12/01/2023

Kurze Leseempfehlung für die neue „Studie Grazer Wohnbau 2021“, abrufbar unter untenstehendem Link.

12/01/2023

(screenshot, Studie Grazer Wohnbau 2021)

Bereits im Sommer 2022 war anlässlich einer Veranstaltung zum Thema „Modelle für ein zukunftsfähiges Wohnen“ im HdA von der Grazer Vizebürgermeisterin Judith Schwentner eine Studie angekündigt worden, die die Entwicklungen rund um den Grazer Wohnungsmarkt kritisch hinterfragt.

Knapp vor Weihnachten wurde der Bericht nun veröffentlicht – und um es gleich zu verraten, tatsächlich schockiert diese Studie weniger aufgrund ihrer Inhalte, die als mehr oder weniger diffuse Kritikpunkte bereits in fast jedem Fachgespräch thematisiert wurden: Die Sprengkraft liegt in der faktenbasierten Bestätigung, der Sammlung, Sichtung und Zusammenführung einer ungeheuren Datenmenge, und der trockenen und schonungslosen Niederschrift der aktuellen Zustände rund um den Wohnungsneubau und am Wohnungsmarkt in Graz.

Raumplaner Günther Rettensteiner (regionalis), Infrastruktur-Finanzexpertin Franziska Winkler (Projekt- und Unternehmensfinanzierung) und Soziologe Rainer Rosegger (Agentur SCAN) wurden als interdisziplinäres Forschungsteam im Frühjahr 2021 (ja, noch unter der „alten“ Stadtregierung) seitens der Grazer Stadtplanung beauftragt, „Defizite aufzuzeigen und daraus Handlungsentwicklungen für die beteiligten Ämter der Stadt, aber auch für die Gesetzgebung abzuleiten“.

Die quantitative Analyse der Zahlen wurden mit qualitativer Forschung (u.a. Einzelinterviews, Fokusgruppen, Case Studies) trianguliert, nicht nur, um Fehlinterpretationen auszuschließen, sondern auch, weil valide statistische Daten fehlen oder aus Datenschutzgründen nicht zugänglich sind.
Die beinahe 200 Seiten umfassende Studie beginnt nach Klärung von Intention und Vorgangsweise mit einer umfassenden Gegenüberstellung des Wohnungsangebots und der Bevölkerungsentwicklung zwischen 2015 - 2021, Fazit (Achtung Spoileralarm?): Hier stimmt etwas grundlegend nicht mehr zusammen.

Extrem dicht gepackt ist der zweite Teil, der sich mit den Sozioökonomischen Aspekten des Grazer Wohnungsmarktes auseinandersetzt. Hier wird den meisten LeserInnen schmerzlich bewusst werden, wie viel volkswirtschaftliches Wissen man eigentlich bräuchte, um die Konstrukte der aktuellen Immobilienwirtschaft auch nur einigermaßen durchzublicken.
Im dritten Teil folgen Case-Studies über Projekt-Entwicklung und Wohnumfeldqualität: Fünf Grazer Wohnbauprojekte der letzten fünf Jahre wurden stellvertretend ausgewählt, um ein Bild der diversen Entwicklungen zu zeigen. Entstehung, Finanzierung, Intention, Wettbewerb, Umsetzung, Besiedelung – die umfassenden Portraits von Q7 (Reininghaus), dem Margarete-Hoffer-Platz, dem Sternäckerweg, dem Eggenberger Gürtel und dem Brauquartier lesen sich besser als jeder Krimi, und sind enorm aufschlussreich. Sie belegen, wie viel in der Umsetzungsphase passiert, und wie wenig Beachtung seitens der Verantwortlichen den „kleinen Abstrichen“ wie doppelter Dichte oder Wegfall der Grünräume und Kinderspielplätze geschenkt wird. Die fehlende Evaluierung von Geschosswohnbau und dementsprechende Sanktionierung von „Qualitätsminderungen“ wird in einigen dargestellten Projektbeispielen so augenscheinlich, dass es sie in den folgenden Handlungsempfehlungen eigentlich gar nicht mehr gebraucht hätte.

„Die Stadt ist gefordert, den Investoren und Bauträgern noch stärkere und klarere Vorgaben zu machen, diese auch konsequent zu kontrollieren und auch zu sanktionieren.“

Die Instrumente in Form von Gesetzen sind da, man müsste sie nur konsequent verfolgen, bzw. nicht immer klein beigeben, nur weil etwas „beim Machen halt so geworden ist“.
Wobei die Studienautoren auf eine für das Grazer Baugeschehen besonders relevante Gesetzesvorgabe hinweisen, die eigentlich gerade geändert wurde.

Aus:
„Auf die Ausschöpfung der für Baugebiete im Flächenwidmungsplan festgesetzten höchstzulässigen Bebauungsdichte besteht ein Rechtsanspruch, sofern nicht ein Bebauungsplan oder die Belange des Straßen-, Orts- oder Landschaftsbildes entgegenstehen.“
wurde im aktuellen Steiermärkischen Baugesetz:
„Sofern ein Bebauungsplan oder die Belange des Straßen-, Orts- oder Landschaftsbildes dem nicht entgegenstehen, darf die für Baugebiete im Flächenwidmungsplan festgesetzte höchstzulässige Bebauungsdichte ausgeschöpft werden.“

Das muss nicht kommentiert werden, oder?
Eben sowenig wie die plakative Gegenüberstellung von Renderings und tatsächlichem Zustand der case studies – auch hierzu muss nichts gesagt werden.
Dass Quartiersentwicklung bislang in Graz großteils nur ein – wenn auch vollmundiges – allseitiges Lippenbekenntnis ist, ruft dieses vage Gefühl von „Gewohntem, Unabänderlichem“ hervor, wenn man in der Studie nicht gleichzeitig Beispiele wie Tübingen oder – von mir aus – auch Wien gezeigt bekäme: Warum und wie funktioniert das dort?
Die Interventionen, die in den Handlungsempfehlungen genannt werden, sind derart selbstverständlich und logisch, dass man sich ohnehin nur wundert, dass sie nicht schon längst zum Standardrepertoire gehören.

Es gilt nun, die unter und hinter den Bauentwicklungen liegenden strukturellen Problematiken anzugehen. Diese Fragen bleiben vorerst offen: Wie konnte es so weit kommen, was fehlt (in) der Grazer Regierung, der Stadtverwaltung, der Baubehörde, warum agiert man hier so vorsichtig, um nicht zu sagen verunsichert?
Eine Antwort auf diese Fragen könnte man eventuell bei der Lektüre von Otto Hochreiters Beitrag in der ebenfalls neu erschienenen Graz-Biografie finden, aber das ist eine andere Geschichte ...

Eine mögliche hilfreiche Andeutung findet sich auf S. 143 der Studie, die auf den Seiten der Stadt Graz und in der Infobox dieses Artikels als PDF-Download abrufbar ist.

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