14/07/2022

„Weg vom Sollen und Müssen – hin zum Können und Dürfen.“ 

Dieser Text ist ausgewählt aus dem Architekturmagazins LAMA #4/9 und ist Teil der Kooperation zwischen LAMA und gat.st. 

Für das LAMAinterview haben LAMA einen „alten Hasen“ der Architekturvermittlung und -lehre gewinnen können: Roland Gnaiger ist ein österreichischer Architekt, der in den 1980er- und 1990er-Jahren in der TV-Sendung „Plus-Minus“ (ORF) breitenwirksam Baukultur vermittelte. Ein reicher Erfahrungsschatz für ein Gespräch über die Architekturlehre der Zukunft.

Das Interview führte Eva Schmolmüller.

14/07/2022

© Foto: C Philipp Steiner

Für das LAMAinterview der Ausgabe #4/9 hat die LAMA Redaktion einen „alten Hasen“ der Architekturvermittlung und -lehre gewinnen können: Roland Gnaiger ist ein österreichischer Architekt, der in den 1980er- und 1990er-Jahren in der TV-Sendung „Plus-Minus“ (ORF) breitenwirksam Baukultur vermittelte. Für seine Architektur, die der Neuen Vorarlberger Bauschule zugerechnet wird, gewann er viermal den österreichischen Bauherrenpreis. Auch war er 1996 bis 2019 Professor und Leiter der Architekturausbildung an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz. Ein reicher Erfahrungsschatz, aus dem LAMA im Gespräch mit Roland Gnaiger über die Architekturlehre der Zukunft schöpfen konnten. Das Interview führte Eva Schmolmüller.

Was sind für dich die Grundsäulen einer Architekturlehre, die in ihrem Kern unbedingt weiter bestehen sollen?

Es gibt eine architektonische Grundkonstante, die über Jahrtausende der Architekturgeschichte hinweg unverändert besteht. Diese ist mit der Struktur und Gesetzmäßigkeit (Grammatik) einer Sprache vergleichbar. Wenn wir Struktur, Gesetzmäßigkeit und Grammatik der Architektur verstehen, darüber hinaus auch über ihr „Vokabular“ verfügen, können wir Architektur „lesen“ und anwenden. Im Gegensatz zu den Sprachen ist Architektur sogar über alle sprachlichen, zeitlichen und kulturellen Grenzen hinweg les- und vermittelbar, während uns die Texte der alten Römer oder Chinesen ohne Kenntnis von Latein oder Altchinesisch verschlossen bleiben.
Das Erfassen gebauter Lebensäußerungen schließt auch das Bauen der Tiere ein. Die Kunst des „Fügens“ oder der „Fügung“ beispielsweise ist angesichts von Tierbauten oder archaischen menschlichen Baumanifestationen bestens vermittelbar.
Zum Verständnis der Gesetzmäßigkeit von Tragwerken gehört wiederum das Verstehen gewisser unveränderlicher Naturgesetze – dazu zählt die Physik mit ihrer Erklärung der Schwerkraft oder des thermischen Verhaltens, somit alles, was jenseits kultureller und sozialer Einflussfaktoren wirksam ist. Das gilt auch für die Wirkung von Körper und Raum oder den Einfluss von Atmosphären.
Klarerweise können (oder sollen) wir heute keine gotischen Kathedralen mehr bauen. Verwandte Raum- oder Lichtwirkungen lassen sich jedoch auch mit gänzlich anderen Mitteln erreichen. 
Stil ist zeit-, kultur- und technologiegebunden, mitunter den Moden verpflichtet. Architekt*innen sollten Architektur (auch) jenseits zeitspezifischer „Gebundenheit oder Konditionierung“ verstehen und realisieren (lernen). Diese Grundsäule der Architekturlehre sollte unbedingt weiter bestehen. Denn die Prinzipien der Architektur sind so tiefgründig und universell, dass sie nützlich sind, um Welt und Leben zu deuten. Unabhängig davon, ob man sich nach dem Studium weiter im konkreten Feld des Bauens bewegt oder nicht. 

Wie ließe sich praktische Arbeitserfahrung in die Architekturausbildung integrieren? Ist dies überhaupt das Ziel? Wenn ja, wie kann es funktionieren?

Dazu müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die uns heute vertraute Form der Architekturlehre nicht sehr alt ist. Noch vor 20 Jahren wurde an den Kunstakademien in Form der „Meisterklassen“ gelehrt. Das waren Restbestände, deren Ursprung bei der Architekturlehre in den Werkstätten oder Ateliers der „Meister“ liegt. Historisch erwarb man seine Kenntnis durch die Beteiligung an den Realisierungsprojekten dieser Ateliers. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt: Lernen Architekturstudierende, beispielsweise in Graz, Wien oder Linz beim Praktikum in den zahlreichen Architekturbüros ihrer Städte nicht auch so vieles und relevantes wie an den dortigen Schulen? Diese Form entspricht dem historischen Modell und ist durch die Universität nicht ersetzbar.
Wir können auf eine noch elementarere Ebene verweisen: Historisch wurden jene Handwerker zu Architekten (hier darf ich mit guten Gründen die männliche Form wählen), die sich in ihrem Metier durch besondere Interessen und Fähigkeiten auszeichneten.
Die Kenntnis eines Handwerks ist eine hervorragende Grundlage für Architekturkompetenz. Die Bedeutung der Architektur Vorarlbergs gründet zu guten Teilen auf Architekten, die vor ihrem Studium ein Handwerk gelernt hatten oder aus Handwerkerfamilien stammten.
Ich halte es für gut, wenn Architekturschulen Elemente des praktischen Tuns anbieten. Aber man sollte den Universitäten auch nicht die Verantwortung für alles anhängen. Da ist auch die Eigenverantwortung der Studierenden gefragt. Handwerkliche Erfahrungen sind zu empfehlen, aber es gibt unterschiedliche Zugänge und Quellen erfolgreichen Arbeitens. Dabei spielen auch unsere individuellen Naturelle eine Rolle.
Was ich allerdings, auch für Universitäten, für relevant halte: Gewisse Dinge sind im Umfeld des konkreten Tuns sehr viel schneller und nachhaltiger zu lernen. Hochbaudetails „auswendig“ zu lernen ist beispielsweise ein Unsinn. Dabei wird das logische (und als solches leicht verständliche) Prinzip des Konstruierens künstlich in ein Mysterium verwandelt. Wenn man die dem Hochbau innewohnende Logik (des Fügens) vermittelt, wird das Thema vergnüglich und einfach.

Die aktuellen Veränderungen durch die Digitalisierung der Lehre und die Ortsungebundenheit der Distanzlehre werden wohl auch zukünftig beibehalten. Wo siehst du Risiken? Und welche Chancen ergeben sich, die man nutzen sollte?

Ja, sie werden uns erhalten bleiben, aber nur in Teilen, ähnlich wie im Feld des sozialen Interagierens. Das Bedürfnis nach Präsenz oder körperlicher „Anwesenheit“ wird sein legitimes Recht zurückfordern. Begreifen kommt von „Greifen“ und hat seinen Ursprung in der ganz körperhaften, konkreten, auch sinnlichen Beziehung zu den Dingen. Dies gilt für die Architektur in besonderem Maße.
Wenn digitale Konferenzen sinnlose Wege ersparen, sind sie ökologisch ein Segen. Wenn sie helfen, Flüge zu ersetzen, auch. Aber ich habe Zweifel, ob es im virtuellen Raum auch gelingen kann, die Fülle von Gruppenintelligenz und -dynamik zu nutzen.
In Ergänzung zur Eingangsfrage ist zu betonen, dass Architektur auch ein kulturelles und der jeweiligen Zeit verpflichtetes Phänomen ist. In Unterschieden und kulturellen Differenzen liegt ein unschätzbarer Reichtum. Die uneingeschränkte „Weltreichweite“ (wie Hartmut Rosa das bezeichnet) verflacht und nivelliert. Darin liegt das Risiko, das allem Verlust des Regionalen, Spezifischen und des Einlassens auf spezielle Orte und Kontexte innewohnt.

Wie könnte sich die Lehre mehr in den gesellschaftlichen Diskurs zur Architektur einbringen und positionieren? In welcher Rolle siehst du dabei die „Kooperation“ – sowohl innerhalb der Universität als auch über die Uni-Welt hinaus?

Warum soll sie das? Vorweg: Ich mag den Begriff „Diskurs“ ganz und gar nicht. Er ist so modisch und abgegriffen, und als Forderung gänzlich unreflektiert. Was ist damit konkret gemeint? Muss sich die Lehre in das gesellschaftliche Gespräch, in die Entwicklungen des Bauens einmischen?
Es ist großartig, wie sich in der Klimathematik (seit 50 Jahren erstmals wieder) Studierende Gehör verschaffen. Dies sollen Studierende (und Lehrende) aber auf individuelle Weise tun – vielleicht mitunter auch gemeinsam. Die Lehre ist die Lehre, eben nicht das Tun, sondern dessen Vorbereitung. Für sie erwächst keine Verpflichtung zu Aktivismus und Aktionismus, sie darf und soll auch ihre „Innerlichkeit“ pflegen. So wie wir der Schule permanent neue Ansprüche und Forderungen aufdrängen, überfrachten wir die Universitäten mit Erwartungen und Problemen, die unsere absurde Wirtschaftswelt verursacht und selbst nicht zu lösen gewillt ist. Die Universität soll neben Kenntnissen, Orientiertheit vermitteln, auch Verantwortung – den Menschen (den Kindern speziell), der Natur, dem Klima, den vergangenen und zukünftigen Generationen gegenüber. In diesem Zusammenhang hat die Lehre die Konsequenzen unseres Tuns darzulegen und zu zeigen, wie verantwortungsvolles Handeln im Bauen aussieht.
Noch eine Bemerkung zur Kooperation: Sie kann auch intern „gelebt“ werden. Wir alle wurden von der Schule auf Konkurrenz und selbst auf Eifersüchtelei programmiert. Das respektvolle, wertschätzende Miteinander kann auch innerhalb der Universität geübt werden – im Erarbeiten von Architekturprojekten funktioniert das sogar ausgezeichnet.

Wie sieht dein Wunschszenario für die Architekturlehre in 10 bis 20 Jahren aus?

Unabhängig von Vergangenheit oder Zukunft wünsche ich euch Respekt und Dankbarkeit gegenüber der Großartigkeit und Tiefe, die in der Architektur zu entdecken ist. Das Wünschenswerteste wäre ein Wechsel im Modus: weg vom Sollen und Müssen (das uns so viel Verantwortung und Schwere aufgeladen hat) hin zum Dürfen und Können, auch zum heiteren Scheitern und zur Akzeptanz gegenüber Fehlern. Entwerfen kann enorme Begeisterung und Lust freisetzen, es ist um vieles faktenreicher, komplexer und interessanter als etwa das Schachspiel. Der Freude zu folgen, ist etwas ganz anderes, als dem Lustprinzip zu frönen. Gönnt euch und genießt die wunderbare Exkursion in die reiche Welt der Architektur! (ES)

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