29/05/2018

Was geschah vor 50 Jahren?

Wenzel Mraček berichtet von einem Vortrag im GrazMuseum, bei dem der Grazer Autor
Karl Wimmler Überlegungen zu Mythos und Realität des Jahres 1968 anstellte.

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29/05/2018

Karl Wimmler bei seinem Vortrag am 14. Mai 2018 im GrazMuseum

©: Wenzel Mraček
©: CLIO - Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit

Seit seiner Gründung 1995 ist der Grazer Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit CLIO mit Geschichtsvermittlung, Geschichtswissenschaft und Erinnerungsarbeit beschäftigt. 1998 gründete man den gleichnamigen Verlag, in dem seither Bände zu Themen wie Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Flucht und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung, Antisemitismus, NS-Herrschaft in der Steiermark, NS- und Kriegsverbrecherprozesse, Frauengeschichte und anderen mehr erschienen sind. Eines der frühen überregional wahrgenommenen Unterfangen waren, ebenfalls 1998, Ausstellung und Publikation Herbert Eichholzer 1903-1943 / Architektur und Widerstand in Erinnerung an den 1943 von den Nationalsozialisten hingerichteten Grazer Architekten.

In einem Vortrag im GrazMuseum behandelte Karl Wimmler Mythos und Realität um das Jahr 1968, ein Jahr über das „viel geschwätzt und phantasiert wird“, wie es Wimmler eingangs formulierte. CLIOs wissenschaftlicher Leiter, der Historiker Heimo Halbrainer, las einleitend Auszüge aus seinem Artikel zum Jahr 1968, der am 11. Mai 2008 im Magazin korso erschienen war (s. Link korso.at).
Vor jetzt 50 Jahren, noch im Vorfeld der jährlichen Feiern, verteilte der Verband Sozialistischer Studenten (VSStÖ) vor großen Grazer Betrieben das Flugblatt Es lebe der 1. Mai. Darin stand unter anderem zu lesen:
„Bei Elin werden zur Zeit 800 Arbeiter entlassen, bei Wagner-Biro bekamen hundert andere den blauen Brief. [...]  Währenddessen veranstaltet man in Graz am 1. Mai, dem Kampftag der Arbeiter, eine unpolitische Maifeier von Magistrat und Gewerkschaft, d.h. gemeinsam von SPÖ, ÖVP und FPÖ. Werden so die Interessen der Arbeiter vertreten? Sehr viele Sozialisten, so auch wir, die sozialistischen Studenten, verfolgen diese Entwicklung mit Besorgnis. Wir können nicht am Tag der Arbeit mit den politischen Gegnern gemeinsam „feiern“. Gehst Du morgen auch zur gemeinsamen Maifeier der Unternehmer und der Arbeiter? Vergiß aber nicht, dem Unternehmer die Hand zu schütteln! Wir fordern von unserer Sozialistischen Partei, dem Klassenkampf von oben den bewußten Widerstand für die Sache der Arbeiter und Angestellten entgegenzusetzen!“
Um damals auch gleich gegen den Vietnam-Krieg zu protestieren, zogen Mitglieder des VSStÖ eine Fahne des Vietcong am Parteihaus der SPÖ in der Hans-Resel-Gasse hoch. Die Studenten wurden daraufhin des Hauses verwiesen. Ähnliche Proteste fanden inzwischen, und über die Jahre 1967/68, weltweit statt und zwar unter gesellschaftlichen Auspizien, die Rudi Dutschke in einem Rückblick auf das damalige Zeitgefühl beschrieb: „Während draußen schon die Weltrevolution wartete, regierte drinnen, im Reich der Gardinen, noch Mutti – oder versuchte es zumindest.“ Nach Halbrainers Darstellung gingen in der „Weltrevolution der Studenten“ in den USA, Frankreich, Deutschland, Italien, in der Tschechoslowakei, Polen, Japan, Mexiko und anderen Ländern mehr Studierende gegen den Krieg in Vietnam, für eine Verbesserung der Studienbedingungen, gegen das veraltete Bildungswesen und für eine Demokratisierung der Hochschulen, gegen Kriminalisierung des Sex auf die Straßen.
Ab dem 3. Mai 1968 kam es im Pariser Quartier Latin zu Straßenschlachten, weil die Polizei die besetzte Sorbonne geräumt und hunderte StudentInnen verhaftet hatte. Mit den Studierenden solidarisierten sich schließlich Arbeiter und Gewerkschaften und riefen zum Generalstreik auf, wodurch bis Ende Mai beinahe die gesamte französische Wirtschaft still gelegt wurde.
Mit der vom Vorsitzenden der Hochschülerschaft und späteren Standard-Chefredakteur Gerfried Sperl gegründeten Aktion ging man in Graz aber schon 1967 gegen veraltete Strukturen vor – in Opposition vor allem zu CV und Kartellverbänden der katholischen Burschenschaften – und für eine Demokratisierung des Bildungs- und des Hochschulwesens. Mitglieder der Aktion und des VSStÖ riefen etwa für den 7. November 1968 zur „Inauguration des Studens Magnificus“ auf, bei der eine Klopapierrolle den Samtteppich ersetzte und Bananen die Rektoratskette. Um durch diese Parallelaktion die wirkliche Inauguration des Rektors nicht zu stören, wurden auch hier vorsichtshalber „potentielle Unruhestifter“ verhaftet. Das damalige Klima an den Grazer Universitäten bezeichnen die 1968 noch bestehenden Verbote jeglicher politischer Betätigung an den Unis – mit Ausnahme der Aufmärsche von Burschenschaften. Ebenso verboten war das Verteilen der offiziellen Zeitung der Hochschülerschaft, was im Herbst 67 noch durch eine Äußerung des Rektors Franz Zehrer, ein Theologe, bekräftigt wurde. Eine inserierte Kondom-Werbung nämlich sei „unanständig und daher eines Akademikers unwürdig“.

Der Autor und CLIO-Mitarbeiter Karl Wimmler leitete seinen Vortrag 1968 – Überlegungen zu Mythos und Realität mit einem Zitat aus einem aktuellen Interview mit Innenminister Herbert Kickl ein (Tiroler Tageszeitung, 18.01.2018): „Die 68er versuchten im Namen des Fortschritts zerstörerisch zu wirken. […] Diese Regierung steht für einen offensiven Gegenentwurf. Die Thesen der 68er haben sich als falsch herausgestellt. Das Bedürfnis nach Orientierung, Geborgenheit und Heimat wird von uns wieder in ein positives Licht gerückt.“

(Im Folgenden eine unvollständige Zusammenfassung des Vortrages, Ergänzungen und Erläuterungen zu Wimmlers Ausführungen sind in Klammer gesetzt.)

Obigem Zitat entspricht, so Wimmler, eine von rechten Politikern seither vertretene Haltung, und er erinnert an einen 1968 ausgestrahlten, von Günther Nenning moderierten Club 2, der vor allem in Deutschland für Unmut sorgte. Neben anderen diskutierten Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit und mit diesen Leuten, so die verbreitete Meinung, „redet man nicht im öffentlich rechtlichen Rundfunk“. Dutschke lebte damals in Dänemark und war in Deutschland mit Arbeitsverbot versehen, der Franzose Cohn-Bendit war aus Frankreich ausgewiesen worden, lebte von Arbeitslosenunterstützung und als Redakteur der Stadtzeitung Pflasterstrand in Frankfurt am Main. Beider reaktionäre Opponenten – ein Politologe und ein Springer-Journalist – hätten damals im Grunde keine sich von Kickls heutiger unterscheidende Haltung vertreten (Wimmler).
„Hinz und Kunz“ aber bezeichnen sich heutzutage rasch einmal als 68er, und Wimmler sieht den Grund dafür durchwegs in der Tatsache, dass „sie damals bereits am Leben waren“. So etwa, vor längerer Zeit schon, der frühere steirische Bischof Kapellari (in einem Interview mit der Kleinen Zeitung) oder der gerade noch Wirtschaftskammerpräsident Leitl, der sich vor kurzem noch als „Altachtundsechziger“ bezeichnete. Wirkliche 68er wie Cohn-Bendit (der rote Dany), hätten seither allerdings politische Positionen bezogen, die Wimmler vorsichtig „nur sonderbar“ nennt.
Freilich spricht Wimmler, betreffend Geschichte und Folgen, nur Teilaspekte des Jahres 1968 an. Der „Prager Frühling“ etwa wird infolge nur am Rande erwähnt, ebenso wird auf die ökonomischen Voraussetzungen der Aufstände nicht eingegangen. Nach Wimmlers Meinung habe auch der Feminismus im Jahr 1968 noch keine große Rolle eingenommen, allerdings habe sich der Einfluss von Frauen in den Bildungssystemen verstärkt.
Aufgrund der Situation Westberlins, einer durch die USA garantierten Enklave der Bundesrepublik auf DDR-Gebiet, bestand hier auch ein rechtlicher Sonderstatus. Beispielsweise wurden Abgeordnete zum Bonner Bundestag in Westberlin zwar gewählt, sie hatten aber beschränktes Stimmrecht. Es bestand für Westberlin auch keine Wehrpflicht, was für den DDR-Wehrdienstverweigerer Dutschke, der deshalb auch in der DDR nicht studieren durfte, der Grund war, noch vor dem Bau der Mauer in den Westen zu übersiedeln. 1968 kulminierte in Westberlin – in einer Art „Pogromstimmung“ (Wimmler) – die „Propaganda“ vor allem der Springer-Presse gegen die Außerparlamentarische Opposition (APO), die vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und Gruppen wie dem Republikanischen Club (RC) getragen wurde. Die APO hatte infolge des Todes von Benno Ohnesorg (durch eine Polizeikugel während des Schah-Besuches im Juni 1967) ihre Proteste verstärkt und wurde von der Presse zusehends diffamiert. Das Schussattentat auf Rudi Dutschke, dem Sprachrohr des SDS, so Wimmler in seinen Ausführungen, sei eine Folge solcher „Pogromstimmung“ gewesen. (Tatsächlich trug der Attentäter am 11. April 1968 einen Artikel der Deutschen National-Zeitung mit der Titelzeile „Stoppt den roten Rudi jetzt“ bei sich.)

Wimmler macht aufmerksam, dass bei Analysen bzw. historischer Betrachtung des Jahres 1968 vernachlässigt wird, dass sich schon zuvor eine gravierende Medienveränderung entwickelt hat. Schon am 25. Juli 1967 fand in Regie der BBC die erste weltweite Fernsehsendung in Konferenzschaltung mittels Satellitenübertragung statt. Weil im Kalten Krieg, nahmen die Staaten des Warschauer Pakts allerdings nicht an Our World – Unsere Welt. Augenblicke aus fünf Kontinenten teil. (Erstmals per Satellit übertragen wurde eine Rede John F. Kennedys am 11. Juli 1962. Damit ist das „Globale Dorf“ Marshall McLuhans schon älter.) In der Ausstrahlung von 1967 trat Maria Callas auf und die Beatles hatten für diese Sendung All You Need Is Love komponiert. Was von den USA vertuscht werden sollte und trotz medialer Möglichkeiten erst im Jahr 1969 an die Öffentlichkeit kam, war das von der US-Armee in Vietnam am 16. März 1968 begangene „Massaker von Mỹ Lai“. Die Veröffentlichung dieses Kriegsverbrechens durch den Journalisten Seymour Hersh, während dem 504 Zivilisten, Frauen Kinder und Greise, von Soldaten der US-Armee getötet wurden, trug entscheidend zur weltweiten Antikriegsbewegung bei. Einen aktuellen Bezug stellt Wimmler mit der Aufdeckung des ersten Giftgasangriffes in Syrien 2013, ebenfalls durch Seymour Hersh, her.
Neben den Vietmankriegs-Gegnern erlebte in den USA auch die Bürgerrechtsbewegung 1968 ein Aufkommen. Als „personifizierte Verbindung“ zwischen Kriegsgegnern und Bürgerrechtlern nennt Wimmler den Boxer Muhammad Ali, der seine Verweigerung des Militärdienstes mit der Aussage begründete: „Ich habe keinen Streit mit dem Vietcong. Kein Vietcong hat mich jemals Nigger genannt.“

Die USA, Westdeutschland, Frankreich und Italien, fährt Wimmler fort, waren die Länder, in denen Auseinandersetzungen im Jahr 1968 am bedeutsamsten waren, wobei „Ideen und Aktionsformen“ auf viele andere Länder der Welt ausgestrahlt haben. Auch in Japan und Mexiko kam es zu massiven Revolten gegen die Staatsmächte, wobei Anlässe in Japan, neben dem Vietnamkrieg, auch Umweltthemen waren. In Mexico City standen demokratische und soziale Rechte im Mittelpunkt der Proteste. (Am 2. Oktober versammelten sich 10.000 Menschen auf dem Platz der Drei Kulturen, um auf eine Ansprache von „Sócrates“ Campos Lemus, dem Anführer der Studentenbewegung zu warten. Ein Sonderkommando, das eigentlich zur Bewachung der Olympischen Spiele eingerichtet worden war, begann um 18 Uhr auf die Demonstranten zu schießen. 300 Menschen wurden getötet, 5000 wurden festgenommen. Am 12. Oktober eröffnete Präsident Díaz Ordaz die Sommerspiele unter dem Motto Olympiade des Friedens.)

In Österreich verliefen die Proteste vergleichsweise ruhiger. Um Mitbestimmung und Demokratisierung an den Hochschulen zu bewirken, fanden Hörsaalbesetzungen und Teach-Ins statt (der Begriff Teach-In wurde gewählt, um damit politische Agitation zu verschleiern, die an den Hochschulen ja verboten war). Es gab einige Solidaritätskundgebungen für Rudi Dutschke. Zu Zusammenstößen mit der Polizei kam es während Demos gegen den Vietnamkrieg und das Schah-Regime. (Für größtes Aufsehen sorgte ein Teach-In von Künstlern im Hörsaal 1 der Uni Wien. Am 7. Juni 68 agierten unter dem Titel Kunst und Revolution Günter Brus, Otto Mühl, Peter Weibel, Malte Olschewski vor etwa 300 „Hörern“. Valie Export lehnte damals eine Teilnahme ab und wurde mit den Worten „Spinnst? I' hab' a Kind!“ zitiert.)
Bedeutsam für Österreich hält Karl Wimmler einen in der Folge von 68 sich abzeichnenden kulturellen Wandel. Thomas Bernhards Dankesrede zur Verleihung des Staatspreises brüskierte den Unterrichtsminister Piffl-Perčević (ÖVP). Friedensreich Hundertwasser bespritzte die Wiener Kulturstadträtin Gertrude Fröhlich-Sandner (SPÖ) während einer Ausstellungseröffnung mit schwarzer und roter Farbe, riss sich daraufhin die Kleider vom Leib und rief: „Das ist das größte Scheißhaus in dem ich je gewesen bin.“
1968 erschien das Hauptwerk des Kulturhistorikers Friedrich Heer, in dem die Verbindungen der katholischen Kirche mit dem Nationalsozialismus offengelegt wurden: Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität. Die seit 1966 von Günther Nenning herausgegebenen Österreichische[n] Monatsblätter für kulturelle Freiheit (seit 1954 FORUM, in der Zeit Nennings in NEUES FORUM umbenannt) thematisierten entgegen bisheriger Haltung – unter der Leitung Friedrich Torbergs und finanziert von der CIA – nun Marxismus und Revolution. Der nicht gerade als extremer Linker zu bezeichnende österreichische Philosoph, Erkenntnistheoretiker und Ideologiekritiker Ernst Topitsch, der damals in Heidelberg lehrte, nannte die österreichischen Hochschulen „Enklaven des Salazar-Regimes in Mitteleuropa“. (Mit diesem drastischen Vergleich mit der faschistischen Regierung Portugals verwies Topitsch unter anderem auf die Situation, dass etwa nur die aufmüpfigsten unter den wenigen Mitgliedern des Bundes Sozialistischer Akademiker an den Universitäten sich offen zur Sozialdemokratie bekannten. In solchem Klima erhielten Kapazitäten wie Günther Anders, Hanns Eisler, Ernst Fischer, Heinz von Foerster, Viktor Frankl, Anna Freud, Ernst von Glasersfeld, Kurt Gödel, Gottfried Haberler, Joseph Matthias Hauer, Marie Jahoda, Robert Jungk, Oskar Kokoschka, Adolf Kozlik, Ernst Krenek, Paul Lazarsfeld und andere mehr keine Lehraufträge an österreichischen Hochschulen.)
Gleichermaßen als Resümee wie Aussicht auf die Zeit nach 1968 schließt Wimmler mit einem längeren Zitat aus einem Interview, das Rudi Dutschke schon am 3. Dezember 1967 einem deutschen TV-Sender gab. Darin die Sätze um damalige Motivation: „Wir können eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, eine Welt, die sich auszeichnet, keinen Krieg mehr zu kennen, keinen Hunger mehr zu haben, und zwar die ganze Welt. Das ist unsere geschichtliche Möglichkeit …“

Literaturempfehlung
Karl Wimmler: Mein Graz. Ein Jahrhundert in Bruchstücken. Graz (CLIO) 2017.

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