14/05/2020

Über RAUMSCHEU und ZEITVERGEUDUNG

Vom Hafnerriegel und anderen Erfahrungen von Wandlungen und Brüchen.

Ein Essay von Eugen Gross

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14/05/2020

Studentenheim Hafnerriegel, Werkgruppe Graz, 1963. Mit dem Abbruch der markanten und weithin sichtbaren Außentreppe endete im Juli 2013 die lange Geschichte um die Erhaltung eines Baujuwels, dem „Erstling“ der Grazer Schule (Simone Hain, 2010)

©: Eugen Gross

Im Rahmen des Skulpturenparks zum steirischen herbst 2019 „Skulpturen im Exil“ wurde die Hafnerriegel-Treppe vom Künstler Ed Gfrerer mit großer Zurückhaltung rekonstruiert.

©: Eugen Gross

Der „shared space“ – Sonnenfelsplatz, Graz-Geidorf

©: Eugen Gross
©: Eugen Gross

Für mich ist die Coronakrise schon vor sieben Jahren ausgebrochen. Beim Studentenhaus am Hafnerriegel fuhren die Abbruchmaschinen – Kran und Betonschneider – auf und begannen die plastische Fluchttreppe von oben bis unten abzutragen. Schnitt für Schnitt wurden der Stempel, die Podeste und Stiegenläufe in Sichtbeton abgebrochen. Begleitet vom schrillen Ton des Betonschneiders. Am Fuße des Hochhauses stand ein Lastwagen, um die Skelettteile auf einen Sturzplatz zu transportieren. Das Haus wurde seines Kennzeichens, der ersten Feuertreppe in „beton brut“ in Graz, beraubt.
   Was hat der Abbruch der Feuertreppe mit der Coronakrise zu tun? Zunächst nichts. Doch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung weisen beide auf einen Verlust hin, wenn auch unterschiedlichen Ausmaßes. Beklagenswerte Todesfälle zeigen wie ein Akt der Umweltzerstörung das Abhandenkommen einer Balance auf, die wir nicht auf eine einfache Ursache zurückführen können. Die am Landplagenbild an der Fassade des Grazer Doms bildlich dargestellten „Seuchen“ wie Hunneneinfall, Pest und Heuschreckenplage sind einer kritischen Beurteilung menschlicher Geschichte gewichen, die unseren Umgang mit Natur und Kultur als Wechselverhältnis sieht. Jean Gebser wies darauf hin, dass die Menschheit sich von einer raumfixierten Weltbetrachtung zu einer zeitbestimmten Weltsicht wandeln muss, um den Aufgaben der Zukunft zu entsprechen. In dieser Schau ist die Erfahrung von Wandlungen und Brüchen auszumachen, die aus einer scheinbar zwangsläufigen Kontinuität in eine neue Phase der überpersonalen Achtsamkeit und personalen Wachsamkeit münden.
   RAUMSCHEU und ZEITVERGEUDUNG schreibe ich auf meine Fahnen. Seit langem habe ich mich mit der Architektur in diesem Kontext befasst, wenn auch unter einem anderen Blickwinkel. Grenzen und ihre Überwindung waren das Thema, das mich beschäftigte. Biografische Züge fließen in diese Befassung ein, denn ich habe als im Ausland geborener Österreicher, im heutigen Polen, Grenzen in ihrer Unerbittlichkeit und zugleich Brüchigkeit kennengelernt. Das bewusste Erleben des Endes des 2. Weltkrieges mit seinen teils unverständlichen Grenzziehungen hat mich besonders sensibilisiert.
   Naheliegend war es, dass ich mich in einer ersten theoretischen Befassung mit Architektur 1964 in einem Essay der Beziehung von „Form und Grenze“ (1) gewidmet habe. Es ging mir nicht um die im Räumlichen erfahrene Grenze, sondern die psychische Erfahrung des Abgegrenzt- und Offenseins. Grenze als Erlebnis. Auf Karl Jaspers zurückgreifend, begegnen uns elementare Grenzen in Geburt, Krankheit, Leid, Schuld und Tod. Diese werfen einen Schleier über die Realität, lassen diese zurücktreten, wenn bestimmte Umstände eintreten. Die derzeitige weltweit erfahrene Corona-Krise lässt den Tod zum Unterschied von dem bisher als privates Ereignis angesehenen Tod infolge des Ausmaßes zu einem gesellschaftlichen Phänomen werden. Mit kontroversiell diskutierter Relevanz, in medizinischer, ethischer und politischer Hinsicht.
   Die Grenzerfahrung der Geburt, das Eintreten in ein neues Leben, hat mich in einem Manifest (2) zur Ausstellung Kristallisationen der Werkgruppe Graz 1967 zur Aussage gedrängt: ARCHITEKTUR – das ist die GEBURT. Als kreativer Akt, der voraussetzungslos zustandekommt, als „Einfall“, wie Ludger Schwarte (3) es eine Manifestation der „achronologischen Zeit“ nennt. Die Architektur bewältigt das in einem Maß von Schließen und Öffnen, der Hingabe an die Kräfte von Druck und Zug, der Ausbildung von Strukturen finaler und kontinuierlicher Art. Sie erfüllt die Bedürfnisse des Menschen nach Beheimatung, nach sozialer Kommunikation und ästhetischer Wertachtung.
   Inwieweit schließt die derzeitige Krise, eine wie ein Tsunami einbrechende Welle, die Grenzerfahrungen von Geburt, Krankheit, Leid, Schuld und Tod ein? Wohl auf vielfältige, individuell und gesellschaftlich unterschiedliche Weise. Werden auch Vergleiche zu anderen Krisenphasen gemacht, sind sie doch nicht geeignet, daraus einfach Schlüsse für heute zu ziehen. Die Welt hat sich verändert und jede Phase, sowohl räumlich als auch zeitlich, bietet andere Voraussetzungen. Gibt es dann keine Erkenntnis, die aus der Grundbefindlichkeit des Menschseins aus der Krise wie der heutigen herausführen kann? Wo sind die Spuren aufzufinden, die in eine ersehnte bessere Zukunft führen?
   Ich rekurriere zum Hafnerriegel. In meiner Wahrnehmung und Vieler, deren Biografie als Bewohner oder Besucher mit ihm verbunden sind, ist er 50 Jahre nach seiner Geburt eines gewaltsamen Todes gestorben. Mit behördlicher Ausstellung eines Totenscheins aufgrund Organversagens. Nicht des Hauses, dem noch ein weiteres halbes Jahrhundert aufgrund seiner Baustruktur beschieden gewesen wäre, sondern kommunalen Organversagens. Als Architekten haben wir die Grenzerfahrung des Leidens, war es doch das erste international anerkannte Projekt der WERKGRUPPE, machen müssen.
   Gezeichnet von der Erfahrung des immer wieder nicht abwendbaren Verlustes, der derzeit zur kollektiven Erfahrung wird, wage ich die These: „Man muss täglich ein Haus abreißen, um es wieder zu errichten“. Das klingt nach einer paradoxen Intervention, und es ist eine. Vielleicht mit Erfolg. Im Rahmen des Skulpturenparks zum steirischen herbst 2019 Skulpturen im Exil wurde die Hafnerriegel-Treppe vom Künstler Ed Gfrerer mit großer Zurückhaltung rekonstruiert. Er distanzierte die vertikale Treppe mit ihren Podesten über eine Strecke von ca. 30 m, indem ein Schwebebalken in die Landschaft ausgreift. Den Sichtbetonschaft sammelt er in einer Packung von Brettern um einen Baum, der in die Höhe strebt. Der Materialgerechtigkei im Sinne des „beton brut“ entspricht das Schalungsholz, in das die plastische Form der Treppe gegossen wurde. Als die Arbeiter nach Fertigstellung des Betongusses in 50 Höhe ihre Handschrift als Datum 15.11.1963 mit den Fingern in den Säulenkopf geritzt haben, haben sie das Haus über dessen Triumpf über die Schwerkraft sprechen lassen. Es war das höchste Hochhaus in Graz zu dieser Zeit.
   Mein Loblied auf die RAUMSCHEU der rekonstruierten Treppe, die den Tod der alten überwindet, und die ZEITVERGEUDUNG der zur Muße veranlassten Ausstellungsbesucher von Prenning’s Garten spiegelt sich in einer Folge der TV-Kriminalreihe Der Alte, bei der Lenni, der im Hintergrund recherchierende Sonderling, die Worte ausspricht: „Ich suche das richtige Maß von Distanz und Nähe“. Es ist ein umwegiges Bemühen im Dialog mit den sich ihm am PC erschließenden belastenden Clustern, das ihm nicht sofort Anerkennung bringt. Aber er ist es, der das Atmosphärische einer Rückverfolgung eines Verbrechens, eines Mordes, als erster erfasst und damit die Lösung eines Kriminalfalles herbeiführt.
   Zum Ausgangspunkt meiner Reflexion über die derzeitige gesellschaftliche Situation als Bruchlinie im bisher von den Menschen als selbstverständlich erfahrenen Prozess zurückkehrend, lasse ich mir Paul Valerys Worte „Erwachen im Wachen“ auf der Zunge zergehen. Auf die Stadt bezogen, Ästhetik als im ursprünglichen Sinn WAHRNEHMEN zu verstehen, indem das Atmosphärische von Räumen jenseits ihrer Funktionalität erkannt wird. Damit ist ihnen gegenüber Wertschätzung angebracht. Dann führen sie einen Dialog mit den Menschen, indem ihnen Achtsamkeit entgegengebracht wird, ebenso wie das eigene Selbstbewusstsein als Mitwirkender am kollektiven Gestaltungsprozess gestärkt wird. Alexandra Abel und Bernd Rudolf sehen das in ihrem Buch Architektur wahrnehmen (4) als Handlungsfeld von Reflexion und Kommunikation, die Identität mit dem Raum verspricht. Glück.
   Ein positives Beispiel aus Graz ist die Lösung des „shared space“ am Sonnenfelsplatz in Graz-Geidorf, bei dem alle Verkehrsteilnehmer – Autos, Motorräder, Fahrräder, Scooter, Fußgänger – gleiche Rechte haben und durch die gegenseitige Anpassung der Geschwindigkeit, die Entschleunigung, einen zunächst bezweifelten, dann aber doch anerkannten Ausgleich finden. Inzwischen ist den Bürgern zu Bewusstsein gekommen, welche Vorteile es nicht nur für die  Bewohner, sondern auch die Geschäfte und Gastlokale im frequentierten Univiertel bringt und regt zu Vorschlägen an, die anschließende Zinzendorfgasse auch zu einer „beruhigten Straße“ zumachen. Dass die Bebauung der gut proportionierten Wohnhäuser, des Studentenhauses und der Universitätsgebäude auch damit besser ins Blickfeld als Elemente des historischen Erbes der Stadt Graz geraten, ist offensichtlich.
   Wenn die RAUMSCHEU Achtsamkeit gegenüber dem uns erhaltenen Lebensraum, nach Heidegger „Beheimatung“, fordert, dann ist die ZEITVERGEUDUNG eine Mahnung an uns, dem eigenen Gewissen als Architekt und Nutzer von Architektur treu zu bleiben, um die Erde lebenswert zu erhalten.

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(1) Vortrag Zürich 1964, Forum Stadtpark, Zeitschrift STERZ 104, Grenzen, 2009
(2) Manifest zur Ausstellung KRISTALLISATIONEN, Forum Stadtpark, 1967
(3) Jörg H. Glettler, Ludger Schwarte, ARCHITEKTUR und PHILOSOPHIE, transcript Verlag, Bielefeld, 2015
(4) Alexandra Abel, Bernd Rudolf, ARCHITEKTUR WAHRNEHMEN, transcript Verlag, Bielefeld, 2020

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