10/05/2010
10/05/2010

Der neue ST/A/R in XXL; Heidulf Gerngross (vorne) und Gernot Lauffer.

Erster Hausentwurf für Gerngross selbst, mit modular erweiterbaren Räumen. Im Bild zu sehen die Doppelgarage (unten) und seitlich je ein Kinderzimmermodul.

Gerngross stemmt den Archiquanten.

Gerngross signiert den neuen ST/A/R für seinen „Amigo“ Bernhard Hafner. Alle Fotos: Emil Gruber

Konzept zu einem Gemeinschaftsprojekt mit dem japanischen Architekten Masato Hori „Wir fressen den Archiquant“

„Neues nordisches Vollformat! Ab sofort die größte österreichische Zeitschrift!“
Heidulf Gerngross hält wie ein Straßenverkäufer die aktuelle Ausgabe seines Printmediums für Städteplanung/Architektur/Religion ST/A/R in die Luft. Der Mann liebt die Superlative, kein Zweifel.
Gerngross zurück in Graz – als dritter Vortragender der Reihe „Rethinking/Designing Structure“ des Instituts für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften der Architekturfakultät der TU, steht er nun vor einem Auditorium, das sich halb aus alten Weggefährten und halb aus neugierigen jungen Studenten zusammensetzt. Ein idealer Nährboden also für einen begnadeten Selbstdarsteller. Student an der TU war er in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts, einer der damaligen Wilden, die die legendäre Grazer Schule der Architektur begründeten. Gerngross hört diesen Begriff möglicherweise gar nicht so gerne. „Wir waren vernünftig“, betont er, „der Prix hat einmal zu mir gemeint, als ich ein Satteldach plante, Heidulf, du bist ein Verräter.“ Die späteren Dekonstruktivisten waren, um in der Sprache von Gerngross zu bleiben, Non-Amigos. Le Corbusier oder Malewitsch haben den seit Jahren in Wien lebenden Architekten beeinflusst. Heute sieht Gerngross sie charmant, aber nicht als Überväter: „Wir haben eine freundschaftliche Basis entwickelt.“

Auch Friedrich Kiesler könnte man als einen Großonkel bezeichnen, als Gerngross und seine Freunde schon während ihres Studiums in Graz den sozialen Raum zu ihrem Hauptforschungsgebiet machten. „Raum pfeift.“ Gemeinsam mit Kommilitonen wie Bernhard Hafner, Helmut Richter, Konrad Frey und anderen wurde an Konzepten gearbeitet, wie sich die Architektur den jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnissen, immer wieder neu adaptierbar, anpassen kann. Der Architekt zitiert da gern John Cage: „Die wirksamste Struktur ist die, die man nicht merkt.“

Das Modul war eine frühe Liebe von Gerngross und ist es bis heute. War sein erster Hausentwurf ein Modell, das Räume je nach Kindersegen beliebig an die Grundstruktur anstöpseln lässt, träumt er später von einer modularen Raumstraße, die Graz mit Moskau verbindet. Heute ist der Container („der moderne Ziegel“) sein bevorzugter Baustein.
Sein Ende der Siebziger fertig entwickeltes Volksbuch („erster Computerroman der Welt“, O-Ton Gerngross) führte das suprematistische Gedankengut eines El Lissitzky weiter, indem aus Variationen von rechten Winkeln und Goldenen Schnitten ein eigenständiges digitales Alphabet entstand.

Als Überzeugungstäter in abstrakter Konvention beweist sich der Architekt auch bei seinem derzeitigen Lieblingskind, dem Archiquanten. „Das ist der rechte Winkel des 21. Jahrhunderts, ein Architekturteilchen.“
Gerngross nippt an seinem Weinglas, nimmt den Anruf eines Freundes entgegen, der den Hörsaal nicht findet, und stemmt dann das Leder gewordene Modell seines Postulats, dass jede Proportion ihr Regulativ brauche, in die Höhe. Sitzmöbel? Designerstück?, Teetischchen? Eine zu Materie gewordene ,kieslersche Raum-Zeit-Einheit? „Für ein Projekt in Japan hab ich vorgeschlagen, wir fressen den Archiquant. Natürlich japanisch gewürzt.“

Die Friedrich und Lillian Kiesler Privatstiftung hat heuer Gerngross gewürdigt und seinen post-suprematistischen Datenblättern eine Ausstellung gewidmet. Monika Pressler, die Direktorin, schreibt im Programmheft: Und wenn Malewitsch meint: „Ich bin eine Stufe“, so verkündet Heidulf Gerngross: „Ich bin eine Suppe“, um dem rein Geistigen zu entfliehen und sich selbst wie auch die Ergebnisse seiner Arbeit als etwas „Verdautes“ zu schildern, das sich niemals beziehungslos zu seiner Umwelt in dieser einrichten kann.
Gerngross beweist in und neben seinen theoretischen Überlegungen immer wieder aufs Neue, dass das Spielerische, schmunzelnd Subversive ihm nie verloren ging. Da wird schon einmal ein Ei innen mit „Ei“ beschriftet, damit Informationen auch das Kücken erreichen – und so ein Gedankenanstoß zur Innenraumplanung entwickelt. Ein fiktiver Wespenschwarm wird auf das goldene „Krauthäupl“ (Gerngross) an der Sezession in Wien losgelassen, um einen Diskurs über Sinn und Unsinn der Ornamente zu eröffnen. Eine der ältesten Kunstdebatten unterläuft Gerngross mit drei lebenden Regenwürmern, die er auf ein weißes Blatt Papier setzt und dutzende Male hintereinander abscannt. Die Erkenntnis? „Jede Kopie ist ein Original.“

Echte Originale finden sich dagegen im auch häufig durch gemeinsame Projekte verbundenen Freundeskreis. Franz West, Kurt Hofstetter, Peter Kogler sind Langzeitgefährten im bunten Universum des Heidulf Gerngross. „Die menschliche Verbindung ist die wichtigste Struktur. Ohne den Bernhard Hafner wäre ich nach dem Studium nie nach Amerika gekommen. Die Sekretärin vom Neutra hat mich damals sogar einmal zu einer Besichtigung eines Schindlerhauses mitgenommen. Die war ausgesucht freundlich zu mir, solange, bis ich im Garten eine Orange von einem Baum pflückte. Ab diesem Zeitpunkt war sie sehr reserviert.“
Gerngross nippt wieder leicht sentimental am Weinglas. An der UCLA in Los Angeles erwarb sich der junge Architekt einen Master in Urban Land Economics. „Ich wollte im Gegensatz zu meinen österreichischen Kommilitonen dort Millionär werden“, erzählt er frei heraus, „bei meinem Konkurs viele Jahre später hat mir das Studium sehr geholfen.“ Vielleicht ist es gerade diese Bereitschaft zur Selbstironie und die Unbekümmertheit, die den Siebzigjährigen so jugendlich und dynamisch wirken lässt.

Gerade plant er in Melk eine Postgraduate Schule für Architekten. Junge Absolventen sollen dort am Campus wohnen, ein Haus bauen, ein Buch schreiben, ein Möbel entwerfen, eine Freifläche bearbeiten und eine internationale Jury soll am Ende die Arbeiten bewerten.
Zurück zu seinen eigenen Anfängen hat Gerngross für seinen jüngsten Sohn heuer auch wieder gefunden. „Eine Holzpfeife, handgeschnitzt!“, lächelt er stolz. Ja richtig, Raum pfeift.

Verfasser/in:
Emil Gruber, Nachlese
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