06/04/2017

Kunstbausätze

Zwei Ausstellungen in Graz: Erwin Wurm und Hans Hansen im Kunsthaus und in der Camera Austria

Erwin Wurm
Fußballgroßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach
bis 20. August 2017 im
Kunsthaus Graz
Kuratiert von
Günther Holler-Schuster

Hans Hansen
Atelier
bis 4. Juni 2017 in der
Camera Austria
Kuratiert von
Annette Kelm, Hendrik Schwantes und Hans Hansen

jeweils von
Die – So, 10:00–17:00

06/04/2017

Kunsthaus Graz, Ausstellung 'Erwin Wurm – Fußballgroßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach', Vernissage

©: UMJ / N. Lackner

Erwin Wurm, 'Ohne Titel', 2016

©: UMJ / N. Lackner

Erwin Wurm, 'Wortskulptur', dahinter 'Gurke'

©: UMJ / N. Lackner

Erwin Wurm, 'Kletterskulptur' aus Styropor

©: UMJ / N. Lackner

Erwin Wurm, Ausstellungsansicht

©: UMJ / N. Lackner

Camera Austria, Ausstellungsansicht Hans Hansen, Foto: Markus Krottendorfer

Hans Hansen, zerlegter VW Golf

1980 stülpte sich Jürgen Klauke einen schwarzen Plastikeimer über den Kopf. Dann posierte er in verschiedenen Stellungen. Das 13teilige Fototableau nannte er Absolute Windstille.
Seit Mitte der 1990er nimmt auch Erwin Wurm Alltagsgegenstände her und lässt sie zu einem Kunstdiskurs werden. Dann werden Kleiderbügel in den Mund genommen, Körper durch Sitzgelegenheiten verformt oder es darf auf Obst ausgeruht werden. Mit den One Minute Sculptures begann Wurms Ruhm sich in Windeseile auszubreiten.
Er gilt aktuell als höchstbezahlter noch lebender Künstler Österreichs. Galerien, Museen drängen sich um ihn, bei der Biennale in Venedig ist er einer von zwei Hauptdarstellern im Österreich-Pavillon. Schon längst ist aus einem Solitär ein Kunstbetrieb geworden. Alle Nachfragen zu erfüllen, braucht ein Team von Könnern. Geblähte Autos, beinahe abzustürzende Neubauten, wellige Segelschiffe, das Studio Wurm ruft zur Reformation von Massen auf und setzt sie an ungewöhnlichen Orten wieder aus. Einen Jux will er sich in bester österreichischer Tradition machen. Der Humor ist für den Künstler eine Säule in der Ideenfindung. Die Pose darf also auch Posse werden.
„Man kann alles nach seiner skulpturalen Qualität befragen. Ob dabei etwas herauskommt, ist eine andere Frage. Gibt es eine Grenze von Skulpturalität, und wenn ja, wo liegt sie?“ (Erwin Wurm). Im Kunsthaus Graz versucht Erwin Wurm sich seiner ständigen Auseinandersetzung mit dieser Frage in neuen Variationen zu seinem Werk zu stellen.
Dazu ruft er einmal die großen Geister der Kunstgeschichte an. Beinahe japanisch im Denken – im Buddhismus wird den Toten durch Opfergaben gehuldigt, damit Friede im anderen Reich herrschen kann – erweist Wurm der dahingegangenen Künstlerwelt seine Reverenz. Er verbeugt sich vor dem Liegenden von Fritz Wotruba von 1953, spendiert der Plastik eine Extrawurstsemmel mit Gurkerl. Seine eigene Gurke, der vier Meter hohe Bronzeguss Gurk, trägt Robert Rauschenbergs Siebzigerjahre Multiple Door als Pop Art-Vermächtnis durch die Ausstellung. Eine 60 cm hohe Bronzeplastik von Josef Pillhofer aus 1956 ist die Vorlage zu Wurms Kletterskulptur. Er zieht sein Statement aus zusammengeklebten Styroporplatten dazu auf fast vier Meter aus, setzt Klettergriffe ins Material ein. Doch die Fragilität des Objekts gibt dem Weg in den Olymp keine Chance. Wer ganz hinauf will, darf keinen Halt wohl kennen.
Einer Henry Moore Figur einen Pullover anzuziehen, scheiterte am Widerstand der Briten, erzählte Erwin Wurm im Rahmen des Pressegesprächs. Warm anziehen konnte sich dagegen das Kunsthaus: Weltraumschwitzer durchtrennt als vierzig Meter langer und vier Meter hoher Wandpullover die Ausstellungsfläche. Auch hier holt Wurm noch einmal einen großen, verstorbenen Meister vor den Vorhang. 2004 baute Sol LeWitt seine Wall ebenfalls quer durch den Space01.
Ganz lebendig sind die im Raum verteilten Wortskulpturen. Deutlich länger als eine Minute schicken Akteure auf Podesten zu Kunst gewordene Buchstaben in den Raum. Die Skulptur als Ohrwurm, der sich in der Vorstellungskraft der Besucherinnen und Besucher festsetzen, Kunstwerke im Kopf erzeugen soll.
„Geruchsblock zieht mit einer Person durch das Zimmer.“ Diese Wortskulptur kann auch außerhalb der Bilderwelt der Kunstliebhaber bestehen, wenn eines der Angebote bei den ebenso neu für die Grazer Ausstellung konzipierten Lichtplastiken angenommen wird. Klassische Lampenschirme erhellen die Schau. An diese Leuchten wurden Kunstabstellflächen, Wurm typisch geformte Masseverwalter montiert. Sie laden zu Interaktionen ein, heben das Unberührbare im Musealen auf. Es darf da schon einmal sich ein Glas Rotwein eingeschenkt werden. Wer für soziale Netzwerke frei von jeder Gesichtserkennung eine dauerhafte Ausstellungserinnerung haben möchte, der kann doch noch zu einer One Minute Sculpture werden. Für ein Selfie ohne sichtbares Lächeln gibt es auch im Kunsthaus Graz einen – leeren – Farbenkübel zum Aufsetzen.

Apropos Fußballgroßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach. Gleichzeitig mit Erwin Wurm läuft in der Camera Austria Atelier, ein Querschnitt durch vierzig Jahre fotografisches Werk des erstmals in Graz in einer Einzelschau präsentierten Hans Hansen. Die Ausstellung mixt Auftragsfotografie mit künstlerischen Arbeiten des herausragenden Vertreters der Neuen Sachlichkeit im Heute. Hansen arbeitet analog. Seine präzise Ausleuchtung lässt manches seiner Motive beinahe grafisch, gleichsam als Rendering erscheinen. Eine seiner bekanntesten Fotografien ist die eines in sämtliche Einzelteile zerlegtes VW Golfs, eine anatomische Studie in Blech, Glas und Kunststoff bis zur letzten Schraube. Schwarz- und Grauwerte in unwirklichen Facetten zeigen seine Glas-Wasser-Reflexionen. Ein vollkommen auf Farbe und Form reduzierter Bikini entlässt jede Dreidimensionalität in der Bildtiefe. Die klein- und großformatigen Arbeiten zeigen eine beeindruckende Melange von immer seltener werdender traditioneller Fototechnikmeisterschaft gepaart mit einem fokussierten Blick auf das Wesentliche. Hingehen, Schwarz sehen, staunen. 

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