03/07/2014

Im Hof des Grazer Kunsthauses, von wo aus die Entwicklung des „Schmuddelbezirks“ Lend zum Designviertel vor über zehn Jahren ihren Ausgang genommen hat, können in einer "Favela" die WM-Spiele verfolgt werden. Kitsch oder Protest?

03/07/2014

Fußballfieber im Hinterhof – Public Viewing einmal anders

©: Luise im Abseits
©: Luise im Abseits
©: Luise im Abseits
©: Luise im Abseits

Die WM hat auch Graz fest im Griff. Gastgärten verdienen sich mit der Übertragung der Spiele aus Brasilien eine goldene Nase. Aus der Masse sticht eine Location heraus: Luise im Abseits lädt Fußballinteressierte in den Hof zwischen Kunsthaus und HDA, betreut von dem Team der Luise im Kunsthaus.
Das Besondere: die Besucher betreten mit dem Hof eine Grazer „Favela“, sitzen unter Unterwäsche an der Wäscheleine, zwischen Autoreifen auf der Treppe oder auf zusammengewürfeltem Mobiliar, nachdem sie ihr Bier an der Cabana geholt haben. Das Projekt hat schon kräftig Wellen geschlagen, auf Facebook wurde gegen die Romantisierung der brasilianischen Armenviertel gewettert und dem Veranstalter etwas mehr Dreck und ein geringeres Monatseinkommen empfohlen, falls er gerne reales Favela-Feeling hätte.

Tatsächlich geht es Gernot Saiko, der neben der Süßen Luise am Lendplatz die Luise im Kunsthaus führt, darum, auf die Lebensumstände in den brasilianischen Städten abseits der WM-Kamerateams und des Kommerztrubels hinzuweisen. „Die Leute gehen in die Kneipen und subventionieren über ihre Konsumation die FIFA ein bisschen mit“, ist im Konzept von Luise im Abseits zu lesen. Und auch, dass dem Widerstand geleistet werden kann, wie die Menschen in den Favelas es tun (und gegen die Vereinnahmung ihres Grundes durch Urbanisierungsmaßnahmen von Seiten und zu „Gunsten der Stadt" auf die Straße gehen). Jedes in der Grazer Favela getrunkene Bier bringt eine Spende an das Grazer Vinizidorf – und nicht an die FIFA.

Das Brasilianische Institut für Geografie und Statistik (IBGE) berichtet, dass knapp 11,5 Millionen Brasilianer in den landesweit über 6000 Favelas leben – das sind sechs Prozent der Gesamtbevölkerung. Den prozentuellen Rekord hinsichtlich der Einwohnerzahl hält die Stadt Belém im Norden des Landes, wo ca. 54 Prozent der Bürger in Favelas wohnen. Rund eineinhalb Millionen Menschen sind es in Rio de Janeiro – fast ein knappes Viertel der Stadtbewohner.
Rio hat aus der Not eine Tugend gemacht:  Während der WM werden aufgrund mangelnder Hotelzimmeranzahl auch Schlafplätze in den Favelas von Rio de Janeiro angeboten, um die rund 300.000 Besucher der Stadt unterzubringen. Über die Website favelaexperience.com werden kleine günstige Unterkünfte angeboten.

Zum einen ist Fußball gerade bei der ärmeren Bevölkerung Lieblingssport Nr.1, zum anderen werden für dessen Kommerzialisierung öffentliche Gelder durch den Bau von später nie mehr zu füllenden Megastadien verbraten. Die 2007 von der brasilianischen Regierung angekündigten Kosten der WM von 2,8 Milliarden Reais (weniger als einer Milliarde Euro) sind explodiert und liegen heute fast bei dem Zehnfachen. Das Geld ist v.a. in den Bau von Stadien und Infrastruktur, Sicherheits- und Telekommunikationsprojekte geflossen; die hohen Unterhaltskosten für Bauten und Infrastruktur und damit deren Weiterbetrieb können sich die wenigsten Bundesstaaten und Gemeinden leisten.

Achja, wie steht es eigentlich um die Stadien der EM 2008?

anonym

Na, ja, das Ganze klingt sehr nach Alibi und schlechtem Gag, um aus der Menge der flatscreenbestückten Gastrobetriebe herauszustechen - und Umsatz und Gewinn zu machen. Man erkläre mir bitte, wieso man mit der Konsumation auch ein bisschen die FIFA sponsert - das scheint mir 2x verquer gedacht (und würde, wenn's konsequent weitergedacht wird, dazu führen, dass man gar nix mehr konsumiert, oder?)

Do. 03/07/2014 7:33 Permalink
Michael Forenbacher

Antwort auf von anonym

Das 10er Trikot bei einer Fußball WM trägt schon lang nicht mehr der Sport sondern der Konsum und es wäre naiv zu glauben das ein Event von dieser Größe ohne den finanziellen Mitteln der Werbewirtschaft funktionieren würde.
Leider - aber Panem und circensem ist ein Konzept das sich seit längerem bewährt hat.
Das allerdings ein Wirt ,der sich erlaubt abseits der Großbildleinwand zu existieren ge-shitstormed wird ist schon verwunderlich...!? Das jemand was macht und somit zum Nachdenken und zum Diskutieren anregt, hat deutlich mehr Wert als die abstrakt überzogene Kritik der selbsternannten Gutmenschen.
Vorzugsweise anonym.
Kritik darf und muss sein aber bitte lassen wir die Kirche im Dorf bzw. die Luise im Abseits.

Di. 15/07/2014 9:04 Permalink
Marc Breuer

Antwort auf von Michael Forenbacher

Nein das ist in diesem Fall nicht verwunderlich. Es geht nicht um die kleinen Wirte, sondern um eine gewisse Angemessenheit in der Sache selbst. Nichts gegen ein "Abseits" der grossen Leinwände und einen gemütlichen Ort der Gemeinschaft. Das ist alle ganz wunderbar. Die Frage allerdings ist wie man etwas macht, mit welchen Federn man sich schmückt und wer hier nun schlussendlich den Gutmenschen spielen will ... ? Und ja, zum Diskutieren hat das alles tatsächlich angeregt.

Di. 15/07/2014 9:51 Permalink
anonym

Antwort auf von Michael Forenbacher

Nicht aufs Tun an sich kommt's an, sondern darauf, was man tut und wie. Dass (mit zwei s) jemand was, also irgendetwas macht, heißt noch lange nicht, dass es zum Nachdenken anregt, sorry. So einfach ist es nicht, nicht für die angeblich selbsternannten Gutmenschen (was für eine hohle Phrase!) und nicht einmal für schwach denkende Gegen-Gutmenschen.

Di. 15/07/2014 8:31 Permalink
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