12/01/2014
12/01/2014

Modell Wohnbau Völs-Innsbruck, 1962, Werkgruppe (Bernhard Hafner, Mitarbeiter)

Architektur: WERKGRUPPE GRAZ©: WERKGRUPPE GRAZ

Eugen Gross

©: Thomas Raggam

„Die Tiere beherrschen den Raum,
die Bäume beherrschen die Zeit“
Luc Jacquet im Film „Das Geheimnis der Bäume“ – über die Zyklen in der wilden Natur

Abschließend zu Bernhard Hafners Texten zur WERKGRUPPE GRAZ, die er auf Basis eines Gespräches mit mir und in bester Kenntnis unserer Projekte verfasst hat, möchte ich auch darauf replizieren. Dabei ist der Strukturalismus zu diskutieren, der unsere Arbeit als eine theoretische Fundierung begleitet hat, wobei die vielen Facetten zur Sprache kommen müssen. Dies schließt die inhaltliche und zeitliche Bestimmung ein, die auch kontroversielle Positionen zeigt.

Wie der „brutalism“, ein zuerst in Frankreich geprägter Begriff als Charakteristik einer materiellen Eigenschaft des „Rohen“ in der Architektur – auch als „Materialgerechtigkeit“ bezeichnet – in deutscher Übersetzung als sinnverzerrender „Brutalismus“ gebraucht wurde, ist auch der auf französische Provinienz – Ferdinand de Saussure – zurückgehende „structuralism“ in der Folge in unterschiedliche Gewänder geschlüpft, die den Bogen von methodischer bis zu ideologischer Interpretation spannen. Gegenüber der philosophischen Grundlegung des Strukturalismus als Denkrichtung haben „Schulen“ unterschiedliche Aspekte hervorgehoben, die nicht vor „strukturalistischen Sprachfallen“ gefeit waren. Schränkt man die Diskussion auf den architektonischen Strukturalismus ein, ist auf Claude Lévi-Strauss zu rekurrieren, der in seinen ethnologischen Forschungen die Synthese von ideellem Gehalt und räumlicher Darstellung im Bild von Dörfern südamerikanischer Naturvölker aufzeigte.

Dabei ist von der Struktur der Mythen die Rede, womit er zum Ausdruck brachte, dass im Erscheinungsbild auf gesellschaftlichen Ausgleich gerichtete Rituale hervortreten, die die lebenserhaltenden Aktivitäten und Bauformen in einen Sinnzusammenhang bringen. Grundlegend tritt der soziale Aspekt hervor, der im Strukturalismus fußt. Er repräsentiert das diachrone Element, das die Zeitachse in Überlagerung der Raumachse hervortreten lässt.

Im Graz der Sechzigerjahre wurde der Begriff des Strukturalismus nicht thematisiert, auch nicht zur Projektcharakteristik herangezogen. In Arnulf Lüchingers erster zusammenfassender Publikation „Strukturalismus“ aus 1980 findet sich auch kein Projekt aus Österreich, geschweige denn aus Graz. Aber gerade hier hat strukturalistisches Gedankengut Fuß gefasst, offensichtlich deshalb, weil die Offenheit an der Technischen Hochschule den Blick nach außen ermöglichte. Nicht Wien stand im Fokus, wo Hollein und Pichler eine „Absolute Architektur“ der reinen Form propagierten, sondern Ljubljana, Venedig und Amsterdam, wo Architekten im urbanen Kontext arbeiteten. In Literatur und bei Exkursionen wurden den jungen Architekten die Augen geöffnet, die sich einem Absolutheitsanspruch verweigerten. Die profunde technisch-konstruktive Ausbildung an der Hochschule, die auf eine Optimierung der Form im Einklang von Material und Konstruktion hinzielte, war eine Grundlage dafür. Hinzu kamen seit Beginn der Sechzigerjahre Diskurse – in Text und Entwurf – über die Aufladung der architektonischen Form mit Bedeutungsinhalten. Friedl Groß-Rannsbach, mein Partner, war ja mit Prof. Hubert Hoffmann beim CIAM-Congress 1959 in Otterloo, wo der Bruch mit dem Funktionalismus als unzureichend für die Zukunft der Stadt vollzogen wurde.
In Otterloo trat in Projekten und Diskussionen eine Tendenz zu Tage, die einen neuen Strukturbegriff im Sinne einer veränderungsoffenen architektonischen Tektonik zu Tage brachte: Sichtbarmachung von verschütteten/vergessenen/verdrängten gesellschaftlichen Kräften, die raumbildendes Potentital in sich tragen. Kenzo Tange präsentierte seinen Tokio‐Plan als in das Meer ausgreifendes Kommunikationsnetz auf der Basis einer von der Kommune bereitgestellten Infrastruktur; Aldo van Eyck zeigte seinen Kindergarten von Amsterdam als eine organische ZellsStruktur, Giancarlo de Carlo postulierte einen regressiven Schritt im Sinne einer Besinnung auf historische Stadtstrukturen. In einem Aufsatz „fonction, structure et symbole“ aus 1966 blickt Kenzo Tange auf diesen Aufbruch zurück und datiert mit 1960 einen Paradigmenwechsel als architekturtheoretische Herausforderung der Zukunft: er nennt es structuralism.

Vor diesem Hintergrund allein ist es sinnvoll, von einem Auftreten strukturalistischer Tendenzen im architektonischen Feld von Graz zu diskutieren. Eduard F. Sekler – auch Teilnehmer in Otterloo – hatte in einem Aufsatz aus 1964 „Struktur, Konstruktion, Tektonik“ die Struktur als reinen Ordnungsbegriff gegenüber der Tektonik und Konstruktion abgegrenzt. Die Struktur ist das geometrische Muster (geo-metrie=welt-vermessung), sie tritt allein in Tektonik (Aufbau) und Konstruktion (Material) eines architektonischen Werkes zutage. Auch der Strukturalismus ist in diesem Sinn ein Abstraktum, das allein dadurch seine Fruchtbarkeit für viele Bereiche behält. Das wird deutlich durch die notwendige Abgrenzung gegen marxistische Ideologie, wie einen Pragmatismus der seriellen Produktion. Wenn Bernhard Hafner die in der Mitte der Sechzigerjahre in den Zeichensälen entstandenen Projekte (seine eigenen eingeschlossen) allein mit dem Markeneichen der Struktur versieht, ist das nur insofern richtig, als damit konstruktive Rahmenstrukturen gemeint sind, die wie bei Tanges Tokio-Plan durch Ausfüllung in der Zeit zu kommunikativen Netzen werden können. Die Gestaltfindung wird als Prozess aufgefasst, der den Ansprüchen einer gesellschaftlichen Veränderung im Sinne einer neuen Gesellschaft, wie sie utopischen Modellen eigen ist, entspricht. Dieser ist allerdings unvorhersehbar, auch politischen und ökonomischen Bedingungen unterworfen. Von ökologischer Tragfähigkeit war vor dem ersten Energieschock noch nicht die Rede (wir mussten dies bei der bis heute rechtlich nicht bewältigten Ausfüllung der freien Volumen in den Kopfbauten der Terrassenhaussiedlung leidvoll erfahren). Der in der theoretischen Konzeption sich behauptende Mythos des Strukturalismus, ein in gewisser Hinsicht revolutionärer Antrieb, musste sich dem Konfliktfeld widerstreitender gesellschaftlicher Interessen stellen und in konkreten Projekten behaupten. Davon weiß gerade Bernhard Hafner ein Lied zu singen (ich war als Juror fallweise „Geburtshelfer“).

Nicht anders als bei der erst von Vasari eingebrachten Terminologie der „Renaissance“ nimmt es nicht Wunder, dass der Begriff des Strukturalismus erst später zahlreichen Projekten im internationalen Vergleich aufgestülpt wurde. Wenn Bernhard Hafner sein Modell einer vielbeachteten Ausstellung in der Neuen Galerie in Graz 1966 „Struktureller Städtebau“ nannte, kommt darin zum Ausdruck, dass implizit strukturalistisches Denken Platz ergriff, das einer künstlerisch ausgeformten Sichtbarwerdung in einer spezifischen Tektur gleichkam. Das Wettbewerbsprojekt der Werkgruppe für Innsbruck/Völs 1962/63 sollte den Mythos des Ortes wiedererwecken, indem ein zugeschütteter See freigelegt und die in die Landschaft komponierten, bogenförmig angelegten Wohnbauten Wasserwege brückenartig überdecken. Die Geschossbauten waren lt. Baubeschreibung  als ein „über Fixpunkten entwickeltes variables System von Wohntypen auf verschiedenen Niveaus“  gedacht, die exemplarisch dargestellt wurden. Bei der Terrassensiedlung Graz‐St.Peter 1965 gelangten die Forderungen der österreichweiten Ausstellung „Neue städtische Wohnformen“ zur Anwendung, die u.a. eine „horizontale und vertikale Konzentration der Bebauung“ und eine „Verflechtung privater und öffentlicher Funktionen für gemeinschaftsbildende Kontaktmöglichkeiten“ beinhalteten. Auch hier sind implizit strukturalistische Prinzipien angesprochen, ohne dass von einem Strukturalismus die Rede war (in einer Ausstellung der Werkgruppe 1967 akzentuierte der Titel „Kristallisationen“ das grundlegende strukturelle Element).
Domenig und Huth sprechen in der geichzeitigen Ausstellung „Propositionen“ von einem „urbanen Gerüst“, dem als Primärsystem „Bauplätze“ für private und öffentliche Funktionen in einem Sekundärsystem zugeordnet sind. In gleicher Weise kann man eine Reihe internationaler Projekte aus den 60er-Jahren anführen.

Das vom Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften 2012 herausgegebene Buch „Was bleibt von der Grazer Schule?“ breitet in authentischer Interpretation die Stellungnahmen verschiedener Exponenten der „Grazer Schule“ aus, die verschiedenen Zugang zu einem Strukturbegriff in ihren Arbeiten hatten. Dass Bernhard Hafner diesen Diskurs anlässlich der Werkgruppen-Ausstellung weiterführt, ist erfreulich. Deren Titel „Architektur als Partitur“ hat signifikant vermittelt, dass ein theoretisches Konzept erst dann zur künstlerischen Verwirklichung kommt, wenn ein konkretes Projekt die zugrundeliegende Handlungsanweisung überschreitet und zum erlebbaren Raum wird, der wohl als Zeitdokument erfassbar, aber immer neu von Akteuren (Musikern, Architekten) bespielt wird.

Immer noch bleibt das reale, aus einer konkreten Situation entwickelte Projekt im Schwebezustand zwischen physischer structure (anglizistische Version) und a-physischer structure (romanische Version), wobei mit Strukturalismus letztlich eine Zeitphase bestimmt ist (1960 – 1980), die allerdings im Neuaufleben regelbestimmten Entwerfens (structuralism) durch neue Medien wieder ins Blickfeld rückt.

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