09/08/2015

10 Begeh(gn)ungen der unheimlichen Art.

Zur Terrassenhaussiedlung Graz-St. Peter.

Folge 1

Architektur: Werkgruppe Graz

Planung: 1965
Umsetzung: 1972 – 1978

522 Wohnungen mit unterschiedlichen Wohnungstypen: Terrassenwohnungen, Maisonetten, Atelier-Einheiten, Dachterrassen-Wohnungen; Sammelgarage für 550 PKW mit Waschplätzen, Fahrradabstellraum, Müllraum; einer Kommunikationsebene im 4. OG und öffentlichen Dachterrassen, Kindergarten, überdachten Spielbereichen und Spielplätzen.

09/08/2015

Terrassenhaussiedlung Graz-St. Peter, Werkgruppe Graz, 1978. Ansicht vom Wohnbau Carl-Spitzweg-Gasse, Volker Giencke, 1993.

Architektur: WERKGRUPPE GRAZ©: Karin Wallmüller
©: Eugen Gross

Rupert Sumpfhuber beschloss, seine oststeirische Heimat zu verlassen und in die Stadt zu ziehen. „Stadtluft macht frei“, daran erinnerte er sich, und Freiheit schätzte er sehr. So sehr er das Landleben an der frischen Luft genoss, fühlte er sich von Feld und Garten umgeben nicht frei. Mit jedem Blick erspähte er im Wechsel der Jahreszeiten eine Aufforderung, Hand anzulegen und seinen engen Lebensraum nicht der Wildnis anheim fallen zu lassen. Selbst das kleine Kellerstöckl war von Espen, Brombeerranken, Efeu und wildem Wein derart umkreist, dass man immer ein Buschmesser zur Abwehr bereithalten musste. Zugegebenermaßen war die Sehnsucht nach Stadtkultur auch eine Sehnsucht nach Müßigkeit, zu der er sich Zeit seines Lebens entgegen seinem Gewissen aufraffen musste. Die Entscheidung, in die Stadt zu ziehen, beruhte daher auf Überwindung, was eine gute Voraussetzung zu sein schien.

Als nächstliegende Stadt bot sich Graz an. Sie ist klein genug, um im Bermuda Dreieck nicht verloren zu gehen, und groß genug, um auf der Fahrt mit der modernsten Straßenbahn vom Hauptplatz zum Jakominiplatz großstädtisches Feeling wie in der Oxford Street in London zu erleben. Und das pannonische Klima greift mit großer Geste von der ungarischen Puszta her in das Grazer Becken mit seinem aufragenden Schlossberg hinein, wobei nicht auszuschließen ist, dort im Herbst von einem herunterprasselnden Kastanienregen des Bewusstseins beraubt zu werden.

Das Versprechen der ersehnten Freiheit verdankte er den Radfahrern, über die in den Zeitungen regelmäßig berichtet wurde. Lässt schon das kolportierte who is who unter den Fahrradfahrern, beginnend mit Stadtpolitikern und höchsten Beamten, die Brust vor Selbstbewusstsein anschwellen, so ist die unumschränkte Bewegungsfreiheit mit einem Zweirad (dasselbe gilt für Einräder und Dreiräder) der größte Anreiz. Fahrradfahrer dürfen in Graz auf Straßen in und gegen die Fahrtrichtung in die Pedale treten, Parks auf den Wegen und den Grünflächen durchqueren, über Rampen und Lifte entsprechender Größe alle Höhenunterschiede überwinden. Dass es dabei zuweilen zu folgenschweren Unfällen kommt, untereinander und mit anderen Verkehrsteilnehmern, nimmt nicht Wunder. Es sollen sogar schon Strafmandate verteilt worden sein, die als gentlemen-agreement mit der Stadt Graz bereitwillig bezahlt werden. Dass verunfallte Fahrradfahrer im Landeskrankenhaus bevorzugt behandelt werden, ist nur angemessen, nur wenn sie als Komatrinker entlarvt werden, wird ihnen das Fahrrad für einige Zeit abgenommen und an einen Laternenpfahl im Stadtgebiet gefesselt. Zahlreiche solcher Fahrräder, die teils verwachsen irgendwo in der Stadt aufzufinden sind, zeugen von dieser Seuche. Würde heute Johann Gottfried Seume auf seinem Spaziergang nach Syrakus nochmals in Graz vorbeikommen, würde er diese Vorkommnisse sicher ihres Seltenheitswertes wegen in seine Annalen aufnehmen.

Rupert Sumpfhuber also nahm den Zug nach Graz, die aus dem benachbarten Niederösterreich kommende Ostbahn, und traf am schönsten Bahnhof von Graz, dem in Backstein stilvoll erhaltenen Relikt aus der Gründerzeit, dem Ostbahnhof, ein. Er war fest entschlossen, sich auf die Suche nach einem geeigneten Haus zu machen. Der positive Eindruck der Ankunft verstärkte sein Begehren, auch in der Auswahl seines Wunschobjektes anspruchsvoll zu sein.

Schon im Zug hatte er einen grundlegenden Entschluss gefasst: sein Haus müsse einen Hausnamen und eine Hausnummer haben, wie er es von zu Hause gewohnt war. Das gäbe ihm Vertrauen und Sicherheit. Gesichtslose Häuser, die beides nicht verdienten, schloss er aus.
 Schließlich hatte er wichtige Erfahrungen mitgebracht: Wenn ihn jemand in seinem Heimatort suchte, fand er ihn unter dem Hausnamen Köpfler. Dieser hatte seit jeher die Nummer 55. Wenn nun der Briefträger einen an ihn, Rupert Sumpfhuber, adressierten Brief zustellen wollte, hatte dieser die Reihenfolge der Nummernvergabe durch die Gemeinde im Kopf und stellte den Brief auf Nr. 145 zu. Da es keine Straßennamen und keine örtliche Zuordnung gibt, konnte nur die zeitliche herangezogen werden. Der Köpfler hatte das Glück, ein Dachbodenfenster in seinem Stöckl ausbrechen zu müssen, worauf die Gemeinde ihm auf Ansuchen eine Baugenehmigung mit einem Bescheid an die Nummer 145 erteilte, eben in der korrekten Reihenfolge der Bauansuchen. Auf diese Weise war er doppelt abgesichert und für die Suche in seiner neuen zukünftigen Umgebung auch gerüstet.

In Graz angekommen, erkundigte er sich nach dem Zentrum, zu dem ihm ein Einheimischer den Weg wies. Dem Wunsch, als Erstes zum Orientieren eine Rundfahrt durch die Stadt zu machen, stand jedoch entgegen, dass die einzige Rundfahrt-Straßenbahn, der legendäre 2er, schon vor etlichen Jahren aufgelassen wurde, wie ihm ein älterer Herr erklärte. Dafür stoben vom Jakominiplatz, der ins Stadtzentrum verlegten Remise, zahlreiche Straßenbahnen und Busse als rollende Litfasssäulen (Herr Litfaß hätte sich im Grabe aufgesetzt) in alle Richtungen auseinander, von wo sie nach einiger Zeit wie Bumerangs wieder an diesem Punkt zusammentreffen, womit es zu einer heillosen Verwirrung kommt. Als Schaffner verkleidete Polizisten sind jederzeit einsatzbereit, um Raufhändel unter den Platzbesuchern zu schlichten.
Man empfahl dem Köpfler, in den Südosten der Stadt zu fahren, da dort die Häuser wie Schwammerl aus dem Boden geschossen seien und ein MINIMUNDUS zu bewundern sei.

Rupert Sumpfhuber folgte der Empfehlung und fuhr gegen Süden, zuerst mit der Straßenbahn, dann mit einem Bus weiter. Interessiert blickte er aus dem Fenster und bemerkte, dass an den Stationen jeweils Straßennamen ausgerufen werden, die offensichtlich den Fahrgästen vertraut sind. Aufmerksam aber wurde der Stadtbesucher jedoch, als plötzlich ein Hausname im Lautsprecher angekündigt wurde, genannt Terrassenhaussiedlung. Er hatte nicht lange Überlegenszeit und stieg aus. Da stand nun ein eine ganze, offensichtlich bewohnte Hügelkette vor ihm, bei der übereinander getürmt flache Häuser, massive Felsunterkünfte und lockere Hochsitze zu erkennen waren. Anscheinend ist es ein brüchiges Kalkgestein, da aus zahlreichen Felsspalten Sträucher und Bäume herauswuchsen, die die teils steilen Wände überziehen. Der Eindruck war erschütternd, aber dennoch reizvoll, womit Rupert – er pflegte feste, gebirgsgängige Schuhe zu tragen – sich umgehend vornahm, das Gebirge zu besteigen und von oben in das Tal zu blicken, das sich zwischen den felsigen Zügen auftat.

Am Fuße einer leichten Steigung, die zur Lockerung der Muskeln für die weitere Besteigung dient, erblickte zur vollen Befriedigung ein Hausnummernschild, das nicht zu übersehen war: jedoch wies es 30 Hausnummern auf, jede aus einer Zahl und einem Buchstaben bestehend. Dieser Umstand erschien ihm etwas übertrieben an administrativer Akribie, abgesehen von der Überschätzung der Belastbarkeit der Bewohner, die nicht einmal eine leicht merkbare Ziffernsumme bilden können, wie er es zu seinem Vorteil mit 10 bei seinen eigenen beiden Hausnummern im Dörfl kann.
Ungeachtet dieser leichten Irritation folgte er eilig zuströmenden Bewohnern auf die Fußgängerebene, von der ein schöner Rundblick auf die künstliche Landschaft, mit Durchblick bis zu einer offenbar verlassener Burgruine (die sich später als Ziegelbrennofen herausstellte), gegeben ist. Zahlreiche Leute tummelten sich um ein Wasserbecken, in dem Kinder planschten, und einige improvisierte Marktstände boten ihre Waren an. Schlendernd über den Platz, unter dessen großen, schattenspendenden Bäumen einladende Bänke stehen, nahm sich Rupert Sumpfhuber vor, Bewohner anzusprechen, um sie über die Erfüllung ihrer Wohnbedürfnisse zu befragen.
 
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Der Steingärtner / Der Glückspielerberater / Die Heilmutter / Der Hausmeister / Der Private ... lesen Sie in Folge 3

... und was sich der Köpfler dann gedacht hat.

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