09/08/2022

Wolkenschaufler_61

documenta fifteen – Die 100 Tage der Kollektive

Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mraček zu Lebensraum, Kunst und Kultur(-politik) erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT.

09/08/2022
©: Wenzel Mraček

Dan Perjovschi am Fridericianum

©: Wenzel Mraček

Wajukuu Art Project in der documenta Halle

©: Wenzel Mraček

„The Wall of Puppets“ von Fondation Festival sur le Niger im Hübner-Areal

©: Wenzel Mraček

Atis Rezistanz in der Kirche St. Kunigundis

©: Wenzel Mraček

Nach Initiative des Kasseler Künstlers, Kurators und Hochschullehrers Arnold Bode zählt die documenta seit 1955 zu den weltweit wichtigsten, periodisch abgehaltenen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Zunächst alle vier Jahre veranstaltet, dann alle fünf, läuft die 15. Auflage der Welt-Kunstausstellung im hessischen Kassel gerade auf Halbzeit. Das Universalmuseum Joanneum und das Kulturamt des Landes Steiermark haben einen Besuch der documenta fifteen organisiert und neben anderen auch den Wolkenschaufler eingepackt.

Was allenthalben zu lesen ist, versuche ich in knapper Form vorauszuschicken: Eine Findungskommission gab 2019 ihre Entscheidung für die künstlerische Leitung der Fünfzehner bekannt. ruangrupa ist ein indonesisches Künstlerkollektiv aus Jakarta, das im Jahr 2000 gegründet wurde und seither an Biennalen in Südkorea, Istanbul und São Paulo beteiligt war beziehungsweise 2016 die Sonsbeek, Ausstellung für zeitgenössische Kunst in Arnheim, kuratiert hat. Das Kollektiv ruangrupa verbindet Künstlerinnen und Künstler mit Wissen und Forschung aus Disziplinen der Sozialwissenschaften, Politik und Technologie um auf weitgehend problematische Situationen Indonesiens zu reagieren.

Der Arbeitsweise einer gleichberechtigen Teilhabe an Produktion und Entscheidungsfindungen liegt das Prinzip der in Indonesien gemeinschaftlich und für diverse Zwecke genutzten Reisscheune zugrunde: Lumbung. Kollektivität, gemeinschaftlicher Ressourcenaufbau und dessen gerechte Verteilung waren infolge auch Anforderungen für die Auswahl ähnlich orientierter Künstlergemeinschaften, die nach einer Art Schneeballsystem gefunden und eingeladen wurden. An 32 Orten der Stadt, darunter etliche nach ursprünglichem Zweck nicht mehr genutzte Industrieanlagen, einem leer stehenden Hallenbad oder einer aufgelassenen Kirche beziehungsweise im Freiraum an der Fulda, sind nun überwiegend sozialkritisch angelegte Kunstwerke von mehr als 1500 Künstlerinnen und Künstlern in über 70 Kollektiven präsentiert. Lumbung führte somit zu Kunstformen, die nicht Handelsware sind, vielmehr Lebensnotwendigkeiten beschreiben und, geschuldet dem Auswahlverfahren, eine Perspektive auf den Süden des Erdballs eröffnen, wenn nicht auf den sogenannten globalen Süden. 

Man muss sich gewissermaßen einfinden in künstlerische Haltungen, die so gar nicht unserem („westlichen“) Verständnis vom Kunstwerk als Äußerung eines Künstlerindividuums entsprechen. Apodiktisch hat sich der Kunsttheoretiker, „Denker im Dienst“ und „Künstler ohne Werk“, Bazon Brock im Vorfeld zur documenta fifteen geäußert. „Jede individuelle Äußerungsform, jede Autorität durch Autorschaft, was das Prinzip der westlichen Intellektualität, der Schriftsteller, Philosophen, Künstler gewesen ist, wird ein für allemal liquidiert.“ Diese documenta, glaubt Brock, werde das Künstlerindividuum ein für allemal eliminieren. – Solchen Überlegungen, Übererregungen, muss man nicht unbedingt folgen. Allerdings hören wir während unseres Besuchs, dass sich, gegenüber früheren documenta-Ausgaben, KunstsammlerInnen und GalleristInnen rarmachen. Bis auf die Kunstwerke einiger mehr oder weniger Etablierter wie Dan Perjovschi (RU), Richard Bell (AUS) oder Selma Selman (BIH) ist Handelsware Mangelware. Wenn der Markt auch (Kunst-)Geschichte macht, dann wird die Fünfzehner fraglos ob ihres Konzepts einer „Kunst von unten“ erinnert werden – die Namen der Beteiligten und spezifische Inhalte wohl kaum.

Beispiele und Eindrücke: Der Grazer , damals noch Raum für Kunst, zeigte Anfang der 1990er Jahre die politik- und sozialkritischen Zeichnungen des Rumänen Dan Perjovschi. Jetzt hat sich Perjovschi die Portikussäulen des Kasseler Fridericianums vorgenommen. In schwarzweißen Kreidezeichnungen skizziert er den prekären Zustand gleich der ganzen Welt. „Scheiße“ etwa steht da mehrfach zu lesen, Arm und Reich sind als dicke und dünne Strichmännchen zu sehen. Das ist kein Graffito, erklärt der Künstler lachend, „das ist ein Manifest!“. In der documenta Halle gegenüber hat das Wajukuu Art Project aus Nairobi eine Wellblechhütte im Innenraum installiert. Wajukuu ist ein Kollektiv, das mit Jugendlichen im Mukuru-Slum arbeitet und bemüht ist, in den kommenden Jahren Ackerflächen außerhalb Nairobis zu kaufen, die gemeinschaftlich genutzt werden sollen. In der Hütte beispielsweise Installationen aus alten Fleischermessern, die auf ein Sprichwort rekurrieren: Das Messer schneidet eines Tages seinen Besitzer.

Im seit Jahren nicht mehr betriebenen Hallenbad Ost zeigen die Indonesier Taring Padi ihre Pappfiguren und Holzschnitte aus 22 Jahren, die vorwiegend in Straßenprotesten und Kunstkarnevals mitgeführt wurden. Das Institut für bürgernahe Kultur, Taring Padi, wurde 1998 von einer Gruppe Kunststudierender und AktivistInnen während den gesellschaftspolitischen Umwälzungen der indonesischen Reformasi-Ära gegründet. Von Taring Padi stammte das kurzzeitig auf dem Friedrichsplatz installierte Banner People’s Justice. „Antisemitische Darstellungen“ (Fotos unter www.dw.com) lautete der Vorwurf, und einige Tage nach der Eröffnung wurde das Banner entfernt.

Was war geschehen? Wir folgen dem Rumor, in mehreren Versionen in Kassel vernommen:

Es sei eine kalkulierte Provokation gewesen, die einer indonesischen Künstlervereinigung Aufsehen verschaffen sollte.

Unbedarftheit der Kuratoren, denen die europäische Kontextualisierung nicht bewusst war.

Das Banner sei schon 1998 im Widerstand gegen das Sucharto-Regime verwendet worden. Die inkriminierten Darstellungen symbolisierten das Böse der ganzen Welt im Vergleich mit dem Regime.

Aus restauratorischen Gründen konnte erst kurz vor der Eröffnung im Schnellverfahren installiert werden.

In den vergangenen zwei Jahren war man auf Zoom-Konferenzen angewiesen, man könne sich doch nicht jedes Exponat vorlegen lassen.

Dass die Generaldirektorin der documenta, Sabine Schormann, inzwischen zurückgetreten ist, ändert nichts an den Problemstellungen zwischen Zensur und Freiheit der Kunst, die wohl noch eine Zeitlang verhandelt werden. 

In der documenta Halle vertreten ist aber auch der Britto Arts Trust aus Bangladesch. Im Außenbereich wird Gemüse gezogen und gekocht, in der Halle Supermarktregale mit in Keramik nachgebildeten Fertigprodukten der bekannten, internationalen Marken. Milchpackungen aus Rasierklingen stehen für tödliche Bakterien aus der Massentierhaltung. Was geschieht, wenn die großen Konzerne des globalen Nordens die traditionelle Landwirtschaft des Südens in eine Agrarindustrie umwandeln? Ähnlich gelagert die Installation des afrikanischen Kollektivs The Nest Collective vor der Orangerie. Return to Sender besteht aus Altkleidern und Elektroschrott und vermittelt die Botschaft: Kümmert euch selbst um euren Schrott und überlasst ihn nicht uns! Nairobis größte Mülldeponie, erfährt man im Hintergrund, besteht zu vierzig Prozent aus im Westen überproduzierter Kleidung.

In der aufgelassenen St. Kunigundis-Kirche haben Atis Rezistanz aus Haiti ein Modell ihres Stadtviertels, ein Slum in Port-au-Prince, von der Decke abgehängt, darunter auf Voodoo verweisende Figuren und Glasmalerei mit Bezügen zu den Sklavenaufständen Ende des 18. Jahrhunderts. Und, wieder in der documenta Halle, verändern INSTAR aus Havanna alle zehn Tage ihre Ausstellung in der es um staatsbürgerliche Bildung und soziale Gerechtigkeit auf Cuba geht respektive um die Arbeiten von dort zensurierten Künstlern.

vb

Habe die diesjährige Documenta als extrem angenehm empfunden - nicht nur, weil man keine Bange haben musste, eine/n "MarktkünstlerIn" versäumt zu haben ;-) So waren die einzelnen, weitläufigen Präsentationsstätten ähnl. einer Schnitzeljagd anzusteuern oder eben auch nicht- Was div. "Antisemitismusvorwürfe" betrifft, so finde ich diese scheinheilig u. herbeigeredet ... aber zumindest einies haben diese bewirkt: Negativwerbung ist auch eine Werbung!

So. 04/09/2022 19:47 Permalink
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