12/07/2019

Filmpalast – 09

Filmkritik

Wilhelm Hengstler zu

Das Haus am Meer von Robert Guédiguian, Frankreich, 2017, 107 min.

Ein Wiedersehen für drei Geschwister

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12/07/2019

Das Haus am Meer. Bild: siehe Link > uncut.at

Das Haus am Meer

Im Filmpalast wurde zuletzt ein immer strengeres Programm gespielt, mit Das Haus am Meer von Robert Guédiguian kommt zur Wiedergutmachung leichtere Kost ins Programm. Der Plot ist klassisch um nicht zu sagen alt: Ein Mann erleidet auf seinem Balkon über dem Meer in einer idyllischen Bucht nördlich von Marseille einen Schlaganfall, bleibt aber bis zum letzten Bild, obwohl stumm und reglos, präsent. Diesmal streiten die Erben ausnahmsweise nicht über das materielle sondern eher über das ideelle bzw. politische Erbe. Der Vater, ehemals linker Landwirt und Restaurantbesitzer, provoziert  die persönliche und politische Selbsterforschung seiner Kinder, deren Katharsis und schließlich Happy End. Die politische Parabel, getarnt als Idylle. Leichte Kost also, Sommerkino, aber was für eines! Statt des Dolby-Stereo-Getöses der Blockbuster herrscht ein noch mächtigerer Sound: das unablässig rauschende Meer. Und statt der gesättigten Farben eines Smartphones wird das Setting – Hafen, Steilküste, Macchia – perfekt, aber eben in ungesättigten Farben gezeigt. Die Bilder von Robert Guédiguian und seinem Kameramann Pierre Millon sind keine Reklame für die Wirklichkeit, eher eine für utopische Vergangenheit, in der Nachhaltigkeit auch ein Prinzip des Zusammenlebens.
Der jüngere Bruder Armand (Gerard Meylan) sieht es als seine Pflicht an, das Restaurant des Vaters (einfache Gerichte zu erschwinglichen Preisen) weiterzuführen. Joseph, der intellektuelle Bruder (Jean-Pierre Darroussin), einst gefeierter Gewerkschafter, dann gefeuerter Manager hat seine junge Freundin dabei, die Beziehung scheint „aus Altersgründen“ auszulaufen. Und Angele (Ariane Ascoride), eine Schauspielerin, hat vor 20 Jahren ihre Tochter durch ein Unglück verloren, das sie seither ihrem Vater und vor allem sich selber anlastet. Wie diese Schauspieler individuelle Rollen zu einem Panorama politischer Haltungen zusammenfügen ist bemerkenswert. Das Haus mit seinem geschwungenen Balkon (“der Brosche“ ) über dem Meer und dem menschenleeren Ort wird nicht nur zum Laboratorium für Gesellschaftspolitik, sondern auch zur stimmungsvollen Freiluftbühne: Aus der Meeresbucht nahe Marseille ist ein tschechowscher Kirschgarten, aus den trauernden Erben – sie trauern um den darniederliegenden Vater, um versäumte Gelegenheiten und um verlorene Ideale – sind Tschechowfiguren geworden. Obwohl Joseph sein Versagen hinter ironischen Bemerkungen verbirgt, macht er manchmal  auch das Richtige – beispielsweise wenn er den Flüchtlingskindern, die sich krampfhaft an den Händen halten, die beiden anderen Hände zusammenführt, um das Ankleiden zu ermöglichen.
Da sind dann noch die alten Freunde und Mieter von nebenan, Philemon und Baucis, mit einem erfolgreichen und fürsorglichen Sohn. Der Sohn will nicht begreifen, dass seinen Eltern ihre Würde wichtiger ist, als seine gut gemeinte Unterstützung, sie gehen fast glücklich Hand in Hand in den Tod. Danach will der Sohn sein Labor der niedrigeren Sozialkosten wegen nach London transferieren und dort wird ihn wohl die Freundin des Gewerkschafters besuchen. Sie joggt und macht immer wieder Vorschläge, wie man mehr aus dem Restaurant herausholen könnte.
Die tollste Figur ist ein junger Fischer, der die viel ältere Schauspielerin Angele inbrünstig liebt, seit er sie als Brechts Guter Mensch von Sezuan im Kino gesehen hat. Nun ist sie da und wie dieser von Liebe und Theaterbegeisterung hell durchströmten Fischer die Schauspielerin ungestüm bedrängt ist von anarchischer Komik und shakespearehafter Klassik. Angele ist fassungslos, halb lachend, halb verärgert und willigt schließlich gerührt ein. Dass aus diesem Happy End nichts werden könnte ohne die Hartnäckigkeit des Fischers kann auch als Kommentar zur #tagmeto-Debatte gesehen werden.
Trotz aller Theaterbezüge, trotz der Naturbühne von Mejean Calanque, trotz der reichen Shakspearezitate ist Das Haus am Meer  kein Theaterfilm. Eher sind die vielen ineinander verwobenen Themen von einem Theater-, besser einem Tschechowgefühl durchtränkt: Verlust politischer Aufbruchsstimmung, Angst vor dem Neuen, Ende der Bescheidenheit, Krankheit und Tod.
Eine nicht mehr gültige Vergangenheit heilt schließlich die Gegenwart: Die Schauspielerin verzeiht sich und den Brüdern den Tod ihrer Tochter, eine Beziehung geht auseinander, andere werden eingegangen. Und wenn die Geschwister sich dreier Flüchtlingskinder annehmen, füllen sie nicht nur eine Leere, sie erfüllen auch die Ideale ihres Vaters und leisten einen kleinen Akt des Widerstands. Robert Guédiguian und seine Schauspieler zeigen, dass die Gefühle wie Liebe, Solidarität, Bescheidenheit mit der Maximierung der Lebensverhältnisse schwer vereinbar sind. Der vom Schlaganfall gezeichnete aber immer noch wirkmächtige Restaurantbetreiber gibt gewissermaßen ein Bild der Sozialdemokratie ab, die freilich mehr Schlaganfälle hinter sich hat. In einer traumhaften Rückblende sieht man ein lange zurückliegendes Weihnachtsfest, bei dem es nur einen Weihnachtsbaum in der Mitte des Ortes für alle Kinder gab. Mittlerweile ist der Ort menschenleer, aufgekauft von unsichtbaren Spekulanten. Linke Utopien aus der Vergangenheit haben kaum mehr Chancen gegen die neoliberale Gegenwart. Am Ende dreht der völlig weggetretene Vater auf seiner Terrasse leicht den Kopf nach den Rufen der Flüchtlingskinder im Off.
Unter seiner realistischen Oberfläche ist Das Haus am Meer eine politische Parabel. Und Joseph sagt einmal, dass einen vor dem Abgrund nur Humor davor rette, hinunterzuspringen.

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