiges Kontextdenken abgelöst, das auf überschaubare Einheiten zielt und sich konventioneller Bautechniken bedient.

Zur zweiten Frage: Eine Renaissance strukturalistischen Denkens geht darauf zurück, dass der Computer die „Büros erobert“ hat. Der Zeichentisch – auch das Zeichnen – wurde abgelöst durch work-stations, die das digitale Zeitalter einläuteten. Regelbasiertes Entwerfen fußt auf strukturalistischen Voraussetzungen, wobei die erhöhte Komplexität der Bauaufgabe und der Entwurfsprozesse bestimmte formale Lösungen nach sich zieht.
Auf eine innerstrukturalistische Kritik kann man den Dekonstruktivismus zurückführen, der in Jacques Derrida seinen philosophischen Vordenker hatte und die strukturalistische Verfestigung bemängelte, die keine Brüche und Ungleichgewichte kennt. Er wurde im Gefolge des revolutionsbelasteten 1968er Jahres breitenwirksam, wenn auch für die Architektur beschränkt fruchtbar.

Wagt man einen Ausblick, müsste eine fundamentale Kritik Fuß fassen, die zwar im strukturalistischen Sinn das Entwerfen von Architektur im Hinblick auf die Benützbarkeit als regelbestimmt annimmt, jedoch der Suche nach Identität ein ihr entsprechendes Gewicht verleiht. Diese Identität, die auf lange Sicht allein den Bestand und die Akzeptanz von Architektur sichert, muss konkret auf topografische, klimatische, ökologische, gesellschaftliche und technologische Voraussetzungen reagieren. Allzu sehr ist der Strukturalismus missverstanden worden als reines Instrument, dem die Dimension der Bedeutung abgeht. Seine bevorzugte Ausrichtung nach rationalistischen Verfahrensweisen – der Naturwissenschaft näher als der Kunst – hat ihm die Anschaulichkeit geraubt, die menschliche Wahrnehmung und Empfindung fordert.

Ein „Neostrukturalismus“, wie er genannt wird, muss den Urgrund – das Ursprüngliche, Rohe, Unausgereifte, Abfallbehaftete, Erinnerungstragende – stärker in sich integrieren und damit eine Identität finden, die den Menschen den Raum der Assoziation zurückgibt, den sie als Heimat empfinden können.

Ich will schließen mit einem Gedicht des Literaten Markus Jaroschka, das die Spannung zwischen Polen des Denkens und Fühlens zeigt:

„Wird dies Haus ein Ort der Wörter sein?
Oder ein Haus der Worte?
Mit Worten, die noch wärmen
Mit Worten, die noch die Ferne kennen
Den Hügelgeruch, die Wolken
Das Meer, den entgrenzten Himmel
Mit der Sehnsucht – immer befristet
Mit Worten, worin die Sterne noch Fragen gebären
Die alten und die neuen …“

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