21/10/2010

Das Studentenwohnheim am Hafnerriegel ist eines der eigenartigsten und denkwürdigsten Bauwerke in der jüngeren Geschichte der Universitätsstadt Graz

21/10/2010

Hafnerriegel, Graz

Architektur: WERKGRUPPE GRAZ©: WERKGRUPPE GRAZ

Modell Hafnerriegel (18.01.1961)

Grundsteinlegung für das Studentenwohnheim am Hafnerriegel (18.01.1961). Fotos: Archiv Werkgruppe Graz

Studentenwohnheim am Hafnerriegel, Grundriss. Plandarstellung: Werkgruppe Graz

Univ. Prof. Dr. phil. Simone Hain, Institut für Stadt- und Baugeschichte, TU Graz

Das Studentenwohnheim am Hafnerriegel ist eines der eigenartigsten und denkwürdigsten Bauwerke in der jüngeren Geschichte der Universitätsstadt Graz, und dies nicht allein dank seiner als riesenhafte Betonskulptur sehr markant ausgebildeten Feuertreppe. Wer sich von seiner schroff rationalistischen Fassade nicht täuschen lässt, kann hier noch heute dem „Zeitgeist“ des Jahres 1960 begegnen. Mit diesem auf den zweiten Blick alles andere als banalen Bau scheiden sich die Wasser nicht allein in der Architekturgeschichte der Stadt. Das Wohnheim beendet die architektonische Nachkriegsmoderne und kündigt in jedem einzelnen Aspekt bereits die Ära der „Grazer Schule“ an. Es leitet darüber hinaus aber auch eine politische, eine soziale und eine kulturelle Epochenwende ein.

Da wäre zunächst die Bauaufgabe - ein Wohnbau für Studenten – als ein überdeutliches Zeichen der Zeit zu entdecken. Das Wohnheim, von jungen Architekten gebaut, die eben selbst noch Studenten waren, schreibt sich als Zeichen eines politischen Aufbruchs in das Bild der Stadt. Es ist die erste konkrete Manifestation der eben entstehenden Studentenvertretungen. Hier baut sich die Österreichische Hochschülerschaft über eine eigens gegründete Stiftung als Bauherr ein Wohnheim der neuen Art und leitet damit in Graz das Jahrzehnt der Studentenbewegungen ein. Die Grundrissarbeit der Architekten offenbart eine typologische Umwälzung von weitreichender Bedeutung. Nicht mehr hotelartige Zimmerchen in vornehmer Isolation, sondern gemeinschaftsbildende Wohneinheiten mit gemeinsamen Küchen nehmen das kollektivistische Ideal der WGs und der Kommunen vorweg. Was wundert es, dass sich auch die Architekten zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen haben, zu einem Kollektiv, das sich „Werkgruppe Graz“ nennt und seine gemeinsame Laufbahn mit weiteren Studentenheimen und innovativen Wohnbauprojekten beginnt. Das vor nunmehr einem halben Jahrhundert geplante Wohnheim verfügt neben der geräumigen Halle in den unteren Etagen über Gemeinschaftsräume, Zeichensäle, eine Bibliothek und diverse Klubs. Ein räumlich noch luxuriöser ausgestatteter flacher Baukörper für Gemeinschaftseinrichtungen kommt bedauerlicherweise nie zur Ausführung. Wie von den jungen Architekten intendiert, wird der „Hafnerriegel“, das erste Wohnheim ohne Geschlechtertrennung übrigens, in den folgenden Jahren zum Brennpunkt studentischer Selbstbestimmung. Unter den ersten Heimleitern Univ.Prof. Dr. Max Liebmann. und Dr. Johann Kasper, der mit dem Hintergrund des Hafnerriegel später Leiter der Kulturabteilung von Graz wird, entwickelt sich hier eine progressive und hoch engagierte Bewohnerschaft, die großen Anteil am demokratischen Aufbruch der 60er Jahre hat. Noch heute übrigens ist das Hochhaus am Hafnerriegel das preiswerteste und folglich wohl auch das am meisten internationale Wohnheim der Stadt - ein Tor und erstes Zuhause für aus allen Himmelsrichtungen der Erde nach Graz kommende Studenten.

Auch die Fenster der Wohngruppen öffnen sich in alle Himmelsrichtungen. Im funktionalistisch Ostwest orientierten Wohnbau rührt das an ein Tabu. Die Architekten opponieren damit gegen eine bereits zum Dogma erstarrte Moderne und setzen sich auch in der eigenwillig um Viertelgeschosse versetzten Anordnung der Wohngruppen über das übliche Konzept des niveaugleichen Stockwerkbaues hinweg. Diese spindelförmige Raumorganisation ist mehr als nur ökonomisch begründet; sie folgt einer gestalterischen Idee, einem Thema. Hier wird der alles verbindende Weg durchaus programmatisch inszeniert: Ein räumliches Kontinuum verbindet aufsteigend alle Wohnungen miteinander. Jede Einheit wird durch ein eigenes Niveau nobilitiert. Das Mittel der Distinktion hebt aber den Grundgedanken der Assoziation der Einzelnen nicht auf. Für 360 Bewohner entsteht in dem dynamisierten Erschließungsraum bei noch so großer ökonomischer Beschränkung ein starkes Erlebnis von Zusammengehörigkeit. Alle leben (und ziehen) gewissermaßen an einem Strang. Zu politischem Bewusstsein gelangt, können sie sich als Teil einer kollektiven Matrix erleben.

Dieser Ausbruch aus den vorgegebenen typologischen Schemen, die soziale und raumkonzeptionelle Innovation, ist ein Merkmal der sich ankündigenden Bewegung zu architektursprachlich immer freieren Formen, mit der die Grazer Schule ab Ende der sechziger Jahre international große Furore machen wird. Das Wohnhaus an der Spindel, dessen kreisende Bewegung sich bis in den Dachaufbau fortsetzt, nimmt die Sehnsucht nach Raum und Durchdringung vorweg. Es ist nicht zuletzt auf der Ebene des Stils genau das, was der dänische Altmeister der Moderne, Arne Jacobsen, an der Bewegung der Jungen Anteil nehmend und durchaus bewundernd für "paradox und romantisch" erklärte. Paradox ist die Dynamik, der kontinuierliche Raum, die strukturelle Rhythmisierung, die man in einem fest geschlossenen, hoch aufgerichteten Kubus überhaupt nicht vermutet, paradox aber auch die Beantwortung der Geschlossenheit mit einer kontraststark entgegen gesetzten skulpturalen Figur. Die außen liegende zweite Treppe, die den aufstrebenden Weg der Binnentreppe formal beantwortet und kommentiert, spricht mit dem rauen Beton die Sprache des Brutalismus. Sie ist auch im Hinblick auf ihren regionalen Kontext ein ausgesprochen romantisches Element, nämlich die gotische Doppelwendeltreppe auf der Grazer Burg. Hier kommt die Liebe der Architekten zu ihrer Stadt ins Spiel, die sich vor allem über räumliche Paradoxe erschließen lässt: Eine Burg, die nicht über, sondern in der Stadt erst auf den dritten Blick zu finden ist. Ein hoch kunstvolles Bauwerk, das sich aber hinter fest gefügtem und plan geschlossenem Mauerwerk gar nicht verrät, sich von außen nicht ablesen lässt. Da sind die mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten scheinbar rotierenden Zylinder des Grazer Mausoleums und die Positiv-Negativ Kontraste der Arkaden im Landhaushof. Schon das Hochhaus am Hafnerriegel verdient das Prädikat „kritischer Regionalismus“, es ist ein mit den baukünstlerischen Traditionen der Stadt spielender und in dieser Spielfreude künstlerischer Bau.

Dem Geist der Erfindung und des Engagements entspricht auch die konstruktive Seite der Architektur. Es wurde noch ohne lokale bautechnische Erfahrung als gerüstloser Gleitbau wie im Brückenbau errichtet, die Außenwandplatten aus Weißbeton fungierten dabei als Schalung für den aufgehenden Bau. Die gelenkig gelagerten Platten nehmen in gefälzten Fugen die Bauwerksbewegungen durch Temperaturschwankungen auf.
Dies hat den Architekten ein Patent eingebracht und der Stadt Graz ein echtes Architektenhochhaus, ein bautechnisches und typologisches Unikat. Selbstredend war auch der Brandschutz durch die erste im Hochhausbau in Graz ausgeführte Feuertreppe seiner Zeit den baupolizeilichen Verordnungen weit voraus. Damit sind alle Kriterien in den zur Verfügung stehenden Kategorien von Bedeutsamkeit eigentlich hinreichend erfüllt, um das Bauwerk der 60er Jahre zum Denkmal zu erklären: Als bautechnisches Unikat und Lehrstück, als Frühwerk einer international hoch geschätzten lokalen Baukultur unter dem Namen „Grazer Schule“ und, ganz gewiss, als Denkmal der 68er-Bewegung. Wenn es in Graz jemals eine „Zeichensaalrevolution“ gegeben hat, hier wäre ein glaubwürdiger Beleg für ihre gesellschaftliche Wirksamkeit.

ZUR PERSON:
Univ. Prof. Dr. phil. Simone Hain ist Kunstwissenschaftlerin und Architekturhistorikerin mit dem Forschungsschwerpunkt "Bewegungsformen der Moderne". Ein Spezialgebiet ist die Prüfung der Denkmalwürdigkeit von Bauten der Nachkriegsmoderne. Seit 2006 leitet sie das Institut für Stadt- uind Baugeschichte der TU Graz

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