21/02/2010
21/02/2010

Günter Eichberger
WITTGENSTEINS SCHWESTERNHAUS
Aus der Kasperlperspektive

Ich leide sehr unter den Menschen, oder Unmenschen, mit welchen ich lebe. Kurz alles wie immer!
Der Bau eines Wohnhauses würde mich auch sehr interessieren.
(Ludwig Wittgenstein)

1
Was wir wirklich wissen wollen über einen Denker, sind Details aus seinem Intimleben. Wittgenstein hatte dergleichen nicht.
Wittgenstein hatte Charakter. Er hatte auch Arme und Beine. Hätte er zwei Köpfe zum Denken gehabt, sein Glück wäre vollkommen gewesen.
Er bestand darauf, sein Werk bestehe aus zwei Teilen: Aus dem, was er geschrieben habe und aus alledem, was er nicht geschrieben habe. Der zweite Teil sei der wichtigere.
Der Schlüssel zu seinem Denken liegt in der Kommode rechts oben.
Schon mit seinem ersten Buch hatte Wittgenstein alle Probleme gelöst. Danach schuf er mühsam neue, um sich nicht zu langweilen. Und langweilte sich dann doch königlich.
Zum Glück kam der Krieg. Das Schießen war eine Abwechslung. Endlich musste er nicht mehr soviel grübeln.
Leider stürzte sein einziger Freund mit einem Flugzeug, das noch nicht richtig fliegen konnte, ab. Als Wittgenstein davon erfuhr, soll er gelacht haben, da er die Nachricht für einen Witz hielt. Später tat er so, als lebe sein Freund noch und schrieb ihm viele gefühlvolle Briefe, die man aus Pietät nicht zurückschickte.
Er verschenkte sein Vermögen in der Hoffnung, es dadurch zu vergrößern.
Da er nie eine Schule besucht hatte, beschloss er, Lehrer zu werden. Schüler wies er ab. Ganz allein saß er im Klassenzimmer und aß ein Stück trockenen Brotes.
Seine weniger bekannten Bemerkungen:
„Ich weiß, dass ich...was weiß ich!“
„Handle so, dass die Maxime deines Handelns zugleich auch deine Lebenshaltungskosten abdeckt.“
„Ich hätte gerne ein gutes Buch hervorgebracht. Es ist nicht so ausgefallen; aber die Zeit ist vorbei, in der es von mir verbessert werden könnte.“
Was wäre gewesen, wenn er nicht zweiundsechzig, sondern zweihundertzweiundsechzig Jahre alt geworden wäre? Vielleicht hätte er sein Gedankengebäude zum Einsturz gebracht. Wer würde ihm dabei nicht gerne zusehen?

Auf einem Plan aus dem Jahre 1928 fügte Wittgenstein unter seine Unterschrift handschriftlich die Bezeichnung „Architekt“ hinzu.
(Karl Wuchterl)

2
1926, da er vom ewigen Nachdenken über dies und das, vor allem über jenes, doch schon merklich gelangweilt war, machte ihm seine Schwester Gretl (die aus dem Kasperltheater) den gutgemeinten oder abgefeimten Vorschlag, ihre Villa in der Wiener Kundmanngasse umzubauen. Ihr schwebte etwas im Stil des Belvederes vor, ihm eher eine Blockhütte.
Sparsamkeit der Mittel - von anderen Baustellen gestohlene Ziegel, Sand im Zement, ausschließlich interessierte Laien als Maurer - und ein wunderbares Gefühl für Proportionen - Wittgenstein nahm an seiner Schwester Maß, deren kantiges Profil in großbürgerlichen Kreisen als nachahmenswert galt - ergaben einen Bau, vor dem man nur immerfort den Hut oder Revolver ziehen kann.
Während der Bauarbeiten kam es wiederholt zu Meutereien unter den für Gotteslohn werkenden Maurern, da Wittgenstein nichts recht zu machen war und er ständig die Pläne zu verbessern trachtete und über Nacht alles neu entwarf, den Rohbau mit einer unreifen Birne zum Einsturz brachte und seine unausstehlichsten Seiten in gleißendes Licht rückte. Schließlich wurde Wittgenstein vom Polier an den Dachstuhl gefesselt, von wo aus er so lange undurchführbare Direktiven gab, bis er auch noch geknebelt wurde. Ansonsten stünde das Haus wohl bis heute nicht.
Seine Schwester dazu in einem Brief an ihren Beichtvater: „Den stärksten Beweis für Ludwigs Unerbittlichkeit im Bezug auf Maße gibt vielleicht die Tatsache, dass er den Plafond eines saalartigen Raumes um drei Zentimeter heben ließ, als beinahe schon mit dem Reinigen des fertiggebauten Hauses begonnen werden sollte .. Ludwig weinte so stark und drohte, er werde seine ‚Philosophischen Untersuchungen’ noch vor der Abfassung verbrennen, dass seinem Willen murrend und zähneklappernd entsprochen wurde.“
Wittgenstein reduzierte die Innenarchitektur auf wenige Elemente: Metalltüren, Metallfenster, Metallwände und Metalldecken. Das Material bekam er günstigst von seinem Stahlindustriellenvater, nämlich geschenkt, nachdem er ihm drei Tage lange seinen Tractatus durch die geschlossene Tür vorgesungen hatte.
„Wovon man nicht sprechen kann, das muss man bauen.“

Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert - und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig.
(Ludwig Wittgenstein)

3
Als „Stein gewordene Logik“ wurde die Stoneborough-Villa, Wittgensteins Schwesternhaus, von manchen bezeichnet – und damit wohl gründlich missverstanden.
Er selbst schrieb dazu: „Mein Haus für Gretl ist das Produkt entschiedener Feinhörigkeit, guter Manieren, der Ausdruck eines großen Verständnisses (für eine Kultur, etc.). Aber das ursprüngliche Leben, das wilde Leben, welches sich austoben möchte – fehlt ... es fehlt ihm an Gesundheit.“
Und folgerichtig war die Villa später ein Hospital für Sprachanalytiker, die über ihrer Analyse sprachlos geworden waren.
In seinen Tagebüchern äußerte er sich über alles, nur nicht über zukünftige Bauprojekte, er gab die Architektur auf wie vorher den Volksschullehrberuf und später seinen Philosophielehrstuhl. Er saß nur da und dachte schweigend über die Grenzen der Sprache nach. Bis er sie überschritt.
Und wieder vergessen, was zu sagen. Immer nur sagen, was zu vergessen.
Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken; wir können also auch nicht sagen, was wir nicht denken können.
Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein. Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein.
Wirf weg die Leiter
Dann geh weiter
in der Luft

Günter Eichberger, geboren 1959 in Oberzeiring/Stmk., lebt als freier Schriftsteller in Graz. Neben Theaterstücken und Hörspielen veröffentlichte er eine Reihe von Prosabänden; zuletzt erschien "Alias" im Ritter Verlag, Klagenfurt.

Verfasser/in:
Günter Eichberger
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+