24/05/2022

Wahnsinn als Gesellschaft

Die Welt ist in ständiger Bewegung, sie verändert sich von einem Moment zum nächsten. Dieses ewige Werden kommt in sozialen Konstrukten wie der Sprache oder der Identität zu einem vorläufigen Stillstand: es kommt zu Bewusstsein. Dieses Durchbrechen einer zeitlichen Kontinuität ist zugleich an ideologische Konzepte gekoppelt, die einen Teil der Wirklichkeit verbergen und sich nur diesseits der Grenze des Bewusstwerdens offenbaren.
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Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

24/05/2022

it's funny how the love dies © Severin Hirsch

„Der Krieg ist der Vater aller Dinge, aller Dinge König.“ (Heraklit, ca. 500 a.d.)

Die Welt ist ein Kampf gegensätzlicher Tendenzen in der Wirklichkeit, die Gegensätze stoßen aufeinander, ohne je in einen Gleichgewichtszustand zu treten, alles fließt und geht ineinander über, es gibt keinen Stillstand und nichts wird bleiben – „panta rhei“, wie es Heraklit im wohl bekanntesten Ausspruch seiner Philosophie formuliert hat. Feuer, Wasser, Erde, Luft und die quinta essentia, die Quintessenz – das fünfte Element, die Liebe, die Weltseele, der Weltgeist –, die diese Elemente, diese Welt zusammenhält und dafür sorgt, dass der Kampf der Gegensätze zu keinem Triumph eines dieser Elemente führt.

Auch die Sprache ist ein System oppositioneller Strukturen und die Position der Zeichen wird vom Gegensatz, von der Gegenüberstellung, der Opposition mitbestimmt und definiert. Dadurch hält das Zeichen die Illusion einer Natürlichkeit in Bezug auf seine Opposition aufrecht. Gegensätze wie Mann/Frau, menschlich/göttlich, Mensch/Tier, Kultur/Natur, Recht/Unrecht, Sinn/Unsinn bzw. Wahnsinn, Gesellschaft/Individuum etc. sind jedoch in erster Linie politische, ideologische Trennungen, die nur vortäuschen, einer gewissen Natürlichkeit anheim zu fallen. Die postmoderne Theorie, der Postrukturalismus hat uns gelehrt, dieser Natürlichkeit zu misstrauen und diese Trennungen als politisches Machtkalkül und ideologische Repressionsmechanismen zu erachten und die Trennlinie zwischen Gegensätzen im Denken zu verwischen und überwinden. Dabei steht im Vordergrund dieser Überlegungen, dass die (ideologische) Struktur der Sprache auch unser Denken prägt und die „Freiheit der Gedanken“ somit nur bedingt, weil gekoppelt an die sprachliche Ebene, möglich ist. Sprache ist immer (auch) Ideologie, sie zeugt von einer Zugehörigkeit – einer Familien-, einer Klassenzugehörigkeit, einer regionalen, einer nationalen oder kulturellen Zugehörigkeit. Political correctness der Ausdrucksweisen gegenüber anderen Nationalitäten oder Klassen wie auch gendering wurden dabei zu Instrumenten, ideologischen Vorbehalten oder gar dem ausdrücklichen Ausschluss innerhalb der Sprache (und damit dem Denken) entgegenzuwirken. Dieses Einschlussverfahren, die Einbeziehung des Anderen, des Fremden ins eigene Denken, der Kampf gegen die sprachliche Ausgrenzung ist ein erster Schritt in die Öffnung des Bewusstseins, ein Bewusstwerden ideologischer Mechanismen in der Sprache – freilich nur oberflächlich angesichts des verstärkten Aufkeimens konservativistischer und nationalistischer Tendenzen innerhalb der globalen Gesellschaft als (An-) Zeichen eines soziokulturellen Atavismus. Der Kampf der Gegensätze findet stets auch in der Sprache, im sprachlichen Ausdruck statt, was sie zu einem beweglichen, veränderlichen Medium, einem Fluidum macht. 

Die Sprache ist ein Fluss, ein Sprachfluss sozusagen, der durch äußerliche Einflüsse und Zuflüsse beeinflusst und modifiziert wird, gleichzeitig aber bedeutet Sprache auch Identität, etwas, an dem man festhalten will, ein Stillstand im Denken, der eine gewisse Beständigkeit haben soll. Individuelle wie auch kollektive Identität muss sich an etwas festhalten und anhalten können, um ein Wissen, ein Bewusstsein der eigenen Position in Opposition zum Anderen, zu einem Außerhalb, des Fortbestands von einem Moment zum nächsten aufrechterhalten zu können. In diesem Sinne beinhaltet (sprachliche) Identität immer auch Ideologie, was nicht von vornhinein verwerflich ist, solange man sich seiner Position in Abgrenzung zum Anderen bewusst ist und diese Trennung, diese Grenze nicht als Instrument einer politischen Teilung, einer Spaltung wahrnimmt. Jenseits der Trennlinie liegt das Andere des Ichs, das Ausgeschlossene, das Verschwiegene, das Unbewusste, das verleugnete und verdrängte Ich. (Individuelle) Identität ist seit Descartes eng an den Subjektbegriff (als handelnde, denkende, selbstreflektierende Entität) gebunden, in dem der Freiheitsbegriff im Sinne der Handlungsfreiheit eine zentrale Rolle spielt, doch Foucault zeigt in seinen Arbeiten auf, wie dieser Subjektbegriff im Laufe der Neuzeit durch repressive Machtstrukturen immer stärker politisch instrumentalisiert wurde. Die Internalisierung, die Verinnerlichung des Subjekt(begriff)s spiegelt sich in den Machtverhältnissen unter Auslassung der Opposition, unter Ausklammerung eines Außerhalb wider. Das Subjekt ist nur bedingt handlungsfrei, da es den ganzen Machtapparat, die Bildungs- und Erziehungssysteme, die Sprache in sich trägt und sich von Alternativen jenseits der Grenze gereinigt hat. Deshalb kann es – wie auch alle übrigen Zeichen – als natürlich erscheinen. „Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben – dieser obskuren Gesten, die, sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind –, mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau soviel über sie aus wie über ihre Werte; denn ihre Werte erhält und wahrt sie in der Kontinuität der Geschichte; aber in dem Gebiet, von dem wir reden wollen, trifft sie ihre entscheidende Wahl. Sie vollzieht darin die Abgrenzung, die ihr den Ausdruck ihrer Positivität verleiht.

Da liegt die eigentliche Dichte, aus der sie sich formt. Eine Kultur über ihre Grenzerfahrungen zu befragen, heißt, sie an den Grenzen der Geschichte über eine Absplitterung, die wie die Geburt ihrer Geschichte ist, zu befragen. Dann nämlich finden sich in einer Spannung, die immer auf dem Weg ist, sich zu lösen, die zeitliche Kontinuität einer dialektischen Analyse und – an den Toren der Zeit – die Aufdeckung einer tragischen Struktur miteinander konfrontiert.“ (Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main 1973. S. 9.)

Identität wird durch das Bewusstsein, durch Vernunft, durch Kultur, durch Sprache, durch (Macht-) Systeme geschaffen, die das Irrationale, das Andere, das Fremde ausklammern, und die ein Gegenüber, eine Opposition einen Gegensatz braucht, um sich zu positionieren. Der Kapitalismus ist dazu im Gegensatz – ähnlich der postmodernen Theorie, nur unter verschiedenen Vorzeichen – ein System, das Oppositionelles von vornherein ausschließt und zu integrieren versucht, wobei die Staatsform – ob demokratisch, oligarchisch oder autokratisch – dabei keine gewichtige Rolle spielt. Schließlich soll jede/r auch noch so vehemente Systemkritiker:in in den Genuss der Konsumtion kommen, durch die überhaupt erst Identität geschaffen wird. Es gibt innerhalb des Systems keinen Gegensatz, alles Widersprüchliche – das Außerhalb des Systems – wird eliminiert oder soll zumindest, wie in Fällen äußerster Armut und Mittellosigkeit, dem Blickfeld entzogen werden. In gewisser Weise ist dies die Trennlinie, die Grenze einer Kultur, die auf dem Verschweigen von Widersprüchlichkeiten (wie existentiellen Nöten oder alternativen Möglichkeiten der Weltgestaltung) aufbaut und deren Werte und Wertigkeiten auf dem Einsatz von Kapital beruhen. Da sich auch dieses System in unserem Bewusstsein über die letzten drei Generationen hinweg internalisiert hat, kann die Systemkritik nur als ein Innerhalb des globalen Finanzkapitalismus betrachtet werden, von dem letztendlich fast alle in irgendeiner Form (Besitz, Bildung, Alphabetisierung, medizinische Versorgung, Elektrifizierung, Mobilität usw.) profitiert haben. Doch nun, nach den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie und jenen im Zuge des Russland-Ukraine-Konflikts, stößt das kapitalistische System immer mehr an seine Grenzen. Die in letzter Zeit oft proklamierte Spaltung der Gesellschaft zeichnet sich immer deutlicher ab, allerdings findet sie zwischen Besitzenden und Besitzlosen statt. Die vom Kapitalismus gerne propagierte Abschaffung der Klassengesellschaft weicht nun langsam der Wiederkehr eines modifizierten Feudalsystems. Denjenigen, die dachten, durch Bildung und Kredite in der Hierarchie emporzusteigen, droht nun der Fall ins Bodenlose. Sein und Schein trennt eine unüberwindbare Kluft. Die Identität des alteingesessenen Bürgertums war nie bedroht, die Klassen, die ihre Identitäten aufgaben, um an der Illusion einer klassenlosen Gesellschaft teilzuhaben, wird nun die Rechnung präsentiert. Die Machtverhältnisse verschieben sich wieder zugunsten der herrschenden und mächtigen Klasse, die Besitz und Reichtümer untereinander umverteilen. Das ist die Opposition, die dem Rest der Menschen zur Identitätsentwicklung zur Verfügung steht. Weder Flüchtlinge oder Migrant:innen, noch Links- oder Rechtsgesinnte, Konservative oder Liberale, Intellektuelle oder Proletariat, Verschwörungstheoretiker:innen oder Quellenforscher:innen, sie alle bilden keine Opposition innerhalb des Systems, sie alle leben und leiden an derselben Krankheit, sind von denselben Unsicherheiten bedroht.

Identität ist Konstrukt. Sie dient uns zur Orientierung im Moment. Wir können sie nur an einem Außen festmachen, an vorübergehend Bleibendem, an Traditionen, an Sprache, an Kultur, an den Bäumen vor dem Fenster, an einer Stimme, einem Geruch. Was bleibt, wenn wir unsere vertraute Position, unseren Ort, unsere Heimat verlassen müssen, ist die Erinnerung. Ein flüchtiger Gedanke. Was bleibt, ist die Liebe. 

Wüste werde ich nennen dieses Schloss das du warst,
Nacht diese Stimme, Abwesenheit dein Gesicht,
Und wenn du fällst in die dürre Erde
Werde ich nennen Nichts den Blitz der dich brachte.

Sterben – ein Land das du liebtest. Ich komme
Aber ewig auf deinen düsteren Wegen.
Ich zerstör dein Verlangen, deine Form, dein Gedächtnis,Ich bin dein Feind, der kein Mitleid kennt.

Ich werde dich nennen Krieg und üben an dir
Die Rechte des Krieges und werde haben
In meinen Händen dein dunkles, durchdrungnes Gesicht,
In meinem Herzen dieses Land vom Gewitter erhellt.
(Yves Bonnefoy, Wahrer Name. Übersetzt von Roland Erb.)

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