27/09/2022

zeitenweise – 22
Kultur oder wtf?

Es wird in letzter Zeit viel über „kulturelle Aneignung“ gesprochen und geschrieben. Dabei ist Aneignung etwas wie Lern- und Überlebensfähigkeit. Zwischen kultureller Aneignung und materieller Aneignung besteht eine große Differenz. Ein Land besitzen zu wollen oder in ein Land fliehen zu müssen oder beispielsweise Dreadlocks zu tragen und Reggae-Musik zu machen, ist ein erheblicher Unterschied.

27/09/2022

"talk to me"

©: Severin Hirsch

Als im März dieses Jahres die deutsche Musikerin Ronja Maltzahn internationale Bekanntheit erlangte, weil sie wegen unpassender Haartracht von einer Fridays-For-Future-Veranstaltung in Hannover ausgeladen wurde, war der Begriff der „kulturellen Aneignung“ in aller Munde und in allen Medien zu finden. Es war nicht der einzige Fall des Jahres, bei dem es als anstößig erachtet wurde, dass weiße Musiker:innen Dreadlocks tragen und deshalb deren Konzerte ausfallen beziehungsweise abgebrochen werden mussten – wegen angeblicher Entrüstung unter dem Publikum.

Vor kurzem keimte eine Debatte über Karl May und seinen Winnetou auf, bei der es um die vereinfachte und (deshalb?) rassistische Darstellungsweise der indigenen Bevölkerung – vor allem – Nordamerikas geht und ob es nicht vernünftiger wäre, diese (Form der) Trivialliteratur zu verbieten. Nebenbei wird dem Autor natürlich auch (geistige) kulturelle Aneignung und Frauenfeindlichkeit und Sexismus vorgeworfen. Dass es sich hierbei um einen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts und einen (selbst)deklarierten Pazifisten und Anti-Rassisten handelt, ist in der Diskussion unerheblich, geht es den kritisierenden Geistern dabei doch vermutlich vielmehr um eine Selbsterhöhung der eigenen Rechtschaffenheit, als um anderen Völkern und Kulturen im Nachhinein Gerechtigkeit für all das zugefügte Leid und die erbarmungslose Ausbeutung widerfahren zu lassen – ganz abgesehen von der materiellen Enteignung.

Selbstverständlich ist es sinnvoll, sich in Zeiten wie diesen Gedanken über einen würdigen Umgang und politisch korrekte Umgangsformen zu machen. Die Sprache als Zugang zum Denken, als allgemeiner Ausdruck individueller Gedanken, als grundlegende Strukturierung der Außen- und Innenwelt spielt dabei – wie immer – eine bedeutende Rolle. Die Sprache ist die Bewußtwerdung des Bewusstseins und (vor allem in Form der Schrift) der Ort des kollektiven Gedächtnisses. Sie ist aber auch gerade weil sie lebendig ist, ein fluides Medium, das NICHT frei von Außeneinflüssen ist. Sie ist Teil der Kultur, individuell und regional verschieden, überregional und allgemein verstehbar und global beeinflusst. Sprache ist Identifikation von Gemeinschaften als Dialekt einer Dialektik mit der allgemeinen Sprache unterworfen. Wörter entstehen und verschwinden, selbst Dialekte und ganze Sprachen – wie auch regionale Rituale und Traditionen. Das ist auch Teil der Sprach- wie auch der Kulturentwicklung. Gendering oder adäquate Bezeichnungen für Völker/Ethnien/Stämme/soziale Gruppen und Schichten zu benutzen, um dadurch einer Diversifizierung der Gesellschaft in der Benennung/im Aussprechen eines Namens und dadurch rückwirkend auch im Denken Rechnung zu tragen, ebenfalls.

Der Gedanke der Kulturaneignung ist ebenso absurd wie die Forderung aus konservativ-nationalistischen Kreisen, Sprache, Traditionen, Kultur vor äußerlichen Einflüssen zu bewahren, sie in ihrer Reinheit zu erhalten. Die Reinheit ist eine Illusion, die der Dialektik des Denkens als binäres Oppositionssystem geschuldet ist. Wir wissen noch, wohin uns diese Illusion der Reinheit, das Reinheitsgebot im letzten Jahrhundert gebracht hat. Dass etwas immer zugleich sein Gegenteil beinhaltet, sagt uns bereits der Buddhismus. Aber das wäre jetzt schon wieder Kulturaneignung. Geist und Materie, Denken und Sein, Natur und Kultur, Mann und Frau, Subjekt und Objekt, das Eigene und das Andere/Andersartige/Fremde basieren auf dem Differenzprinzip. Die Spaltung/Teilung ist das Originäre – und Kultur im allgemeinsten Sinne.

Bei Rousseau (wie auch in der Genesis des Alten Testaments) liegt der Übergang vom Naturzustand in die Kultur im Aussprechen eines Verbots. Auch bei ihm geht es um eine Form der Erkenntnis, nämlich um das Verbot des Inzests. Auch bei ihm steht das Verbot an erster Stelle des Übergangs zur Kultur und zur Menschwerdung. „Die Gesellschaft, die Sprache, die Geschichte, die Artikulation, kurz: die Supplementarität – sie entstehen also gleichzeitig mit dem Inzestverbot. Das Inzestverbot ist die Brisur zwischen der Natur und der Kultur.“ (Jacques Derrida, Grammatologie. Frankfurt am Main, 1974. S. 455.) Das Inzestverbot ist zugleich auch ein Verbot der Reinheit und ein Gebot der Vermischung, der Aneignung vom Anderen, vom Fremden zum Zweck des Überlebens. Was nun für unser Blut gilt, kann genauso gut über die Kultur gesagt werden. Hätte sich keine Kultur mit fremden Elementen bereichert, angereichert, keine kulturelle Aneignung betrieben, wäre die Menschheit schon längst ausgestorben. Aneignung ist gleichbedeutend mit Lernfähigkeit und das Wesen von Kulturen ist es nun mal, ein offenes System zu sein, das aufnimmt, durchlässt und weitergibt. Wie Zellosmose.

Der Begriff der Kultur ist breit gefächert und durchzieht alle menschlichen Lebensbereiche, von den „Schönen Künsten“ über Wissenschaft, Architektur bis hin zu Freizeit, Kleidung und Essen. Kaum auszumalen, wo wir ohne kulturelle Aneignungen oder durch das Verbot von vereinfachenden Darstellungen und Vorurteilen in der (wissenschaftlichen) Literatur stehen würden. Die gesamte Geschichte der Humanwissenschaften ist voll von Vorurteilen, Vereinfachungen, Diskriminierungen durch die Sprache und das Denken ihrer Entstehungszeit. Dennoch war der Antrieb derartige Forschungen zu betreiben (und/oder Geschichten zu erzählen), nicht um zu verletzen oder Denkweisen zu bestätigen, sondern um zu lernen, zu verstehen, uns zu bereichern, um über das Andere/Fremde Einblicke in die Funktionsweisen des Eigenen zu erhalten. Alles ist davon abhängig, was jede/r Einzelne herauszulesen oder zu verstehen gewillt ist. Die korrekte Handhabung von Sprache und anderen Kulturelementen ist nur eine Seite und auch abhängig von Bildungsgrad und Sozialisierung. Auch das ist eine Form der Diskriminierung. Die gesamte Geschichte ist diskriminierend.

Vor einiger Zeit las ich auf einer Karte in einem Kaffeehaus den Namen „Lumumba“ – Kakao mit einem Schuss Rum. Abgesehen davon, dass auch der Kakao eine kulturelle Aneignung ist, war Patrice Lumumba erster Ministerpräsident eines unabhängigen Belgisch-Kongos, der dem belgischen König Baudouin in einer Brandrede die Gräueltaten Belgiens vorwarf und den totalen Rückzug aus allen politischen und wirtschaftlichen Bereichen des Kongos forderte. Sechs Monate später wurde er auf ominöse und immer noch ungeklärte Weise erschossen und zu einer Legende des afrikanischen Kontinents. Lumumba. Kakao mit Schuss. Eine bittere Ironie und ein Name, der nicht in Vergessenheit geraten sollte, steht er doch für alles, was mit Aneignung – weit über die Kultur hinaus – zu tun hat. Darüber sollten wir uns Gedanken machen. 
Ein Europa, das seinen Wohlstand auf jahrhundertelanger sukzessiver Ausbeutung aufbaut und sich zugleich vor den Enteigneten verschließt, sie vor seinen Toren sterben oder an seinen Pforten verhungern lässt, sie ins Verderben zurückschickt und zugleich selbst zum taumelnden Riesen wird – angesichts der bebenden Erde und drohenden Unruhe in seinem Inneren. Alle, die noch Macht und/oder Geld besitzen, versuchen sich möglichst viel materiell anzueignen, während andere, die noch an die Macht des Wortes glauben, über kulturelle Aneignung diskutieren. Wir versuchen uns die Welt schönzureden, indem wir gendern, Diskriminierungen, Sexismen, Rassismen sprachlich umschiffen, während wir wie Spielfiguren auf einem Brett hin- und hergeschoben und gegeneinander ausgespielt werden. Wir sitzen im selben Boot. Das Boot ist voll und sinkt. Die Suchscheinwerfer scannen die Ufer ab. Nicht nach Überlebenden. Nach feindlicher Landaneignung.

Karin Tschavgova-Wondra

Danke für diesen wunderbaren, wunderbar geistvollen Artikel. Bis jetzt konnte ich den "Lulumba" umschiffen, obwohl ich das Getränk gern mag. In früheren Jahren war es im Theatercafè beliebt zu sehr später Stunde und wurde nach Mitternacht empfohlen. Was man dem Kakao mit Rum zuschrieb, ist mir unbekannt (bei der Eierspeis war der Nutzen klar). Oder ich hab`s ebenso vergessen, genauso, wie dieses Getränk im großen Heferl genannt wurde. Kakao mit Rum war`s, glaub ich, nicht. Wer kann mir helfen, mich zu erinnern? Geht man heute noch nach Mitternacht ins Theatercafè?

Di. 27/09/2022 16:07 Permalink
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