09/10/2015

Grimmwelt Kassel

Bauherr
Kassel documenta Stadt

Architektur
kadawittfeldarchitektur

Realisierung

2013 - 2015

Ausstellungsgestaltung + Szenographie
Holzer Kobler Architekturen

Kuratorisches Konzept
Hürlimann + Lepp Ausstellungen

BGF 6.000m2 incl. Dachfläche
BRI 24.400m3

In der GAT-Reihe bauwerk.aktuell werden Architekturproduktionen innerhalb und außerhalb Österreichs präsentiert, die kürzlich fertiggestellt wurden. Bei der Kuratierung werden Projekte von AkteurInnen bzw. ProtagonistInnen mit Bezug zur Steiermark bevorzugt.

09/10/2015
Architektur: kadawittfeldarchitektur ©: Jan Bitter Fotografie
©: Jan Bitter Fotografie
©: Jan Bitter Fotografie
©: Jan Bitter Fotografie

Foyer

©: Jan Bitter Fotografie

Auftaktraum – zentraler Verteiler über 4 Ebenen.

©: Jan Bitter Fotografie
©: kadawittfeldarchitektur
©: kadawittfeldarchitektur
©: kadawittfeldarchitektur
©: kadawittfeldarchitektur

Der Entwurf für die Grimmwelt ging 2011 aus einem Wettbewerb hervor, der zur Aufgabe hatte, ein Ausstellungsgebäude für die Präsentation und Erforschung des Werkes der Märchenbrüder zu entwickeln, das als zentrale Anlaufstelle den Geist und das Werk der beiden Sprachwissenschaftler lebendig hält. Städtebaulich ist der Neubau zentraler Bestandteil eines Gesamtkonzepts, das mit dem Grimm-Denkmal und einer eigenen Grimm-Abteilung im Hessischen Landesmuseum in der unmittelbaren Nachbarschaft einen Dreiklang bildet.

Architektur und Topographie

Der Entwurf ist direkt aus der Besonderheit des Orts entstanden: Das Haus liegt an der südlichen Kante des Weinbergs inmitten einer denkmalgeschützten, reizvollen Parklandschaft. Die begehbare Skulptur versteht sich als gebaute Fortsetzung des steilen Hangs, der für den Bau zweier Fabrikanten-Villen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts terrassiert worden war. Relikte einer Treppenanlage und einer Brunneneinfassung erinnern an das sogenannte Henschel-Haus, das 1945 bei einem Bombenangriff zerstört wurde und dessen Platz das Ausstellungshaus nun einnimmt. Die steinernen Reste sind weiterhin Teil des Gartens und verankern den Neubau über seine städtebauliche Einbettung hinaus auch mit der Geschichte des Areals. Das Ausstellungshaus wächst wie eine weitere Befestigungsmauer aus dem Hang hervor und fordert den Besucher regelrecht dazu auf, es zu erwandern und zu erklimmen: Eine weite, nach oben etwas schmaler werdende Treppe führt als Teil der Südfassade zehn Meter hinauf auf das Dach mit 2.000 Quadratmetern begehbarer Fläche, die größtenteils eine weiter ansteigende Stufenlandschaft bildet. Die Außenmauern sind als Brüstung über die Traufkante hochgezogen und ebenfalls getreppt. Auf der weitläufigen Terrasse können Veranstaltungen stattfinden – unabhängig von den Öffnungszeiten –, um der Öffentlichkeit die Fläche an einem besonderen Ort zurückzugeben, die das Ausstellungshaus besetzt. Der Stahlbetonbau ist mit einem hellen Naturstein, Gauinger Travertin, in unterschiedlich hohen Lagen verkleidet. Der Baukörper wirkt kompakt, ohne gedrungen zu sein. Zugleich ist die Materialwahl eine Reminiszenz an den Weinberg, der selbst aus Kalkstein besteht. Auf dem Dach ragt inmitten der changierenden Oberfläche eine Glasbox hervor, die die Umgebung spiegelt: Es ist der Fahrstuhl, der einen barrierefreien Zugang zur Dachlandschaft erlaubt.

Innere Landschaft


Mit dem Durchschreiten des Windfangs tut sich der Blick auf Kassels Umland auf. Man steht in einem hohen Foyer, das nach Süden die gesamte Tiefe des Gebäudes durchmisst, und sieht durch bodentiefe sowie vollständig zu öffnende Fenster auf das vertraute Panorama. Hier ist das Café eingerichtet, das ebenfalls unabhängig vom musealen Leben betrieben wird. An der schrägen Decke lässt sich der Verlauf der darüber liegenden südlichen Außentreppe verfolgen; unterstützt wird diese fließende Bewegung dadurch, dass hier und im Foyer Wände wie Decken mit dem gleichen Material verkleidet sind. Das hier verwendete Eichenholz nimmt Bezug auf das in den Grimm‘schen Märchen häufig wiederkehrende Wald-Motiv. Auch im Foyer ist – wie in allen Bereichen des Ausstellungshauses mit Ausnahme der Büros und Nebenräume – die Decke geneigt, rechte Winkel sind im gesamten Gebäude die Ausnahme. Sämtliche Böden überzieht ein heller Terrazzoboden.
In Blickrichtung Süden liegt vom Foyer rechts der Verwaltungstrakt mit den Büros für die Mitarbeiter. Er ist reduziert und klar ausgestattet. Glaswände beziehungsweise Raumteiler fördern die Kommunikation unter den Kollegen. Ein breites Fensterband zieht sich um die Nordwestecke; ein eigener Zugang zum Verwaltungstrakt liegt in der Westfassade.

Der spannungsreichste Raum, der Auftaktraum, liegt links vom Foyer. Er steckt mittig im Gebäude, reicht über vier Ebenen und hat zwei Funktionen. Seine gebäudehohen, strahlendweiß und feinkörnig verputzten Wände werden als Projektionsflächen genutzt und so Teil des Ausstellungsbereichs. Vor allem aber dient er als Verteilerfläche, und spätestens hier erkennt der Besucher die Auswirkungen des terrassierten Baukörpers auf die innere Organisation: Es gibt keine konventionell übereinander gestapelten Stockwerke, sondern versetzte Halbetagen nach dem Split-Level-Prinzip. Der Auftaktraum lässt wegen seiner Höhe Sichtbeziehungen in alle vier öffentlich zugänglichen Ebenen des Ausstellungshauses zu und verknüpft dadurch auch die verschiedenen Inhalte der insgesamt 1.600 Quadratmeter Ausstellungsflächen miteinander. Trotzdem haben diese durch eine klare Zonierung ein Eigenleben, sodass unterschiedliche Themenbereiche aufgebaut werden konnten. Die kleinen, wie liegende Schießscharten wirkenden Fenster des Ausstellungsbereichs auf der Ebene -1 lassen nur diffuses Licht ein. Die Ausstellungsflächen auf den Ebenen -1 und -2 beherbergen die dauerhaft eingerichteten Themenbereiche. Die von Holzer Kobler Architekturen und hürlimann+lepp konzipierte Ausstellung ist entlang einzelner Buchstaben und Begriffe aus dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm organisiert.
Wendet man sich von der Ebene 0 mit dem Eingangsbereich nach oben, gelangt man auf die am höchsten gelegene Ebene E1 mit 400 Quadratmetern für wechselnde Sonderausstellungen, deren Decke mit weißen Lamellen verkleidet ist. Im Gegensatz zu dem fensterlosen Raum ist der benachbarte Bereich für die Museumspädagogik mit einem Panoramafenster ausgestattet – und wieder dem privilegierten Blick nach Süden.

Die Weginszenierung des Auf und Ab durch den gestaffelten Park, über die Treppe, weiter über die Terrasse und wieder hinunter setzt sich im Gebäude fort – ganz im Sinne eines Hauses, das mit und nicht nur in seiner Umgebung bestehen will. Und eines Ausstellungshauses, das nicht nur Inhalte vorzeigen, sondern sie spielerisch vermitteln möchte, dabei seine Besucher als Mitmacher begreift und ihnen dazu einen so ästhetischen wie facettenreichen Rahmen bietet.

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