23/08/2022

zeitenweise – 21

Der Tod und das Zeichen III

Die menschliche Existenz gründet in einem ausbalancierten Gleichgewicht von Hand und Wort, einer geistigen Sphäre und einem physischen Lebensraum. Trotz ihrer enormen Reichweite hängt diese Existenz an einem dünnen Faden, da die Begünstigung einer Komponente die Balance gehörig ins Wanken bringt. Der geistige Raum, die Virtualität kann nur als Verhältnis zum Tod gedacht werden, während die Welt der Handlung stark an die Ökonomie des Todes, dessen Aufschub und Vorwegnahme, gebunden ist. In der Kunst schließlich kommen beide Elemente in ein ausgewogenes Gleichgewicht. 

23/08/2022

lost dreams

©: Severin Hirsch

Der Tod und das Zeichen

Dritter Satz: Von Menschen und Steinen – das Offene als Spaltung 
(für Giovanni)

Die Entstehung von Kunst liegt vielleicht nicht, wie Hermann Hesse meinte, in der Angst vor dem Tod (da Angst ein guter Wächter, aber ein schlechter Krieger ist, wie Nick Cave es in seinem Roman Und die Eselin sah den Engel so treffend – für all die gegenwärtige Politik und mediale Manipulation, schlicht für die gesamte massenpsychologische Kriegsführung – formulierte), aber in einer spezifischen Form des Umgangs mit dem Tod, dessen permanenter Präsenz, der vorweggenommenen Trauer des Verlustes. Das Todesbewusstsein ist das Perpetuum mobile der Menschheit, ihre eigentliche Geschichte, die Kraft hinter Fortschritt und Entwicklung. Jegliche Form der Ökonomie und Ökonomisierung kann nicht ohne den Hintergrund des Todes gedacht werden. Und doch ist unser ständiger Begleiter, unser ewiger und langer Schatten, der uns zum Licht führt, im Endeffekt ein Punkt. Ein Endpunkt.  

„Es beträfe die Trauer um die Kraft oder die Kraft der Trauer, mithin ein Gesetz, demzufolge die größte Kraft nicht darin besteht, sich kontinuierlich ins Unendliche auszudehnen, sondern seine maximale Intensität nur […] im wahnsinnigen Augenblick der Entscheidung, im Punkt seiner absoluten Unterbrechung zu entfalten, dort wo die dynamis Virtualität bleibt, nämlich ein als solches virtuelles Werk. Es handelt sich um den Augenblick unendlichen Verzichts als Potenzierung des virtuellen Werks. Aber das virtuelle Werk ist keine Werk- oder Bildkategorie unter anderen, es ist das Wesen des Werks, ein nicht wesentliches Werk, denn es ist ein Wesen, das als solches möglich bleibt. Und das ist der Tod.“ (Jacques Derrida, Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt. Wien 2007. S. 186.)

Dynamis wie Dynamit, diese explosive Kraft, die Veränderungen herbeiführt, die Steine und Felsen spaltet, die neue Wege öffnet und ebnet, kommt im Tod zum Stillstand. Was bleibt ist die Virtualität, eine Welt, ein Werk, all dessen, was möglich gewesen wäre, die reine Potentialität. Die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten führt uns an unsere eigenen Grenzen. Die virtuelle Welt (nicht der cyberspace) ist ein unendlicher Kosmos von Ideen, die sich verbinden, wieder auflösen und auch verschwinden. Letztendlich sind auch wir Ideen, die sich in einer Aktualität befinden, bevor wir uns wieder in der absoluten Potentialität auflösen. Wer andere nur an ihren Taten misst und beurteilt, übersieht und untergräbt den menschlichen Geist. „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!“ (1. Johannes 2, 1-6) oder „Words don’t bother me, actions do“ sind meinungsbildende Irreführungen, die maximal den weltweiten psychopathischen politischen Despoten als Urteil dienen sollten, nicht aber für die Menschheit im Allgemeinen und die Kunstschaffenden im Besonderen. Das Scheitern ist Teil des Lebens, ein Lernprozess für alle Schaffenden, und jene, die es nicht schaffen, scheitern bereits am Leben. Aber Existenz kann sich nicht an materiellen Errungenschaften oder vollbrachten Taten messen lassen, sondern umfasst auch die Welt des Geistes und der Ideen. Auch Wörter sind materiell und das Erzählen von Geschichten oder das Erläutern von eigenen Ideen und individuellen Geisteswelten bereits Kunstformen, die die Welt bereichern und in der Außenwelt Spuren hinterlassen – als Kunstwerk ohne Signatur, als Text ohne Handschrift, als Spur ohne Fußabdruck. Offen und offensichtlich zu scheitern, am Leben oder an der generellen Umsetzung von Ideen und dennoch weiterleben zu wollen, erfordert vielleicht mehr Mut als sich an seinen Taten messen lassen zu können. Die Angst vor dem Tod lässt nicht (nur) die Kunst entstehen, sie lässt alles entstehen, was als Zeichen Spuren, Signaturen hinterlässt. Die größte Angst besteht für viele wohl darin, dem Tod als Repräsentation in seiner Präsenz zu begegnen, ohne in seiner eigenen Präsenz für Repräsentation gesorgt zu haben – die endgültige Auslöschung des Namens durch den Tod. Scheitern zu können, ist auch eine Kunst und der Mut zur Tilgung des Namens ohne Repräsentations- und Reproduktionsvorsorge spaltet diejenigen von den todesangstbesessenen Zeichenproduzent:innen. Je mehr Angst besteht, desto mehr Macht wird missbraucht, um sich Zeichen zu setzen, gewaltsam in die Geschichte einzuschreiben, um den Eigennamen fortwährend der Auslöschung zu entziehen und dem Lauf der Geschichte zu vertrauen, den Namen von Gewalt und Missbrauch reinzuwaschen, um als Denkmal, als Mythos weiterzuleben.

Der Mythos wird früh geboren. Der Mensch „spielt“ vorerst gern mit Steinen, erst viel später dann mit Scheinen. Die Evolution des ökonomischen Denkens – und Ökonomie bedeutet (auch) Einsparung und Vereinfachung bei Ausdifferenzierung der Arbeit – lässt sich aufgrund prähistorischer Werkzeugfunde heute gut rekonstruieren. Indiz dafür gibt die gewonnene Werkzeugmenge aus einem gewissen Gewicht an Material – Schlag und die Weiterverwendung des Abschlags zur weiteren Werkzeuggewinnung (usw. usf.) legen Zeugnis für die (symbolische) Differenzierung in der kulturellen Evolution des Menschen ab. 

In dieser symbolischen Spaltung liegt auch die Öffnung hin zu einer Welt jenseits des Sinnlichen, eröffnet sich der Raum zur Spiritualität, zur Virtualität. Die abstrakten Formen von Fossilien, das Funkeln von Edelsteinen oder das Sprühen von Funken bei der Aufspaltung des Steins sind Nebenprodukte der Werkzeugproduktion, die den Kosmos des prähistorischen Menschen erhellen. Diese erste Spaltung von Materie in weitere Formen von Materie ist zugleich auch die Spaltung von Geist und Materie. Der evolutionär jüngste Teil des Gehirns, der präfrontale Cortex, ist Sitz der Steuerung komplexer motorischer Handlungen sowie des Sprach- und Planungszentrums. Nicht umsonst hat das Begreifen sowohl eine sensible wie auch eine intelligible Komponente. Die kortikale Nähe von Sprache und Hand(lung) zeigt, wie komplex und ausbalanciert das menschliche System funktioniert. Die Sprache, die geistige Welt, die Virtualität gibt den Handlungen einen Sinn, bettet sie in komplexere Zusammenhänge ein, gleichzeitig manifestiert und materialisiert sich die geistige Haltung in der physischen Handlung. Die Kunst hat an beiden Welten gleichermaßen Anteil, sie ist die ausbalancierte symbolische Symbiose von Aktualität und Potentialität, von geistigen Fähigkeiten und motorischen Fertigkeiten, von Spiritualität und manueller Umsetzung. Im Angesicht des Todes nimmt sie in ihrer Ausgewogenheit eine Form an, die essentiell und originär für das menschliche Dasein ist, da in der Störung dieser Balance die Gefährdung der menschlichen Existenz liegt.  

Am Anfang steht der Tod. Er ist die Geburt der Menschheit. In seiner Abgeschlossenheit eröffnet er den Raum hin zur Virtualität. Der Anfang trifft auf das Ende. Die Eröffnung des Raumes und die Entfaltung der Kraft der Trauer über die mögliche Endlichkeit der Welt treiben den Geist in Sphären, die ihn in materiellen Spuren, Beweisen der eigenen Existenz, in der Unendlichkeit bewahren sollen. Dabei übersieht er oftmals seine eigene Begrenztheit und Unzulänglichkeit und wählt rücksichtslos die in seiner Macht stehenden Mittel, um seine Ziele zu verfolgen. Auch eine Form von geistiger Ohnmacht. Oft ist es besser, in der Virtualität zu verweilen. Der Raum, der uns bleiben wird.         

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