07/06/2019

Filmpalast – 08

Filmkritik

Wilhelm Hengstler zu

Ayka von Sergei Dvortsevoy, 2018, 100 min.

und

High Life von Claire Denis, 2018, 110 min.

Zwei cineastisch raffinierte Autorenfilme für Unerschrockene

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07/06/2019

Filmpalast – Sujet der Kolumne

©: Wilhelm Hengstler

AYKA – Plakat auf uncut.at

HIGH LIFE – Plakat auf uncut.at

Eine Regel besagt, dass man besser nicht zwei Geschichten auf einmal erzählt. Gelegentlich zwingt die Massierung bemerkenswerter Filme aber zu einem Bruch dieser Regel, deshalb werden in diesem Filmpalast zwei Filme präsentiert. Ayka von Sergei Dvortsevoy und High Live von Claire Denis, dabei könnten diese zwei Filme kaum unterschiedlicher sein. Ayka ist der Prototyp eines dokumentarisch orientierten Kinos, eine postsowjetische Variante des italienischen Neoverismo; High Live repräsentiert in seiner cineastischen Individualität und literarischen Raffinesse ein postmodernes Autorenkino. Gemeinsam ist beiden Filmen, dass sie definitiv keine „Feel Good Movies“ sind.

Ayka von Sergei Dvortsevoy
Ayka die junge Kirgsin, ist illegal nach Moskau gekommen und irrt nun durch einen tagelangen Schneesturm auf der Suche nach Arbeit in diesem abweisenden Stadtmoloch umher. Aber dieser Satz ist schon zu deskriptiv für diesen Film, der in keinem Off-Satz, in keinem Dialog, in keinem Bild eine Andeutung über den dramaturgischen oder erzählerischen „Sinn“ der gerade gezeigten Details preisgibt. Von einer Sozialreportage unterscheidet sich der Spielfilm Ayka nur darin, dass er genauer als jeder Wirklichkeitsreport ist. Aber gerade seine pure, dabei meisterhafte Inszenierung legt die in ihr eigebetteten Themen frei. Wenn Ayka aus der Entbindungsstation hinaus in das vom Schneesturm verfinsterte Moskau flieht, ist das eine Paraphrase auf all die Filme, in denen jemand (vergeblich) sein Glück in der Großstadt sucht. Ayka flieht, um ihre Arbeit – Rupfen und Ausweiden von Hühnern im Akkord  – nicht zu verlieren. Am  Ende wird der Arbeitgeber allerdings verschwinden und die Frauen um 14 Tage Lohn prellen.
Ayka will sich selbst verwirklichen, nicht als Mutter von vier Kindern enden, aber sie bleibt Gefangene des zurückgelassenen Kindes, ihr eigener Körper wird zum Feind, wenn sie zwischendurch auf schmutzigen Toiletten ihre Nachblutungen zu stillen oder die Milch aus ihren Brüsten zu pressen sucht. Anspielungen auf die verhasste Frucht ihres Leibes begleiten sie auf ihrer Irrfahrt, etwa wenn sie den Job einer Leidensgenossin, deren Kind erkrankt ist, in einem Tierheim übernimmt oder einer verletzten Hündin hilft, ihre Welpen zu säugen. in dem Terror der Handyanrufe, in den schrecklichen Drohungen der Schuldeneintreiber wird der Kern unzähliger Thriller sichtbar.
Der durch den Schnee wankenden Ayka fehlt die Kraft, sich zu empören, nur zwei, drei mal attackiert sie vergeblich eine Konkurrentin, die ihr die Arbeit gestohlen hat – aber auch diese Kämpfe verliert sie. In den rechtlosen Arbeits- und Lebensverhältnissen der kirgisischen Immigranten, unter dem Druck einer korrupten Polizei, im partiellen Zerfall des Staates zeigt sich ein in seiner Banalität unterkühlter Neoliberalismus. Auch die Schwester will nicht helfen, wird darüber hinaus zu einer Belastung, da die Erpresser drohen, auch sie zu foltern, um an Geld zu gelangen.
Nicht nur die knapp an der Protagonistin geführte Handkamera von Jolanta Dylewska erinnert an Rosetta, mit der die Brüder Dardenne 1999 die Goldene Palme in Cannes gewonnen haben und berühmt geworden sind. Auch Rosetta ist ein Mädchen, das verzweifelt bis zur Selbstaufgabe um eine Arbeit kämpft. Die historische „Fallhöhe“ zwischen den beiden Filmen zeigt sich allerdings darin, dass es Rosetta um eine “ordentliche“ Arbeit (mit Sozialversicherung, etc) geht, während Ayka nur mehr irgendeine Arbeit, egal welche, will. Samal Yeslyamova spielt pathoslos ein nur auf Überleben reduziertes Geschöpf, ständig am Rand des Zusammenbruchs, dabei völlig ohne Selbstmitleid. Sie hat für diese Rolle 2018 in Cannes verdientermaßen den Preis für die beste Darstellerin bekommen. Am Ende könnte sich Ayka aus der tödlichen Schuldenfalle befreien, wenn sie ihren mafiösen Gläubigern das Kind überließe. Den ganzen Film über hat sie dieses abwesende Kind – die Folge einer Vergewaltigung – gehasst. Aber auf der irrationalen Flucht vor der Übergabe muss sie das Baby stillen, damit dessen Weinen sie nicht ihren schrecklichen Gläubigern verrät. Sie sitzt in einem Treppenhaus in der eigenen Falle, weil sie ihr Baby nicht aufgeben kann, was wahrscheinlich ihren Tod, zumindest das Ende ihres Lebensentwurfs bedeutet. Aber der Regisseur Dvortsevoy bedient sich keines befreienden, humanistischen Pathos. Auf das Gesicht Aykas und ihren wissenden, leeren Blick, der auch zum Blick des Betrachters wird, schneidet er Schwarzfilm.

High Life von Claire Denis
Die berühmte, radikale Autorenfilmerin Claire Denis erzählt von Todeskanditaten und Lebenslänglichen, die sich durch den Weltraum zu einem Schwarzen Loch schicken lassen, um der Menschheit neue Energiequellen zu erschließen. High Life ist also ein SF-Film, eine beunruhigende Dystopie um genauer zu sein, mit den Kriminellen eingeschlossen im Raumschiff allerdings auch ein Gefängnisfilm. Es ist charakteristisch für Claire Denis alle möglichen Genres – Horror-, Legionärs- oder Afrikafilm – aufzugreifen, diese aber mit cineastischer Raffinesse derart vertrackt zu erzählen, dass  etwas völlig Neues und meist sehr Beunruhigendes dabei herauskommt. Sie tarnt ihre Filme zwar als Erzählkino, aber mit ihrer Sensibilität für alles Körperliche, den elliptischen Dialogen und das Aufbrechen der Zeitgeraden wird die Storyline nachgiebig, schwer lesbar. Ihre Filme gewinnen eine über „die  Handlung“ hinausweisende Bedeutung und werden immer wieder zu einem Kino der reinen Bilder. Verstärkt durch die Musik von Stuart A. Staples, Mastermind und Sänger der Tindersticks schichtet Claire Denis Atmosphären übereinander, die gleichzeitig voller Geheimnisse und voller Versprechen sind. Sich auf  einen Film von Claire Denis einzulassen ist vergleichbar mit der Erforschung des Weltraums in einem Selbst.
High Life beginnt im leeren Raumschiff, Raumanzüge in der Garderobe verweisen auf die fehlende Crew, Blutspuren an den Wänden lassen gewaltsame Auseinandersetzungen vermuten. Nur ein Überlebender, Monte, kümmert sich hingebungsvoll um das Baby „Willow“. Dass Robert Pattinson, der englische Star der Twilight-Filme, derart ausgedehnte Sequenzen mit einem Kleinkind teilt, ist ein sanfter Schock, der durch die Bilder eines Gartens von paradiesischen Üppigkeit noch verstärkt wird.
Tatsächlich entsorgt Monte alsbald die Leichen der Crew in die Schwärze des Alls, nachdem er ihnen zuvor ihre Raumanzüge angelegt hat – ein archaisch anmutendes Ritual, passend zu Wänden in schweren Rottönen, die biblische Assoziationen wecken. In Rückblenden, von denen manche visuell an Solaris von Tarkowski oder 2001 von Kubrick, erinnern, wird klar, dass die Mannschaft neben ihrer eigentlichen Mission auch als Versuchskaninchen für genetische Experimente diente. In einem klinischen Ritual geben die Männer ihr Spermen an Dr. Dibs (Juliette Binoches) ab, die damit die weiblichen Straffälligen ohne viel Aussicht auf Erfolg besamt. Juliette Binoche ist ebenfalls eine Verurteilte, die – man muss schon sagen furchtlos – mit langen schwarzen Haaren die "Sex-Hexe" genannte Hohepriesterin der Experimente spielt. Direkter sexueller Kontakt ist der Besatzung verboten, zur hormonellen Entlastung gibt es eine Fuck Box, in der auch Juliette Binoche einen beklemmenden Ritt auf dem Dildo-Stuhl absolviert. Nur Monte, der Einsiedler, verzichtet darauf, die Box aufzusuchen. In einer Schlüsselszene nimmt Dr. Dibs den Samen des schlafenden Monte in sich auf, um dann sein Ejakulat in der Hocke mit den hohlen Händen aufzufangen – eine beinah groteske Besessenheit von Körperflüssigkeiten. Dabei lassen das Labor, all das Blut, das Gold und Rot in den Bildern an Claire Denis berüchtigten Vampirfilm Trouble Every Day denken. Und einmal robbt die ganze  Besatzung wie in einer Hommage an Denis Claires Fremdenlegionärsfilm Beau Travail einen Gang entlang. Wie in Gefängnisfilmen üblich, sind die Delikte der Insassen zwar ein Thema, werden aber wie bei Claire Denis nicht anders zu erwarten, äußerst rudimentär präsentiert. Dr. Dibs ist straffällig, weil sie ihre Kinder und ihren Mann umgebracht hat; Monte, der von einem Hund aufgezogen wurde, hat ein Mädchen eines Hundes wegen getötet. Es kommt wie es kommen muss, im Zug der Vergewaltigung eines Mädchens kommt es zu den ersten Opfern. Bald danach bekommt Dr. Dibs, die ein Mädchen gegen dessen Willen besamt hat, von der unfreiwilligen Mutter eins mit dem Spaten übergezogen. Dann sind alle bis auf Monte weg, dem Dr. Dibs vor ihrem Tod noch gesagt hat,  dass Willow seine Tochter ist. Monte agiert als eine Art Heiliger oder Prophet, zwar nicht gesalbt, aber dafür mit "guten Genen“ ausgestattet, die vielleicht das heilige Ritual ersetzen. Das erste Wort, das Monte seine Tochter lehrt ist „Tabu“ und dazu passt auch, dass zwischen diesen letzten Menschen – ein Pendant zu Adam und Eva? – zuletzt ein Inzest angedeutet wird. Die Bilder von Monte und Willow, als sie in das Schwarze Loch eintauchen, sind abstrakter und eleganter als Kubricks Biedermeierende von 2001 Odyssee im Weltraum. Und all das prunkvolle Gold und schwere Rot beschwört biblische Anklänge. Wird da Philosophie als SF auf der Leinwand abgehandelt? Oder eine heidnische Magie der Gegenwart?

High Life
ist nicht zu fassen. Während Ayka schmucklos die Wirklichkeit als Alptraum schildert, bietet der fiktive Alptraum von High Life größtmögliche Verstörung. Beides cineastisch raffinierte Autorenfilme für Unerschrockene. 

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