28/11/2018
Filmpalast – 03


Filmkritik

Wilhelm Hengstler verweist auf zwei empfehlenswerte Filme:

Ex Libris – Die Library von New York
von Frederick Wiseman
USA, 2017, 197 min.

Glücklich wie Lazzaro 
von Alice Rohrwacher
Itaien, 2018, 125 min.

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28/11/2018

Ex Libris – Die Library von New York, von Frederick Wiseman. Bild > uncut.at

Glücklich wie Lazzaro von Alice Rohrwacher. Bild > uncut.at

Vom Faustkeil zur Kinoapp
Peter Kubelka, Mitbegründer des Österreichischen Filmmuseums und Avantgardelegende hat die Kinokarte einmal als Faustkeil bezeichnet, mit dem ein Film „erlegt“ wird. Damals waren das noch gemütliche Treibjagden, ein Film wurde durchgehend mindestens eine Woche lang halb 3, halb 5, halb 7 und halb 9 gezeigt. Seither ist diese Treibjagd zu einer Art Ego-Shooterjagd geworden, in der manche Filme ebenso jäh auftauchen wie verschwinden. Besonders Filme jenseits des Mainstreams werden zu unterschiedlichen Anfangszeiten, mal in diesem, mal in jenem Kino, gespielt und oft abgesetzt, um dann Tage oder Wochen später nach undurchschaubaren Optimierungsstrategien doch noch einmal ins Programm genommen zu werden. Man bräuchte eine Kinoapp, um auf dem Laufenden zu bleiben, die unsichtbare Hand des Marktes erweist sich wieder einmal weniger ordnend, als Chaos stiftend.
Das Konzept von Filmpalast besteht darin, auf solche viel zu wenig beachteten Filme auifmerksam zu machen. Zur Sicherheit wird diesmal gleich auf zwei Filme verwiesen, damit ein Leser mit etwas Glück wenigstens einen zu sehen bekommt.

Ex Libris – Die Library von New York
Große Werke wie Dantes Divina Commedia oder Melvilles Moby Dick verbindet, dass sie sich bei aller Welthaltigkeit nur schwer nacherzählen lassen. Nach der Lektüre weiß man mehr, aber was eigentlich? Die „story line“ lässt sich, eben wie das ganze Leben selbst, nicht in einer Nacherzählung kondensieren. Für den Film finden sich solche Beispiele schwerer, aber Frederick Wisemans Ex Libris – The New York Public Library (2017) gehört dazu. Der Film der 88jährigen, amerikanischen Dokumentarfilmlegende hat nichts mit PR für die berühmte Bibliothek und schon gar nichts mit Bildungsfernsehen zu schaffen. 
Die Bibliothek mit ihren Zweigstellen wird hier nicht als bloßer Aufbewahrungsort für Bücher gesehen, sie ist vor allem ein Ort der Wissensvermittlung und dient als solcher letztlich dem Ausgleich von Ungleichheit. Der Satz „Bibliotheken sind die Säulen der Demokratie“ umschreibt dieses viel umfassendere Bibliotheksverständnis. Immer wieder fragen sich die Mitarbeiter der Bibliothek „Was müssen die Leute wissen“, und dieser Frage folgend, bieten sie Hilfe für den Zugang zu Ämtern ebenso an wie Computerkurse, wägen den Erwerb „selbstlaufender“ Bestseller gegen die Archivierung nachhaltigerer Literatur ab oder debattieren, wie mit den Obdachlosen umzugehen ist. Die Mitarbeiter der Bibliothek zeigen diese amerikanische Mischung aus naiven Engagement und Klugheit, die man in Bezug auf die USA schon fast verdrängt hat. Nach diesem Film fällt es einem leichter Amerika trotz Trump wieder zu mögen.
Die New York Public Library wird vor allem als Vehikel für die inklusive beziehungsweise digital inklusive Stadt gesehen, und das macht Wisemans Film für Architekten noch einmal besonders interessant. In den unterschiedlichen Programmen der Bibliothek, unter ihren Gästen und Benutzern schwärmt u.a. ein Feuerwehrmann. Im Rahmen einer Jobvermittlung von seinem Beruf, demonstriert eine Gebärdensprecherin wie ein Auszug aus Jeffersons Unabhängigkeitserklärung mal kämpferisch, dann flehend vorgetragen wird, will Elvis Costello auch nach ihrem Tod nichts Gutes über Margret Thatcher sagen, analysiert ein Lesekreis Marquez Die Liebe in Zeiten der Cholera, trainieren Jugendliche Vorstellungsgespräche, beschweren sich  Afroamerikaner, dass der der Verlag MacGrawhill in einem Lehrbuch die Sklaven noch bis vor kurzem als „Einwanderer“ beschrieb, bringt eine Blinde einer anderen die Brailleschrift bei, zieht ein Soziologe Querverbindungen zwischen George Fitzhugh, einem Verteidiger der Sklaverei, und Karl Marx, usw., usw. „Wissenschaft ist die Poesie der Realität“ heißt es irgendwo, und Wiseman macht diese Poesie lebendig. Sein „Direct C’inema“ stellt keine Fragen, bietet keinen Kommentar oder eine Off-Stimme, dafür bringt Wiseman enorme Geduld für seine Protagonisten auf, die von dem Kameramann John Davey unauffällig aber exzellent ins Licht gesetzt werden. Am Ende ist der Zuseher mit vielen der Akteure regelrecht vertraut. Der Film Die New York Public Library ist keine New Yorker Angelegenheit, schon die Debatte  über die Verbindung von öffentlicher mit privater Förderung ist auch jenseits des Atlantik relevant.
Aber Wisemans Film ist mehr als ein audiovisuelles Kompendium für Architekten, Kulturpolitiker, Bibliothekare oder Soziologen. Wahrscheinlich ist nur ein greiser, mit viel Geduld, Erfahrung und Menschenliebe ausgestatteter Regisseur wie Wiseman imstande. die Bestandsaufnahme einer Bibliothek in einen enzyklopädischen und dabei humanen Blick auf die menschliche Zivilisation zu verwandeln. Die unübersehbar vielen, unterschiedlichen Sequenzen seines Films fügen sich am Ende zu einer der anfangs erwähnten großen Menschheitserzählungen. Bedauerlich, dass dieser bedeutende Film bisher nur gelegentlich und zu eher unmöglichen Zeiten gezeigt wurde. Gerade in Zeiten des gefährdeten Buches wäre ein kulturpolitischer “Ruck“, eine Wiederaufnahme und breite Diskussion von Wisemans Ex Libris - The New York Public Library nötig.
… Der Film wird am Donnerstag, den 6.12. um 15 Uhr im KIZ Royale gespielt.

Glücklich wie Lazzaro 
von Alice Rohrwacher. Die Regisseurin beschreibt eine Dystopie, eine gesellschadftliche Utopie, wie sie in den kritischeren Sechzigern und Siebzigern häufig waren: etwa Truffauts Fahrenheit 491, Godards Weekend, oder Claude Faraldos Themroc. Gegenwärtig nehmen sich vor allen Filmemacher aus dem ökonomisch schwachen europäischen Süden, insbesondere dem krisengeschüttelten Griechenland dieses Genres an. Im Mainstream für Jugendliche boomen Dystopien dagegen in eskapistischen Sagas wie Die Tribute von Panem.
Der Film Rohrwachers beschreibt die anachronistische Schuldknechtschaft einer Handvoll Landarbeiter auf der Tabakpflanzung der Marquesa Alfonsina de Luna, an der alle sozialen Errungenschaften des 20.Jahrhunderts vorbeigegangen sind. Alles scheint wie aus der Zeit gefallen. Der technische Stand entspricht in etwa den Fünfzigerjahren und die Arbeiter in ihrer feudalen Schuldknechtschaft nützen ihrerseits Lazzaro aus – großartig der Laienschauspieler Adriano Tardiolo in seiner ersten Rolle. Lazzaro, von dem unklar bleibt, ob er durch und durch rein, oder schon blödsinnig ist, schaut lange und redet wenig. Er wartet ab, um am Ende meistens zu schweigen, denn um zu reden müsste er etwas wollen.
Alle sind aus ihrer Zeit gefallen, die Arbeiter der Marchesa genau so wie sie selber und ihr Sohn, der mit der unschuldigen Hilfe Lazzaros seine eigene Entführung inszeniert, wenn sie nicht gerade gemeinsam den Wölfen zuheulen. In diesem archaischen Setting inszeniert Alice Rohrwacher ähnlich wie Pasolini volkstümliche und religiöse Motive mit dokumentarischer Einfachheit und beschwört damit ein ärmeres aber vielleicht besseres Zeitalter. Lazzaro, auf den aus dem Grab zurückgekehrten Lazarus anspielend, steht für die radikalste Form der Ungleichzeitigkeit. Aber Rohrwacher spannt den Bogen ihres beiläurfig heiteren Films weit über den Feudalismus hinaus. Ironischerweise ist es ausgerechnert der Vertreter der Polizei auf der Suche nach dem Sohn der Marchesa, der die Landbevölkerung über ihre sozialen Rechte aufklärt und damit einen Skandal und Zeitenwandel einleitet. Die Landarbeiter haben nur nicht viel davon, weil sie die industrielle Phase überspringen und gleich im Prekariat landen. Lazzaro der schon zuvor von einem Bergkamm stürzt und allem Anschein nach zu Tode kommt, kriegt davon nichts mit. Von einem Wolf wieder zum Leben erweckt, macht er sich auf die Suche nach dem Sohn der Marchesa seinem Freund. Dabei trifft er auf Reste der alten Gemeinschaft, die nun – grimmiger Scherz – unter viel erbärmlicheren Bedingungen lebt. Die Marquesa ist verstorben, ihr Sohn ein verarmter, liebenswürdiger Hochstapler. Als Lazzaro ihm in der Bank zu einem Kredit verthelfen will, wird er erst für einen Bankräuber gehalten, um dann nach Aufklärung des Irrtums von den zuvor furchtsamen Kunden erschlagen zu werden. Die Landarbeiter machen sich – letzte Phase der Moderne – auf den Weg zurück zur aufgelassenen Tabakplantage. In der letzten Einstellung trabt ein Wolf gegen einen dichten Verkehrsstrom die Straße entlang: Als das ultimative Wilde bildet er gemeinsam mit dem Widergänger Lazzaro, die aus der Zeit gefallene Antithese zur gegenwärtigen Zivilisation. Alice Rohrwachers Bilder, ihre dichte Textur aus Laien und professionellen Schauspielern, bietet keine Bestätigung oder gar Reklame für die Welt an wie sie (angeblich) ist. Vielmehr werden die Betrachter getestet, inwieweit sie sich noch auf die erträumten oder erinnerten Bilder, auf vergessenes Wissen um Tiere und Pflanzen, einlassen können. Glücklich wie Lazzaro zeichnet eine Rückkehr zu den Märchen und Mythen, die uns im Kino immer häufiger ausgetrieben werden.

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