05/12/2004
05/12/2004

Abrißatmen. Eine Beklemmung
von Heinz D. Heißl

Der Mann, hieß es, soll nichts als Wörter eingeatmet haben. Und er soll nichts anderes im Sinn gehabt haben, als Wörter einzuatmen. Ich möchte nur die Wörter einatmen, soll er gesagt haben, nachdem man ihn gefragt hatte weswegen oder weshalb er denn andauernd in der Nähe von Baustellen anzutreffen sei. Wörter einatmen...?, hatte der Frager gemeint und dabei den Kopf geschüttelt. Jawohl..., Wörter einatmen, denn aus Wörtern und nichts als aus Wörtern bestehe der Mensch. Und aus nichts als aus Wörtern wäre eigentlich alles gemacht und also entstanden. Ohne die Wörter sind wir nichts, und ohne die Wörter ist nichts, soll er gesagt haben, hieß es. Wir bestehen aus Wörtern, wie alles in Wahrheit aus nichts anderem als aus Wörtern bestehen würde. Die ganze Welt wäre eine Wörterwelt... und das Leben ein Wörterleben... und der Mensch mit seinem Wörterleben in der Wörterwelt nicht mehr als eine Wörterexistenz. Natürlich könnte dies alles bloß auch ein Gerücht gewesen sein. Andererseits aber, und das zeigt ja die Erfahrung, steckt hinter der Existenz eines Gerüchtes nicht selten die Existenz einer tatsächlich nachvollziehbaren Wahrheit. Und diese Wahrheit deckt sich dann mit dem, wovon vorher gemeint worden war, daß es sich um nicht viel mehr als ein Gerücht handle. Anfangs also dachte man, der Mann wäre rein zufällig dort oder begebe sich sozusagen zu seinem Zeitvertreib in die Nähe der Baustellen. Übrigens alles Abrißbaustellen; jene Häuser und Gebäude sowie Gebäudekomplexe, vor denen er aufzutauchen pflegte, waren Häuser und Gebäude und auch Gebäudekomplexe, die für einen Abriß vorgesehen und also unmittelbar vor den Abrißarbeiten, also der Durchführung des geplanten Vorhabens, gestanden waren. Ausschließlich im sogenannten Nahbereich (aber ausserhalb der Gefahrenzone) von Abrißobjekten sei der Mann zu sehen gewesen, hieß es. Und er soll plötzlich, wie aus dem Nichts, hatte jemand gemeint, und wie aus dem Nichts haben naturgemäß dann alle anderen auch gesagt, auf der Innsbrucker und später der ganzen Tiroler sowie gesamten Südtiroler Baustellenszene (sofern die Baustellentätigkeit den Abbruch und demgemäß das Entfernen eines Hauses oder Gebäudekomplexes bedeutete) erschienen sein. Gegenüber des für die Körperschaft ausgedient habenden Personalhauses der Italienischen Staatsbahnengesellschaft in der Speckbacherstraße in Innsbruck wäre er zum ersten Mal (gewissermaßen) aufgefallen. Das Zur- Kenntnis- Nehmen des Mannes habe zwar, wie man meinte, in der Innsbrucker Speckbacherstraße seinen Anfang genommen, aber man könne keineswegs und mit letzter Sicherheit behaupten, daß jener nicht vorher schon an der einen oder anderen Hausniederbringung zusehenderweise teilgenommen hätte. Und daß man, hieß es, in der Speckbacherstraße gerade mit dem Entladen von schwerem Baugerät beschäftigt gewesen sei, als der Mann einem (eine Rauchpause einlegenden) Baustellenarbeiter aufgefallen wäre (überdies soll der bereits schon seit dem frühesten Morgen, also vor dem Einsetzen des Berufsverkehrs, im Schatten des Torbogens der Hofeinfahrt des gegenüberliegenden Speckbacherstraßenwohnhauses gestanden haben, wußte einer der Anrainer der Ergänzung halber zu berichten). Der Mann hätte, wurde gesagt, so lange in der Speckbacherstraße unter dem Torbogen der Hofeinfahrt des Speckbacherstraßenwohnhauses ausgeharrt, bis von jenem zu entfernenden Personalhaus der Italienischen Staatsbahnengesellschaft (den Mauern, den Dachbalken und Dachbalkenverstrebungen, Türstöcken und Fensterkreuzen) bloß noch ein riesiger Schutthaufen zu sehen gewesen war. Der (eine Rauchpause eingelegt habende) Bauarbeiter (Franz Hechenbichler; oder Hechenblaikner?, aus Nassereith) hatte als erster davon gesprochen, nachdem ihm, wie er sich ausdrückte, der Mann, diesmal bei der Abrißbaustelle in der Erlerstraße - vorher anläßlich der Abrißarbeiten am Südtirolerplatz, also anläßlich der sogenannten Hauptbahnhofabrißarbeiten, und davor eben ganz in der Nähe jener Bau- und also Abbruchbaustelle in der Innsbrucker Speckbacherstraße - unter die Augen gekommen war (wobei es sich bei dieser Äußerung Hechenbichlers in Wahrheit um einen Irrtum handeln mußte, da der Bauhilfsarbeiter bereits auf der Baustelle in der Speckbacherstraße das Anwesendsein dieses Mannes zur Sprache gebracht hatte, wie man weiß, und obendrein unmittelbar vor Beginn der Hauptbahnhofsgebäudekomplexabbrucharbeiten neuerlich auf ihn aufmerksam gemacht hatte; bei der Abbruchbaustelle in der Erlerstraße hatte er den Mann zum ersten Mal - und nach heutigem Ermessensstand das einzige Mal - angesprochen gehabt). Morgens gegen sechs Uhr dreißig - als die Baubetriebsarbeiter an deren Arbeitsstätte aufmarschierten, um die Baumaschinen und Werkzeuge, also die Abbruchs- und Verräumungsmaschinen und Abbruchs- und Verräumungswerkzeuge in Betrieb zu nehmen - soll der Mann stets schon vor Ort gewesen sein, so Hechenbichler. Immer außerhalb der Gefahrenzone; jedoch wäre der Mann (nach und nach, wie man bemerkte), immer näher an das Gebäude- und also das Mauerverräumungsgeschehen herangerückt. Er, der Hechenbichler wie auch seine Bauarbeiterkollegen hätten sich (mit der Zeit) an ihn gewöhnt gehabt und sich keineswegs mehr viel gedacht dabei. Demzufolge gab es auch für ihn, den zusehenden Mann, so der zusehende Mann, als Hechenbichler ihn (in der Erlerstraße) nach dem Grund seines Näherkommens befragt hatte, keinerlei Veranlassung, sich weiterhin in benachbarten Hauseingängen oder in den Torbögen der Hofeinfahrten herumzudrücken. Und der Mann soll, nachdem weitergefragt worden war, sich dahingehend geäußert haben, hieß es, daß jedes in den Gebäuden einmal gesagte Wort für alle Zeit in den Mauern vorhanden bleiben würde, und sowie man ein Gebäude entferne, das Mauerwerk also schleife, so der Mann, ließe das Ausführen der Arbeiten und Zertrümmern des Bauwerks ein Freisetzen der im Gemäuer eingelagerten Gespräche in Gang kommen. Durch das Einatmen atme der Mensch die wieder in Bewegung geratenen Wörter ein und würde alles je einmal in den Räumen, Zimmern, Kammern, Gängen, Dachböden oder auch Kellern und Kellergewölben sowie Lagerhäusern, Lagerräumen, Geschäftskontoren Gesprochene neuerlich (und im großen und ganzen völlig unverfälscht) in seine Gedanken bekommen; mit der Einatmungsluft würden die Wörter in die Lunge geraten und mit dem Sauerstoffaustausch und der Blutzirkulation ins Gehirn und in die Gedanken transportiert, hätte der Mensch behauptet, hieß es. Ein Verrückter, ein Spinner, soll daraufhin Franz Hechenbichler (oder doch Hechenblaikner?) gerufen haben (und ein Verrückter und ein Spinner hätten dann alle anderen diesem Ruf und also der Aussage Hechenbichlers hinterdrein gesprochen). Aus Wörtern würde der Mensch bestehen. Und aus Wörtern würde die Welt bestehen. Man spreche also in einer Welt aus Wörtern mit Menschen aus Wörtern und rede mit Wörtern auf Wörter und nichts als auf Wörter ein. Der Himmel, zwischen den Hausdächern in einer Baulücke gefangen, nicht mehr als ein Wort. Und BLAU nur weil man ihm das Wort BLAU anhängen würde. Und der Mensch sei nur Mensch, da ihn das Wort Mensch als Menschen kennzeichne, obwohl der Mensch bei weitem nicht das wäre, was dieses Wort MENSCH belegen können sollte. Allerdings verhalte es sich dergestalt, daß, wenn man dem Wort MENSCH die Wortfolge ist Abschaumundverkommenundwiderwärtigundniederträchtigundverlogenundalsountragbar voranstelle, das Wort MENSCH ins bessere und der Tatsache und den Tatsachen entsprechende Licht gerückt werden würde. Im Verlaufe der Hauptbahnhofsgebäudekomplexabrißtätigkeit habe er ihn mehrmals aufgeregt gesehen, so Hechenbichler (der auf der Hauptbahnhofsgebäudekomplexabbruchbaustelle als Beobachter zum Beobachten des Beobachters abkommandiert worden war). Im Gegensatz zur Speckbacherstraße, wo er regungslos im Schatten des Torbogens der Hofeinfahrt gestanden habe, wechselte er nun nahezu ununterbrochen den Standort; hin und her sei er gelaufen, hin... und her..., vom einen Beobachtungsplatz zum anderen Beobachtungsplatz, so der Beobachter des Beobachters (und der Beobachtungsbauhilfsarbeiter Hechenbichler soll, während er immer wieder hin und her gerufen hätte, hin... und her..., mit den Armen energisch vor sich die Luft geschlagen haben). In jenem Moment, als die Wände des großen Wartesaales des sogenannten Hauptwartesaales in sich zusammenfallend eine ausgedehnte Staubwolke hochschießen haben lassen, hätte er, der Mann, so der Beobachtungshilfsarbeiter, hieß es, die haushohe Staubfontäne, die Staubfontänensäule, in sich hinein gesogen; wie eine Fahne, welche ihm in die Mund und in die Nasenlochöffnungen hineinwehe, hätte es sich angesehen. Kleine Schweißperlen sollen in dichter Reihe dem Mann auf Stirn wie auch auf der Oberlippe gestanden sein. Und hin und wieder wäre ein Tropfen von der Oberlippe oder der Stirn abgefallen. Die Partie unterhalb der Augen verschattet. Und die Augen - und also der Blick in die Augen - hätten erkennen lassen, daß der Mann sich außerhalb des Sichtkreises der anderen fühlte, als stiege er über eine Treppe in sich hinein und in sich hinunter, so der Beobachtungsbauhilfsarbeiter. Nachdem man Hechenbichler aber um eine Beschreibung des Mannes gebeten hatte, soll dieser gemeint haben, hieß es, daß jener schwer zu beschreiben wäre und eigentlich gar nicht zu beschreiben sei, da er nicht wisse, wie er zu beschreiben wäre, obwohl er ihn - als unumstößliche Tatsache gelte dies - inzwischen doch so oft zu Gesicht bekommen hätte. Und das Nicht- beschreiben- Können verunsicherte ihn. Und das Nicht- beschrieben- worden- Sein verunsicherte diejenigen, welche Erkundigungen oder Erhebungen bezüglich des Mannes anstellten. Der Bauhilfsarbeiter Hechenbichler würde (gegenüber dem Bauleiter Hermann Kranewitter) gemeint haben, daß er mit einem Male von der Sorge, nein.., sogar der Angst befallen worden wäre, in die Sonderbarkeit, die dieser Mann verkörpert hätte, hineingezogen zu werden. Der Wörtereinatmer (so nannten ihn inzwischen alle) sei inmitten des Gespräches, in welches er, der Hechenbichler, ihn verwickelt habe, mehrmals zu einem Wort geworden und hätte sich dann also zwischen den von ihm gesagten Wörtern verborgen gehalten. Die Wörter und Sätze - sie gingen rücksichtslos in einen hinein, soll er zu Hechenbichler gesagt haben, und daß die Wörter und Sätze in ihrer Rücksichtslosigkeit schön wären und die Wörter und die Sätze in ihrer Rücksichtslosigkeit aber auch abgrundtief häßlich sein könnten. Alles gehe hinein in einen. Mit jedem Atemzug gehe es hinein. Nichts solle je verschwinden aus den Gebäuden. Erst wenn diese vernichtet würden, entwichen die Wörter und Sätze und Schreie (ja, auch die Schreie) wieder, um sich aber in den Mauern der Fassaden also den Außenwänden, der Außenhaut, hatte der Mann gesagt, der Gebäudeaußenhaut jener in der Nachbarschaft noch bestehenden Bauwerke festzusetzen. Dort steckten auch die Wörter, die vorübergehende Passanten ihrem Munde entweichen hätten lassen oder auch das, was es vor einem Haus, der Hausfassade stehend zu bereden oder zu schreien gegeben hätte. Liebesgeflüster..., Lippengestolper..., Verdächtigungen..., Haßtiraden... . Nur die Gebäude aus Glas - vornehmlich Banken- und Versicherungsgebäude - jene hellen, vom Licht durchfluteten Verlogenheitsbauwerke, deren Glas dem Betrachter eine Durchsichtigkeit und eine Klarheit vermitteln solle, zeigten sich gegen das Eindringen der Wörter resistenter; das Eindringen könne zwar nicht ganz verhindert, dennoch aber erheblich vermindert werden, habe der Mann zu Hechenbichler gesagt, hieß es. Die Verlogenheitsabsprachen und Hinterhältigkeitsabmachungen und Betrugsvereinbarungen und das Geldherauslockungs- und Geldvernichtungsgerede, das die Lebens - und Daseinsqualität des Einzelnen in unendlichem Maße zu beeinträchtigen wisse, würden von Generation zu Generation schwieriger auszumachen und also wiederzuhören sein. Als man den Mann ob solchen Geredes verhaften lassen habe wollen, soll dieser sich in einem Wort aufgelöst haben und deswegen wäre an Stelle dieses Mannes der Bauhilfsarbeiter Franz Hechenbichler (oder doch Franz Hechenblaikner...?) aus Nassereith von der Staatsbehörde für eine genaue Befragung in Verwahrung genommen und später zur weiteren Beobachtung in das allgem. Landesnervenkrankenhaus nach Hall verbracht worden sein.

Diesen Bericht soll der Verfasser angeblich, als er - während das Zeitungsverlagshaus in der Erlerstraße abgerissen wurde - durch die Erlerstraße zum Cafe Central gegangen war, plötzlich in seinem Kopf gehabt haben. Besagter Bericht sei in den Redaktionsräumen mehrmals besprochen, jedoch aber nie zum Abdruck gelangt....
Heinz D. Heisl
lebt in Innsbruck und Zürich. Komponist/Musiker (div. Veröffentlichungen auf RCA) 1988 erste literarische Texte; 1990 Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin; 1992 erste Buchveröffentlichung; 2004 erster Roman ³ROM AN 15:15 (in deutscher Sprache bislang nicht verlegt) erschien in japanischer Übersetzung (Yamamuro Nobutaka/Hitotsubashi Universität) in Tokio; Auszeichnungen u.a: 2002 Teilnehmer am Wettlesen um den Bachmannpreis. 2003 österreichisches Staatstipendium. 2003/2004 writer in residence in Basel.

Verfasser/in:
ausgewählt von Karin Tschavgova
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