28/08/2018

Experimentierfeld Wohnen

Die Genossenschaftsszene in Zürich.
Kleine Wohngenossenschaften verwiklichen die Prinzipien Selbstzweck, Selbstverantwortung und Solidarität.

Eine Nachschau von Elisabeth Anderl im Mai 2018

Siehe auch Links unten.

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28/08/2018

Kraftwerk1, Zürich-Hartholz. Bauherr: Bau- und Wohngenossenschaft 'Kraftwerk1', fertiggestellt: 2001

Architektur: Stücheli Architekten mit Bünzli Courvoisier©: Elisabeth Anderl

Kalkbreite, Zürich. Bauherr: 'Genossenschaft Kalkbreite', fertiggestellt: 2014. Zugang zum Innenhof

©: Elisabeth Anderl

Kalkbreite, Zürich. Innenhof

©: Elisabeth Anderl

Kalkbreite, Zürich. Remiseneinfahrt

©: Elisabeth Anderl

Huntzikerareal, Zürich-Örlikon. Bauherr: Genossenschaft 'mehr als wohnen', 2015

©: Elisabeth Anderl

Zugang

©: Elisabeth Anderl

Zentrum

©: Elisabeth Anderl

Gemeinschaftsgarten

©: Elisabeth Anderl

Übersichtsplan

©: Elisabeth Anderl

Gewerbe und Allmendplan an der Genossenschaftsstraße

©: Elisabeth Anderl

Anscheinend stagniert der Wohnbau in der Steiermark auf mehr oder weniger hohem Niveau. Diskutiert wird beinahe ausschließlich die Leistbarkeit und soziale Treffsicherheit sowie die Erreichung smarter und nachhaltiger Ziele. Aber wo sind, neben den dominierenden Überlegungen zu quantitativen und qualitativen Reduktionen zwecks Kostensenkung, die Demonstrativprojekte und Feldversuche zu neuen Wohnweisen und Organisationsformen? Sind die Funktionsprogramme und Grundrisskonfigurationen der in den letzten Jahrzehnten gebauten Wohnungen so elastisch, dass sie den gesellschaftlichen Veränderungen entsprechen? Wie soll Neues entstehen, wenn es keine Experimente gibt? Zürich zeigt auf wie, vorerst kleine private Initiativen Antworten geben.

Wohnbaupolitik Stadt Zürich
Der Stadtrat von Zürich hat das Innovationspotenzial privater Baugruppen, die sich genossenschaftlich organisieren, erkannt und unterstützt ihre Selbstermächtigung. Diese Gruppen haben der Genossenschaftsbewegung durch die Neugründung von Haus- und Wohn(bau)genossenschaften seit den 1980er Jahren neuen Schwung verliehen, die Bewegung wieder neu belebt. Unter der Ägide junger alternativer Genossenschaften entstanden vorbildliche Demonstrativ- und Leuchtturmprojekte wie das dreick (ab 1996), karthago (ab 1991), Kraftwerk1 in Zürich-Hartholz (ab 1998) .
Die Geschichte offenbart, dass dieser Prozess auch in Zürich nicht von heute auf morgen ging, denn erst nach dem anfänglich harschen Vorgehen gegen die Demonstranten und Hausbesetzer in den 1980er Jahren schlug die Stadtregierung, gefordert durch das Platzen der Immobilienblase Anfang der 1990er Jahre, einen vermittelnden Ton an. Sie unterstützte die jungen Initiativen als Mediator bei der Grundstückssuche und mittels sozialer Finanzstiftungen bei der Vorfinanzierung.
Die Erfahrungen aus den Aufbaujahren fließen heute in breit aufgestellte Beteiligungsverfahren, funktionsgemischte Wohnprojekte und –quartiere ein, die die soziale Kohäsion durch die wiederentdeckte nachbarschaftliche Gemeinschaft verstärken wollen.
Wie stark Zürich auf die Wiederbelebung der Genossenschaftsbewegung setzt, zeigt das Vorhaben des Stadtrats, den momentanen, schweizweit höchsten Genossenschaftswohnungsanteil von 25% aller Wohnungen bis zum Jahr 2050 auf 33% zu steigern. Die Gemeinde hofft, durch den Entzug von einem Drittel der Wohnungen aus dem Spekulationsmarkt und einer lebendigen Durchmischung der Wohnquartiere, einer Entsolidarisierung der Bevölkerung entgegenzuwirken. Gerade für eine solidarische Gemeinschaft sind die jungen Genossenschaften Experimentierfelder und Wohnlabor, wenn sie Unterstützer, Nachbarn und zukünftige Bewohner von Beginn an in den Entstehungsprozess einbeziehen. Die so entwickelten neuen Wohnformen, Groß-WG’s, Clusterwohnungen (Verbund mehrerer Kleinwohnungen) und flächenreduzierten Wohnungen mit Gemeinschaftsräumen eröffnen einem Klientel neben der „Standard-Familie“ neue Perspektiven.
In Zürich dauerte es beinahe 30 Jahre, bis der Weg von der Totalkonfrontation mit der Hausbesetzerszene über das politische Entgegenkommen in den 1990er und 2000er Jahren zu einem kooperativen Miteinander ab den späten 2000er Jahren gefunden wurde. Derzeitige Höhepunkte dieser Kooperation sind die Kalkbreite (2008-2015), eine mit einem multifunktionalem Wohngebäude überbaute, städtische Straßenbahnremise und die Meta-Genossenschaft mehr als wohnen, die am Huntzikerareal in Zürich-Örlikon ein kommunikatives Demonstrativ-Quartier (2015) errichtete. Die beiden Projekte unterscheiden sich in Lage, Größe und Organisation.

Kalkbreite
Die Genossenschaft Kalkbreite entstand aus einem breitgefächerten Bürgerbeteiligungsprozess zur Gebietsentwicklung um die gleichnamige Remise und den Bahnhof Wiedikon in Kooperation mit der Stadt, die die Remise erneuerte und der neu gegründeten Genossenschaft ein Baurecht zur Um- und Überbauung einrichtete. So generierten die Genossenschaft Kalkbreite und das Architekturbüro Müller Sigrist öffentliche Freiräume für die Nachbarschaft am Dach der Remise und am Fuß des Zugangs zum Innenhof sowie zahlreiche Geschäfts- und Gastrolokale sowie ein Kino in den unteren drei Geschoßen. Die Wohnbebauung beginnt auf Höhe des Innenhofs am Dach der Remise. Neben einer Großwohngemeinschaft mit 20 Wohneinheiten und einer gemeinsamen, professionell bewirtschafteten Großküche, gibt es noch ca. 55 gestaffelte Wohneinheiten und eine kleine Pension. Nachhaltigkeit durch energieeffiziente Gestaltung und Ausführung und reduzierter Flächenverbrauch pro Person gehörten für die Junggenossenschaft zu den obersten Zielen. Daher verpflichten sich die Genossenschaftsmitglieder den persönlichen Flächenverbrauch auf 32,6 m2 / Person zu beschränken, andernfalls stimmen sie einem Wohnungswechsel innerhalb der Anlage zu. (s. auch Dokumentation weiter unten)

Huntzikerareal
Mit dem 2015 fertiggestellten Projekt auf dem Huntzikerareal initiierte die Stadtregierung den nächsten Entwicklungsschritt, die Errichtung eines lebendigen Stadtquartiers. Die Genossenschaft mehr als wohnen ist eine Meta-Genossenschaft, die zum 100 jährigen Bestehen der ersten Züricher Wohngenossenschaft gegründet wurde. Mehr als 60 Alt- und Junggenossenschaften brachten auf Initiative der Stadt Zürich Erfahrung und neue Ideen ein. Ein kooperativ entwickelter, durch Allmende geformter lebendiger Stadtteil sollte in Zürich-Örlikon, einem nördlichen Industrie- und Gewerbebezirk entstehen. Den städtebaulichen Wettbewerb gewannen die Arbeitsgemeinschaft aus Duplex Architekten und Futurafrosch mit einer kleinteilig gegliederten Bebauung aus tiefen Baukörpern, die sich durch heterogene Freiräume, schmale Passagen und kleine Plätze von den benachbarten Wohnprojekten unterscheidet. Die an der Umsetzung beteiligten Architekturbüros Duplex, Futurafrosch, Miroslav Sik, Müller Sigrist Architekten und Pool Architekten erarbeiteten ein gemeinsames Gestaltungkonzept, das als Klammer für die unterschiedlichen Haus- und Wohnungstypen wirkt.
Der gemeinschaftliche Zusammenhalt über die Hausgemeinschaften hinaus wird durch öffentliche Einrichtungen, Allmendräume (Gemeinschaftsräume) für verschiedene Nachbarschaftsgruppen und wiederum Clusterwohnungen für weniger stetige Bewohner betont. Die Mehrzahl der Wohnungen sind hier jedoch Familienwohnungen, was der Umgebung und weniger zentralen Lage entspricht. Das Quartier ist weitgehend autofrei und wird durch eine zentrale Tiefgarage versorgt. Ein Mix aus öffentlichen und privaten Nutzungen der Erdgeschoßzonen fördert das öffentliche Leben zwischen den Häusern.

Mehrwert
Eine aussagekräftige Evaluierung steht noch aus, es ist also noch offen, wieweit die städtischen Einrichtungen und die vielfältigen Allmendräume über die Häusergrenzen hinweg die Kraft entwickeln, das Quartier zu beleben und die Nachbarschaft einzubeziehen. Bekannt ist aber, dass die Identifikation mit der überschaubaren Haus- oder Wohngemeinschaft die soziale Verantwortung und den sorgsamen Umgang mit dem gemeinsamen Gut fördert. Verstärkt wird diese Verbundenheit noch durch die gemeinnützigen Genossenschaftsprinzipien Selbstzweck, Selbstverantwortung und Solidarität. Durch den Entzug der Wohnungen vom Spekulationsmarkt, die garantierte Kostenmiete und den geringen Grundstückszins, der oft im Baurecht vergebene Grundstücke.

Seit 2016 ist auch in Österreich etwas Bewegung in die Genossenschaftsszene gekommen, mit der WoGen wurde eine Wohnprojekte-Genossenschaft gegründet und eines ihrer ersten Projekte wird zur Zeit in unserer Nachbarschaft umgesetzt: die Siedlung KooWo Volkerdorf in der Nähe von Graz. Eine Initiative, der ich viel Erfolg wünsche.

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