06/05/2007

Zukunftsraum oder unerfüllter Zukunftstraum?

06/05/2007

O. Univ.-Prof. Dr.-Ing. Holger Magel (*1944 in Neuburg an der Donau) studierte von 1963-68 Vermessungswesens an der Technischen Universität München. 1977 Promotion zum Dr.-Ing. über Planungsfragen in der Flurbereinigung. Magel ist seit 1998 Ordinarius und Vorstand des Lehrstuhls für Bodenordnung und Landentwicklung TU München sowie Direktor (kollegiale Leitung) des Instituts für Geodäsie, GIS und Landmananagement der TU München. Er ist u. a. Präsident des UN-Habitat Professionals Forum. Foto: Archiv TU München

Vortrag Holger Magel

RESSOURCENREICH(ER) LÄNDLICHER RAUM.
PLÄDOYER FÜR EIN NACHHALTIGES LANDMANAGEMENT UND EINE AKTIVE BÜRGERGESELLSCHAFT.

1. Teil
Zukunftsraum oder unerfüllter Zukunftstraum?

Blaise Pascal hat einmal gesagt: „Nur weil wir die Gegenwart nicht recht zu erklären und zu erforschen verstehen, bemühen wir uns geistreich um die Einsicht in die Zukunft.“ Das ist es wohl nicht, warum wir Landentwickler, Dorferneuerer oder neuerdings auch Experten der Ländlichen Entwicklung so viel und so gerne von der Zukunft, vom Zukunftsraum oder gar Zukunftstraum ländlicher Raum reden.

Natürlich wissen wir, wie es aussieht um die ländlichen Räume in Europa und auf der Welt, selbstverständlich wissen wir von ihren gegenwärtigen großen Gefährdungen und ihren gewandelten und unveränderten Realitäten. Es muss also etwas anderes sein, warum und was uns seit Jahrzehnten immer wieder über die und von der Zukunft der ländlichen Räume sprechen und schreiben lässt. Ist es ein sich und andere befeuernder Optimismus gemäß dem Motto „Wer nicht den Mut hat zu träumen, der hat nicht die Kraft zu handeln?“ oder ist es ein bewusstes Dagegenhalten, weil man sieht, dass global und kontinental Vieles in Richtung Urbanisierung, Metropolisierung und Bildung von europäischen Städtenetzen läuft, was aus politischer, ökonomischer und auch wissenschaftlicher Sicht vielfach als unaufhaltsam angesehen und zumindest innerlich längst akzeptiert wird.

Seit Jahrzehnten nun hören wir also die Botschaften vom ländlichen Raum als „Lebensraum der Zukunft“, vom „Zukunftsraum ländlicher Raum“, wie gerade eben wieder von Markus Holzer oder, so ein Buchtitel von Alois Glück und mir, vom „Das Land hat Zukunft“... All das hören wir fast wie seinerzeit das biblische Volk vom gelobten Land und fragen uns, wann wird das Realität nicht nur für einige eher wohlhabende oder kinderreiche Stadtflüchtlinge, sondern für möglichst viele? Wenn man die gewandelten Realitäten betrachtet, scheint es, dass wir weiter denn je davon entfernt sind. Immer öfter wird nämlich darüber gesprochen, ob und wie lange noch wir es uns z.B. in Deutschland leisten können, überall im Lande, also auch im Oderbruch oder in der Uckermarck für gleichwertige Lebensbedingungen sorgen zu wollen, immer deutlicher wird, dass mit dem Wegbrechen hoher Agrarquoten in Osteuropa leider auch Arbeitsplätze, Lebensstandard und die Jugend für den ländlichen Raum verloren gehen, von den Problemen in Afrika oder Asien, mit denen ich ständig im Rahmen des Habitat Professionals Forum oder auch im Rahmen meines internationalen Master Studiengangs Land Management and Land Tenure an der TU München konfrontiert bin, gar nicht zu reden.

Und natürlich stellt sich dabei auch mir sehr oft die Frage, ob das ein aussichtsloses Rudern gegen den Trend, gar ein Kampf gegen Windmühlen ist, natürlich erfassen einen immer wieder Zweifel, ob dieser Einsatz für die ländlichen Räume, für die Erhaltung und Wertschöpfung ihrer Ressourcen und Potenziale, für ihre Menschen und ihre natürlichen Schätze nicht aussichtslos ist – überdies wenn einem mehrfach widerfährt, dass die sog. „große Welt“ sich nun vor allem auf die Städte stürzt und gestürzt hat. Erinnern Sie sich noch an die Botschaft des Weltstädtekongresses Urban 21 in Berlin? An das was Bundeskanzler Schröder formuliert hat: Die Zukunft gehört den Städtern! Hätte es im Rahmen des diesjährigen Weltarchitekturkongresses in Istanbul nicht wenigstens den kleinen weitgehend unbeachteten Vortrag über „The proto sustainable Chinese village as generator of the future Chinese city“ gegeben, wäre ich ziemlich verzweifelt heimgefahren, enttäuscht über das Nicht-Interesse eines wichtigen Berufsstandes an der zumindest zu diskutierenden Unverzichtbarkeit einer Balance zwischen Stadt und Land. Sixtus Lanner, der bereits in den 70er Jahren das Land-Thema popularisierte, hat immer wieder den ehemaligen französischen Premierminister Edgar Faure zitiert: „Wenn das Land nicht mehr atmet, ersticken die Städte.“ Und ich habe dieses Zitat längst auch chinesischen Politikern und Kollegen vorgehalten, die nun – endlich – sich um die gefährdeten ländlichen Regionen im Westen des „Reiches der Mitte“ kümmern wollen. Dieses „Reich der Mitte“ ist nämlich in großer Gefahr, aus der Balance zu geraten. Dieselben chinesischen Kollegen hören mir nun selbst leidgeplagt aufmerksamer als früher zu, wenn ich aus Hans Sedlmayrs (1) unvergessenem Meisterwerk „Verlust der Mitte“ (Sie merken die Parallelität) die tausend- und millionenfach erwiesene Wahrzeit zitiere:

„Die Erde, von der er lebt, zwingt den Menschen einzusehen, dass gewisse Formen seines Denkens und Handelns zerstörerisch sind und zur ´Verwüstung´ im buchstäblichen Sinne führen. Das anorganische, mechanische Denken wird durch die Erde selbst widerlegt...“

Vielleicht müsste ich aber nicht nur chinesischen oder UN-Spitzenvertretern z.B. in Nairobi, sondern auch deutschen und europäischen Meinungsführern aus den Ballungszentren, aus Wirtschaft und Wissenschaft einen weiteren, ebenfalls überaus seherisch begabten österreichischen Wissenschaftler vorhalten, nämlich Prof. Johann Millendorfer: Er hat nicht nur die berühmten LILA-Prinzipien geprägt, sondern vor allem von der „Nachfrage nach Bäuerlichkeit“ gesprochen, wobei er Bäuerlichkeit als eine Grundhaltung „bewahrender Progressivität“ bezeichnet hat und in der einerseits bewahrende Werte wie Glaube, Familie, positive Einstellung zu allem Lebendigem, „Kinder und Rinder“, schonende Behandlung des Bodens, Beständigkeit, Bejahung des Heimatortes etc. ebenso Platz haben wie andererseits progressive Lerneffizienz aufgrund ständigen Umgangs mit land-typischen komplexen lebenden Organismen und Strukturen.

Millendorfer sprach vor rd. 20 Jahren von der Nachfrage nach Bäuerlichkeit (die in Österreich ungleich „gesellschaftsfähiger“ ist als anderswo) und wurde vielfach missverstanden angesichts doch so offensichtlich unverminderten Bauernsterbens oder rückläufiger Bedeutung von allem Agrarischen. Er hatte aber im Kern recht wie im Übrigen auch mit seinem frühen Verweis auf das Aufkommen des 6. Kondratieff-Zyklusses mit dem sowohl innovativen wie auch ökonomisch bedeutsamen Streben nach Sinn, nach seelischer und körperlicher Gesundheit. Vielleicht würde Millendorfer angesichts unserer heutigen Krisen im Gesundheitswesen und ihrer völlig unzureichenden Bewältigungsstrategien darauf hinweisen, was das einzig Richtige wäre: Nämlich in die Gesunderhaltung zu investieren.

20 Jahre nach Millendorfers Nachfrage nach Bäuerlichkeit sollten wir heute besser von der Notwendigkeit des Ländlichen sprechen und hierbei an all die reichlich gegebenen physischen und immateriellen Ressourcen und Potenziale denken, die die ländlichen Räume und ihre Menschen auch unter gewandelten Agrarverhältnissen und -strukturen nach wie vor prägen, beeinflussen und leiten. Wenn die Notwendigkeit des Ländlichen – in englisch wohl von countryside - und dessen Ressourcen begriffen sind, kommt die Nachfrage von selbst, wie sie z.B. auf dem Tourismus- , hier im speziellen auf dem Gesundheitstourismussektor längst eingesetzt hat.

Nicht nur die „ökologischen Fußabdrücke“ städtischer Zentren, aber diese ganz besonders ,zeigen, dass die Stadt das Land braucht, oft ver- und aufbraucht, zuweilen sogar aus- und leersaugt. Das Ergebnis in vielen Ländern unserer Erde ist desaströs: Die Städte selbst werden größer und größer, immer unregierbarer und chaotischer; Slums, Armut, Kriminalität, Krankheiten und himmelschreiende Ungerechtigkeiten prägen die großen Städte dieser Welt wie umgekehrt in den ländlichen Räumen leere und überalterte Dörfer zurückbleiben und in ihrer Trostlosigkeit und fehlenden Kraft für endogene Entwicklungen den Auftakt für einen weiteren „Circulus vitiosus“ bilden.

HOLGER MAGEL
*1944 in Neuburg an der Donau, studierte von 1963-68 Vermessungswesens an der Technischen Universität München.
1977 Promotion zum Dr.-Ing. über Planungsfragen in der Flurbereinigung.
Magel ist seit 1998 Ordinarius und Vorstand des Lehrstuhls für Bodenordnung und Landentwicklung TU München sowie Direktor (kollegiale Leitung) des Instituts für Geodäsie, GIS und Landmananagement der TU München. Er ist u. a. Präsident des UN-Habitat Professionals Forum.
KONTAKT: magel@landentwicklung-muenchen.de

(1) Hans Sedlmayr, * 18. Jänner 1896 in Hornstein, † 9. Juli 1984 in Salzburg,
studierte Architektur an der Technischen Universität Wien und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Dissertation bei Julius von Schlosser über Fischer von Erlach. Vertreter der Strukturanalyse. Habilitation 1933, 1936 Nachfolger seines Lehrers auf dem Wiener Lehrstuhl für Kunstgeschichte. Verlor seinen Lehrstuhl nach dem Krieg wegen Mitgliedschaft in der NSDAP. 1951 erhält er einen Ruf an die Universität München, 1965 wird er Professor an der Universität Salzburg. Sein Hauptwerk "Verlust der Mitte" erschien 1948.

HINWEIS
Der zweite Teil des Vortrags, den Holger Magel anlässlich des 5. Europäischen Dorferneuerungs-Kongresses 2006 in St.Pölten gehalten hat, folgt am kommenden Sonntag.

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