01/08/2017

Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

01/08/2017
©: Karin Tschavgova

Warum der Flaneur den Kopf schüttelt

In einer Stadt wie Graz, die von Jahr zu Jahr von mehr Touristen erobert wird, müsste der Flaneur in der Hochsaison auswandern oder gar zu Hause bleiben. Seine Zeit beginnt erst, wenn sie wieder weg sind, die aus den Bussen Quellenden und in Rudeln die Innenstadt in Beschlag Nehmenden (neuerdings auch vermehrt Japaner, oder sind’s Südkoreaner?)
Was aber, wenn den Flaneur sommerliche Hitzetage befeuern, wenn er (oder sie) zur Glückseligkeit des Flanierens Sonne und Wärme auf der Haut braucht, oder blaue Himmel (ja, Mehrzahl), den sicher sommerlich beschwingteren Gang von Mädchen in leichten Kleidern, das freundliche Lächeln der Gleichgesinnten, die den Sommer auch in der Stadt jeder anderen Jahreszeit vorziehen?
Der Flaneur sucht sich dann ruhigere Gassen und Ecken der Stadt aus, meidet die touristischen Hotspots und ändert seine Gewohnheiten ansonsten gar nicht. Kein Änderungsbedarf. Er (oder sie) geht los. Zielloses Gehen, linear zwar, aber mit kreisenden Gedanken, die von einem Blick, von einer winzigen Beobachtung ausgelöst werden. Im Gehen nehme ich Unzusammenhängendes wahr und stelle – nein, es stellen sich – spontane Zusammenhänge her. Es muss der Rhythmus sein, der sich einstellt beim Gehen, dass schauen, gehen, wahrnehmen und denken in der Bewegung gleichzeitig geht, selbst für die nicht Multitasking-Fähigen. Ohne eine Art der Konzentration, mehr eine innere Sammlung, gelingt das Flanieren nicht. Daher geht der Flaneur am liebsten ungehindert von Parkplatz suchenden, im Kreis fahrenden Autos und Verkehrslärm, verortet im Stadtraum, den er mit all seinen Grenzen als Raum wahrnimmt. Menschengewurle mag er, sie prägt das Wesen der Stadt, seiner Stadt. Er nimmt alles wie in einem Fluss auf, rhythmischer Gehfluss, aber übersieht dabei die alte Bekannte auf der anderen Straßenseite.
Was ihm auffällt, sind nicht die neuesten Filialen der großen Modeketten in der Herrengasse, nicht einmal die Fahnen, die aktuelle Stadt-Events ankündigen, fallen in sein Auge (von diesen erfährt er beim kurzen morgendlichen Querlesen des Regionalblattes), nein, es sind die kleinen Abweichungen, die seine Aufmerksamkeit finden. Und die kleinen Besonderheiten, die es schaffen, inmitten des Stadtgetriebes fast unerkannt zu bleiben.
Der Marillenbaum hinter der Mauer des Bischöflichen Residenz in der Schlossergasse, der nur dann, wenn ein gutes Marillenjahr ist und seine Früchte prall und leuchtend orange die Äste über die Mauer biegen, das Geheimnis seiner Existenz in einem Jahrhunderte altem Obst- und Gemüsegarten inmitten des Stadtzentrums für kurze Zeit sichtbar macht. Oder das kleine Hutgeschäft, das sich dem hastig Vorbeieilenden nicht einmal dann in die Erinnerung brennen wird, wenn es einmal nicht mehr da ist. Was war denn da hinter diesem Portal?
Die Stempfergasse – sie ist das, was ich Straßenraum nenne, aufgeladen durch ihre Krümmung, die verhindert, dass der Blick vor der Zeit in die Ferne, zum Herrengassenende schweift. Eine Idealgasse für das Flanieren, bestens geeignet für das immer wiederkehrende Entdecken von Neuem in der ewigen Wiederholung einer Wegstrecke, die man geht. Eine Gasse, gerade so breit, dass sie sich anbietet, sie in ihren verschiedenen Höhenniveaus wahrzunehmen. Die Ladenzone, die immer anders gestalteten Fassaden der oberen Geschoße, die immer volle Straßenterrasse der Institution Frankowitsch ….
Und jetzt das: Was für eine Verschlimmbesserung im Zuge der längst fällig gewesenen Sanierung der Pflasterung der Fußgängerzonen, die den unschönen Anblick eines des Weltkulturerbes unwürdigen Flickenteppichs aus Beton- oder Natursteinen mit notdürftig in Asphalt ausgegossenen Fehlstellen beenden sollte. Im auf mehrere Jahre angelegten Sanierungsprogramm des Stadtplanungsamtes sollten Betonsteine wieder durch Beton, nur länger haltbaren, stärkeren Steinen auf besserer Unterlage, sollten Natursteine wieder durch ebensolche ersetzt werden. Alles gleich, nur schöner, etwa durch eine Änderung des Farbtones, muss sich der Projektleiter, Erneuerung umfassend wörtlich nehmend, gedacht haben. Und hat anstelle des grauen Stainzer Hartgneis, landläufig bekannt als Stainzerplatte, der in seiner lebendigen Struktur meist nur wenig rötlich gezeichnet ist, einen rostroten Stein angeordnet. Der sieht jetzt schon, als neu verlegter, alt und schmuddlig aus. Rostrote Schlieren ziehen sich durch die hellen Fugen, die zur geneigten Mitte hin im Anschluss an das andere Material auch viel zu breit sind. Unschön, das Ganze.
Vergegenwärtigt sich der Flaneur, der Gleichschritt und Contenance kurzzeitig zu verlieren droht angesichts dieses neuen Flickenteppichs, im freien Gedankenflug den letzten Besuch in Ljubljana vor wenigen Wochen, dann fällt ihm ein, dass dort jeder neugestaltete Pfad, jede schmale Gasse, jeder Platz (nicht nur der Kongressplatz) auf eine schön-zurückhaltende Weise mit Pflastersteinen belegt ist, ganz selbstverständlich und unaufgeregt, aber mit offensichtlich stilsicherer Materialkenntnis und großer Design- und Detailgenauigkeit.
Den Flaneur wird dieser Fauxpas nicht abhalten, wieder und wieder durch die Stempfergasse zu wandern, nur ab jetzt eben als Hans-guck-in-die-Luft. Wundern wird er sich noch lange über das Grazer Flickenteppichkonzept, in dem auch jede Gasse anders designt werden musste. Wer ihm (oder ihr) begegnet, möge sich nichts dabei denken, wenn er ihn (oder sie) kopfschüttelnd durch die Gassen flanieren sieht. Das darf ein Flaneur – ist doch die Stadt sein Wohnzimmer.

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