05/02/2006
05/02/2006

Gerrit Confurius

sonnTAGs-Geschichten zum Thema: Architektur denken.
Teil 1: Was Architektur-Zeitschriften nicht zeigen.
Ein Plädoyer für das Beiläufige von Gerrit Confurius

Tragen Architektur-Zeitschriften ihren Namen zurecht? Was sie zeigen, ist das die Architektur? Man wird schnell feststellen, dass sie gerade das nicht tun.
Was sie vielmehr zeigen, ist eine am Bekanntheitsgrad der Architekten orientierte Auswahl aus dem, was neu gebaut wird. Diese Neubauten werden im Moment der Fertigstellung abfotografiert, der kaum einige Tage währt, wobei darauf geachtet wird, dass weder Menschen noch Autos noch störende Umgebung mit im Bild sind und möglichst gutes oder zumindest fotogenes Wetter herrscht. Bei ihrer Beschreibung kommt es darauf an, den Neubau in der Architekturgeschichte zu situieren, mit Vorgängern in Verbindung zu bringen und mögliche Vorbilder zu suchen. Architektur kommt demnach nur als Neuheit in Betracht, als aus dem räumlichen, sozialen und zeitlichen Kontext herausgelöstes Einzelstück, als Kandidat für den Kanon der Geschichte der Architektur als Kunst: als Anwärter auf den Platz im imaginären Museum der Kunstgeschichte.
Wenn Architektur-Zeitschriften von Architektur ohne so weitgehende Einschränkungen und so entwirklichende Akzentuierungen handelten, müsste es stattdessen um größere Einheiten gehen wie die Straße, das Viertel, die Stadt, die Stadterweiterung, und die Aufmerksamkeit dürfte sich nicht auf den für das Leben eines Gebäudes untypischen Moment seiner Fertigstellung kaprizieren. Vielmehr müsste die Inbesitznahme durch die Bewohner, die Überprüfung seiner Eignung, die Geschichte der Veränderungen, Anpassungen, der Umnutzungen im Mittelpunkt stehen. Die Lebensgeschichte eines Gebäudes beginnt eigentlich erst, nachdem die Gerüste abmontiert, das Gebäude dem Bewohner übergeben und von den Bewohnern oder Angestellten bezogen wurde. Das Gebäude ist die Partitur für eine Aufführung, die dann erst noch stattfinden muss. Daneben gilt es, die Vorgeschichte des Entwurfs im Kopf der Architekten und auf dem Papier wie auf den Computer-Bildschirmen zu dokumentieren oder zu rekapitulieren, diesen rätselhaften hermeneutischen Prozess der Relativierung von Aufgaben, technischen Standards, Formvorstellungen, Assoziationen, Erinnerungen, Alltagstheorien, Utopien.
Architektur-Zeitschriften kreisen um das, was auffiel. Und sie helfen dem Auffälligen nach. Architektur ist aber vor allem das, was nicht auffällt. Woran wir vorbeigehen, was wir links liegen lassen, weil wir mit etwas anderem beschäftigt sind, mit dem Verkehr, mit einer Verabredung, mit einer Arbeit, mit Freude oder Ärger, mit anderen oder mit uns selbst. Wenn uns alle Architektur auffiele, könnten wir unser Alltagspensum nicht schaffen. Architektur wird aus gutem Grund, wie das Walter Benjamin prägnant formulierte, unbewusst und beiläufig wahrgenommen: „in der Zerstreuung und durch das Kollektivum“. (1) Die Rezeption erfolgt taktil durch Gebrauch und optisch durch Wahrnehmung. Und zwar in beiden Fällen weniger „auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit ... weniger in einem gespannten Aufmerken als in beiläufigem Bemerken“. Architektur bleibt eingebunden in eine alltägliche lebensweltliche Situation. Sie vermag in „unsichtbarer“ Selbstverständlichkeit ihre Aufgabe am besten zu erfüllen, wenn man sie dabei nicht stört, indem man sie angafft und über sie redet.
Dies Beiläufige findet eine amüsante Darstellung bei Robert Musil, wenn er über das Denkmal schreibt: „Denkmale haben außer der Eigenschaft, dass man nicht weiß, ob man Denkmale oder Denkmäler sagen soll, noch allerhand Eigenheiten. Die wichtigste davon ist ein wenig widerspruchsvoll; das Auffallendste an Denkmälern ist nämlich, dass man sie nicht bemerkt. Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler. Sie werden doch zweifellos aufgestellt, um gesehen zu werden, ja geradezu, um die Aufmerksamkeit zu erregen; aber gleichzeitig sind sie durch irgendetwas gegen Aufmerksamkeit imprägniert, und diese rinnt wie Wassertropfen-auf-Ölbezug-artig an ihnen ab, ohne auch nur einen Augenblick stehen zu bleiben. Man kann monatelang eine Straße gehen, man wird jede Hausnummer, jede Auslagenscheibe, jeden Schutzmann am Weg kennen, und es wird einem nicht entgehen, wenn ein Zehnpfennigstück auf dem Gehsteig liegt; aber man wäre bestimmt überrascht zu erfahren, dass man täglich an einem Denkmal vorübergeht ... Es geht vielen Menschen selbst mit überlebensgroßen Standbildern so. Man muss ihnen täglich ausweichen oder kann ihren Sockel als Schutzinsel benutzen, man bedient sich ihrer als Kompass oder Distanzmesser, wenn man ihrem wohl bekannten Platz zustrebt, man empfindet sie gleich einem Baum als Teil der Straßenkulisse und würde augenblicklich verwirrt stehen bleiben, wenn sie eines Tags fehlen sollten: aber man sieht sie nie an und besitzt gewöhnlich nicht die leiseste Ahnung davon, wen sie darstellen ... Man kann nicht sagen, wir bemerken sie nicht; man müsste sagen, sie entmerken uns, sie entziehen sich unseren Sinnen: es ist eine durchaus positive, zur Tätlichkeit neigende Eigenschaft von ihnen!“
Musil folgerte ironisch, „auch Denkmale sollten sich heute, wie wir es alle tun müssen, etwas mehr anstrengen! Ruhig am Wege stehen und sich Blicke schenken lassen, könnte jeder; wir dürfen heute von einem Monument mehr verlangen“. Um in eine Architektur-Zeitschrift hineinzugelangen, ja! Sonst aber gilt, dass man auf die Unsichtbarkeit der meisten Dinge, die uns zuverlässig umgeben, nicht verzichten kann. Dass wir uns nicht allen Gegenständen der Umwelt, mit denen wir hantieren oder die uns potenziell zur Hand sind, mit gleicher Intensität unserer Aufmerksamkeit zuwenden können, dass wir geradezu darauf angewiesen sind, einen Teil von ihnen jeweils auszublenden. Es gilt also, ihnen ihre Unscheinbarkeit zu belassen, damit wir uns anderen, wichtigeren Dingen zuwenden können.
Architektur gehört aller hysterischen Aufregung zum Trotz zu den Selbstverständlichkeiten der Alltagswelt. Über das Selbstverständliche kann man nicht reden, weil es dann nicht mehr das Selbstverständliche wäre. Man kann aber darüber reden, warum wir dieses Selbstverständliche brauchen, wie etwas selbstverständlich wird oder gemacht wird.
Architektur wäre als kulturell kodiertes Alltagsphänomen erster Ordnung zu würdigen Sie konkretisiert unsere Alltagswelt, indem sie überall ist und immer schon da ist. Sie ist nicht wegzudenken. Sie umgibt uns, ist Bühne unserer Dramen, Kulisse unseres Alltagslebens, Infrastruktur unserer Interaktionen. Sie ist das Öffentlichste und ragt zugleich bis in die vermeintlich von Gesellschaft freien Räume unserer Privatsphäre hinein. Sie verleiht unseren Biografien Konsistenz. Sie tragt wesentlich dazu bei, die Konstruiertheit der Lebensentwürfe und sozialen Strukturen vergessen zu machen, so dass wir nicht nur sie selbst, sondern mit ihr auch alles übrige sozial Konstituierte und darum eigentlich Kontingente, auch ganz anders Mögliche, wie selbstverständlich empfinden, als könnte es gar nicht anders sein und sei es ohne unser Zutun so eingerichtet.
Architektur macht alles, was uns umgibt, was zur Ausstattung des Alltags gehört, zur zweiten Natur. Dinge, wiederkehrende Umstände, Begebenheiten, alles, was einem vertrauten Muster gehorcht. Was ungewohnt oder überraschend ist, wird eingebaut, wie ein Einbauschrank. Wenn Architektur etwas mit Wissen zu tun hat, dann am allerwenigsten mit Wissen im strengen Sinne überprüfter Hypothesen oder der exakten wissenschaftlichen Erkenntnis. Das die Architektur konstituierende „Wissen“ ist zum weitaus größten Teil eher Halbwissen, Unterstellung, Vorurteil; es besteht aus durch Gewohnheit verfestigten Annahmen, all dem, was geeignet ist, das Überraschungspotenzial des Wissenshorizonts zu begrenzen, zu domestizieren.
Wir brauchen die Architektur bei unseren Bemühungen, die Welt, in die wir — um es existenzialistisch zu formulieren— „geworfen“ sind, zu bewohnen, sie zu einer bewohnbaren zu machen, zu einer Welt, in der wir uns wiederfinden. Alles muss in den Alltag münden, d.h. alles muss sich an der Erzeugung dieser Selbstverständlichkeit beteiligen, der Abdichtung des Konstrukts gegen die Erkenntnis, dass es sich um ein bloßes Konstrukt handelt. Wir brauchen und benutzen Architektur nicht in Form von Einzelstücken als Kunstwerk, sondern in ihrer jeweils relevanten Gesamtheit als Alltagsstabilisator.
Wenn wir diese Funktion von Architektur ernst nähmen, müsste das Hauptinteresse der Fachwelt dem Gros einer unauffälligen Architektur gelten, einer Aufwertung der unscheinbar bleibenden, unaufgeregten Architektur der Nebenstraßen, all dessen, was nicht als Monument oder Star-Architektur aus dem urbanen Ensemble herausragt: dem Gewöhnlichen. Es kann ja nicht sein, dass eine Gesellschaft aus lauter Präsidenten oder eine Monarchie aus lauter Königen besteht, eine Armee kann nicht aus lauter Admirälen bestehen. Es bedarf des Fußvolks, der breiten Masse, aus der einige wenige herausragen, weil sie besondere Aufgaben übernehmen, und auch dies wohlgemerkt im Dienste der Allgemeinheit.
Architektur ist das materielle Substrat und räumlich-konkrete Gegenstück zur Routine. Dieser Begriff umfasst alles, was gewohnheitsmäßig getan wird. Die Routinisierung ist dabei nicht nur eine defizitäre Form von Bewusstheit, sie ist notwendig für die psychologischen Mechanismen, mit deren Hilfe Stabilität, ein Gefühl des Vertrauens oder der Seinsgewissheit aufrechterhalten werden. Die scheinbar unbedeutenden Konventionen des alltäglichen gesellschaftlichen Lebens besitzen eine grundlegende Bedeutung für die Bändigung von unbewussten Spannungsquellen, die sonst den Großteil unseres Lebens im Wachzustand mit Beschlag belegen und die Handlungsfähigkeit blockieren würden.
Die Situierung des Handelns in Raum und Zeit, die Routinisierung der Tätigkeit und der repetitive Charakter des Alltagslebens sind Phänomene, die mit der gleichzeitigen Anwesenheit anderer Individuen verbunden sind. Die soziologische Relevanz von Architektur ist eben hier anzusiedeln, im Prozess der reflexiven Steuerung des im Alltagsleben enthaltenen Stroms von Begegnungen, wobei die gemeinhin vernachlässigte körperliche Präsenz der Interagierenden, Mimik, Gestik, Körperbewegungen und deren Kontrolle in ihrer eminenten Bedeutung zu erkennen wäre. Auch die Schauplätze sind dabei relevant, als Bezugsrahmen für Interaktionen. Akteure beziehen sich fortwährend stillschweigend auf diese Bezugsrahmen, um die Sinnhaftigkeit ihrer kommunikativen Handlungen zu konstituieren. Der wesentlich gegebene Charakter des physischen Milieus des Alltagslebens ist mit den Routinen eng verwoben.
Ästhetik und Kunstbetrachtung, auch Baukunst, sind in diese Routinewirklichkeit eingebettet, als eine eigene und hoch spezialisierte Sinnprovinz. Wenn man ein einzelnes Bauwerk seiner Schönheit wegen bewundert und diese Bewunderung verbalisiert, darf man sich in dem Glauben wiegen, etwas über Architektur zu sagen. Die Konvention verlangt, dass man in dieser Weise über Architektur redet. Niklas Luhmann definierte aufgrund dieser Beobachtung Kunst oder Architektur als das, wie man darüber redet.
Wenn eine Stadt „schön“ genannt wird, dann ist das in Verbindung mit Orten wie Florenz, Rom, Wien, Paris eine gängige Redeweise, aber zugleich auch eine Gedankenlosigkeit. Wenn wir Städte als „Orte ästhetischen Verweilens, als Parkplätze für den Geschmack unserer gebildeten, raffinierten Seelen anschauen, dann bedeutet das, dass wir gar nichts sehen ... Die sogenannte Ästhetik ist nichts anderes als eine weltliche List, um nicht mit der mythischen, gewalttätigen Materie, dem Dionysischen, das ein Objekt behaust, in Berührung zu kommen.“ (2)
Es liege aber bei uns, die Stadt in all ihren Seinsmöglichkeiten zu erleben, in den verschiedenen Lesarten, die sie anregt, in den Mutmaßungen über die Welt, die sie in ihrem Plan aufgenommen hat. Eine Stadt sei immer und vollständig zeitgenössisch. Von ihrer historischen oder kunsthistorischen Dimension kann ich nur im kulturellen und intellektuellen Sinn Gebrauch machen. Gerade in Städten wie Florenz oder Rom, die eine kunsthistorische Betrachtungsweise aufzudrängen scheinen, sei eine Ablehnung der Geschichte für ihre Bewohner lebenswichtig. Die Werkästhetik bekommt in der Stadt, in der man lebt, und sei es auch nur für kurze Zeit und als Gast, etwas Aufdringliches. Sie erwartet von mir dümmliches Staunen, ohne Einwände, ohne andere Interessen. Instinktiv sucht man dann nach nicht so bedeutenden Orten, nach umstrittenen Gegenständen, nach abseits liegenden Welten, scheinbar unbeabsichtigten Formen, nach Fundstücken, deren Finder ich bin, nach nicht so stimmigen Bildern, die teilhaben am Fehlerhaften. Man begibt sich an die Peripherie.
Die touristische Wahrnehmung ist der Produktionsästhetik nachgebildet. Der mehr oder weniger kunstbeflissene Tourist wird von einem singulären Objekt zum anderen geleitet wie der Leser einer Architekturzeitschrift von Neubau zu Neubau. Sein Vorläufer ist der gläubige Pilger, der von Heiligtum zu Heiligtum, von Reliquie zu Reliquie geleitet wird. Hier wie da ist das singuläre Objekt Gegenstand der Anbetung oder der Andacht. Sollten Architektur-Zeitschriften säkulare Spätformen mittelalterlicher Reliquiare sein?
All das wäre nicht weiter schlimm, wenn nicht die Selektivität des in Architektur-Zeitschriften kultivierten Blicks die Architektur selbst affizieren und verbiegen würde Die Unzufriedenheit mit unserer gebauten Umwelt resultiert zu einem guten Teil aus der Aufdringlichkeit der gebauten Objekte, mithin aus ihrem anmaßenden Anspruch auf den Status als Kunst, den sie in den Zeitschriften zugeschrieben bekommt. Sie wollen aus allen Städten eine Art Florenz und aus den Straßen säkulare Pilgerrouten machen. Wobei diese modernen Reliquien nur noch einem Kult des Visuellen dienen.
Alltag freilich ist keine rein visuelle Qualität, sondern ein funktionaler Zusammenhang zwischen den Menschen und ihrer Umwelt, den sie in ihrem Alltagsleben immer wieder herstellen. Architektur wird nur in ihrer Aufführung wirklich. Die Architektur ist die Bühne des Lebens, wie umgekehrt das Leben die realisierende Aufführung der Architektur.
Dieser funktionale Zusammenhang ist gegenwärtig der einer Konsumgesellschaft. Gebrauchsgegenstände sind Konsumartikel. Die Situationisten bewerteten das vom Konsum bestimmte Alltagsleben als geschlossenen Entfremdungszusammenhang, als eine Scheinwelt, deren Scheincharakter kaum noch zu begreifen sei, weil auch die Begriffe selbst Teil dieses Scheins geworden sind. Jener repressiven Regelhaftigkeit und entfremdenden Kohärenz entkommt das Alltagsbewusstsein nur, wenn der Alltag als das Bedeutungslose, Insignifikante, Nichtssagende gelebt wird. Gerade weil der Alltag plattitüdenhaft und banal, gewöhnlich ist, vermag uns unsere Aktivität zurückzubringen zu der Spontaneität unseres Gattungswesens. Der Alltag erscheint als der Ort, wo wir wir selbst sind. Nichts passiert: Dies ist der Alltag.
Der Konsument muss neue Querverbindungen finden, um eine bewohnbare, d.h. bedeutungsvolle Welt aufzubauen. Er behält „die Freiheit der Wahl, indem er neue Akzente setzt und somit den scheinbar bereits volIgeschriebenen funktionalisierten Raum um neue kulturell besetzbare Differenzen erweitert.“ (3) Der Gebrauch von Dingen geht einher mit individuellen Signifikationspraktiken, die die übernommenen Objekte manipulieren und das (geistige) Eigentum des anderen für einen Moment in einen neuen, eigen(ständig)en Ort verwandeln. „Die Formen und die Gründe der Konsumation sind der Ort“, so schreibt John Fiske, „an dem kulturelle Bedeutungen gemacht werden und zirkulieren, das System der Produktion und Verteilung liefert nur die Signifikanten“. (4)
Die Konsumenten, als verkannte Produzenten, Dichter ihrer eigenen Angelegenheiten und stillschweigende „Erfinder eigener Wege durch den Dschungel der funktionalistischen Rationalität“ (de Certeau), produzieren durch ihre Signifikationspraktiken etwas, das die Gestalt des Vorgefundenen behält, aber collagiert und umgewertet ist. In dem technokratisch ausgebauten, voll geschriebenen und funktionalisierten Raum, in dem sie sich bewegen, bilden ihre eigenen Bahnen unvorhersehbare Sätze, zum Teil unlesbare Querverbindungen. Auch wenn sie aus dem Vokabular der gängigen Sprachen gebildet werden, ihrer Grammatik unterworfen bleiben, verweisen sie doch auf andere Interessen und Wünsche, welche mit den Systemen, in denen sie sich entwickeln, nicht identisch sind und die von jenen weder bestimmt noch eingefangen werden können.
Im Sprachgebrauch de Certeaus handelt es sich um „ein Handeln aus Berechnung, das keine Abgrenzung einer Exterritorialität oder Autonomie genießt, das mit dem Terrain fertig werden muss, das ihm vorgegeben wird, ohne Distanz, ohne Rückzugsposition, eine Bewegung innerhalb des Gesichtsfeldes des Feindes, ohne eigene Basis, ohne eigenes Feldlager, von dem es sich einen Überblick verschaffen kann, wo es seine eigenen Gewinne lagern, sie vermehren, Ergebnisse vorhersagen könnte.“
Hierin ist der Benutzer dem Architekten auf eine Weise verwandt, die von der Präsentation in Architektur-Zeitschriften unterschlagen und verdrängt wird. Teilweise wissenschaftlich abgesichertes Wissen, ist die Arbeit des Architekten doch zugleich auch Know-how ohne Systematik, bestehend aus zahllosen, aber wilden praktischen Handlungen. Sie gehorcht nicht dem Gesetz des Diskurses, sondern dem der Produktion: als ingeniöses, komplexes praktisches Wissen. Die Wissenschaften haben im Laufe der Jahrhunderte gewaltige Anstrengungen unternommen, diese immense Reserve von Künsten zu kolonisieren, die sich noch nicht in einer Wissenschaft artikulieren können, die aber schon über die verachteten Praktiken hinaus sind. Und die zur Perfektion gebracht werden können.
Die Versöhnung zwischen Kunst und Wissenschaft sollte der Ingenieur kompensieren, so wie er von Jules Verne idealisiert wurde, als Vermittler zwischen dem Mann der Erfahrung und dem Mann der Theorie. Der Ingenieur wurde zunehmend die Verkörperung all dessen, was vom Know-how des Individuums, von der individuellen Leistungsfähigkeit abgekoppelt werden konnte, um es in Maschinen zu perfektionieren, in technischen Organen des Menschen, während dies bei dem Architekten nicht gelang. Erst mit der Einführung der Computertechnologie ist man hier ein Stück weiter gekommen.
Die Arbeit des Ingenieurs/Architekten hält so bis heute eine Mittelstellung zwischen dem Wissen, das sich in einem technischen Apparat akkumuliert, und solchen Handlungsweisen, die aus der Sicht einer industriellen Rationalität keine Legitimität haben, wie die Alltagskünste der Küche, des Saubermachens, des Nähens etc. Darüber hinaus gibt es „Geschmack“, Bildung und Intuition.
Es handelt sich um ein Wissen, das unbewusst ist, oder ein Unbewusstes, das weiß - wie bei Sigmund Freud das Wissen des Patienten. Der Patient weiß bereits alles, ohne es zu wissen. Das Wissen verrät sich dem, der es zu lesen versteht, in Gesten, Wendungen, Fehlleistungen, Praktiken, vielleicht sogar -Strategien, mit denen das Ich sich selbst, seine eigenen Abwehrleistungen überlistet. Der Architekt ist Patient und Analytiker in einer Person.

1 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, Frankfurt/Main 1974, 5. 504

2 Giorgio Manganelli, Manganelli furioso. Ein Handbuch für unnütze Leidenschaften -
Berlin 1985.

3 Michel de Certeau, Kunst des Handelns. Berlin 1988 Vgl. auch Frank-Bertoit Raith
Das Alltagsleben der Architektur. In: Daidalos 75, Berlin 2000.

4 John Fiske, Lesarten des Populären. Wien 2000.Gerrit Confurius ist 1946 in Lübeck geboren und hat in Hamburg, Wien und München Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte studiert. Dr.phil. mit „Architektur als Ort der Reflexion“. Nach drei Jahren als Redakteur der Bauwelt war Confurius von 1992 bis zur Einstellung 2000 Chefredakteur der im deutschsprachigen Raum einzigartigen Architektur-Zeitschrift daidalos. Seit 2000 lebt er als freier Journalist in Berlin.
Veröffentlichungen:
„Denn alle Lust will Ewigkeit“ gemeinsam mit Isolde Ohlbaum, Greno Verlag, Nördlingen, 1986.
„Sabbionetta oder die schöne Kunst der Stadtgründung“, Hansa Verlag, München, 1984.

Verfasser/in:
ausgewählt von Karin Tschavgova
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16. + 17.11.2023
 
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