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... und dem Aufflackern öffentlichen Lebens in der Adventszeit
Venedig, Winter, morgens. Eine kleine Piazza, Pflaster, ein, zwei Bäume, menschenleer bis auf einen Mann. Die Sonne müht sich durch den Morgendunst. Der Herr - er ist wohlgekleidet - steht mitten auf dem Platz in der fahlen Morgensonne und liest in der weit aufgeschlagenen Zeitung. Er ist ganz bei sich, bei seiner Lektüre, in seinem Wohnzimmer, in der Öffentlichkeit. Alle rundum können ihn sehen. Er weiß das, er gehört zu ihnen und sie zu ihm. Er ist in der Öffentlichkeit zu Hause und macht dort ‚bella figura’.
Los Angeles hat keine Öffentlichkeit, wie wir sie herkömmlich verstehen. Los Angeles ohne Auto findet fast nicht statt. Und in einem Auto findet nur ein Minimum von Öffentlichkeit statt: Zwar sieht man (vor allem die anderen Autos), aber selbst wird man kaum gesehen, es sei denn, man fährt vor, steigt sichtbar aus. Das war früher bei wenigen Autos vielleicht noch ein Ereignis, aber im Gewühl moderner Siedlungen - von Städten sollte man vielleicht nicht reden, eher von Anhäufungen - ist das kein öffentliches Ereignis mehr. Ein öffentliches Ereignis, ein Ereignis der Öffentlichkeit ist gebildet von einer Gemeinschaft, deren Teile einander kennen, kennen könnten oder wollten. Die amerikanische Öffentlichkeit findet im Privaten statt, so man Zugang hat, halböffentliche Begegnungsstätten wie Wirtshäuser laden viel weniger zum Verweilen ein, einen öffentlichen Stadtraum, dessen Inbegriff die italienische Piazza, die griechische Agora ist, gibt es fast nicht.
Wir nördlichen Europäer sind aber auch keine richtigen Städter, keine urbanen Menschen, deren Bedürfnis nach Öffentlichkeit fast unstillbar ist. Wir sind immer noch Urwaldbewohner, die sich in ihren Blockhäusern verschanzen, in die sie andere nicht so schnell hineinlassen. Auch im Wirtshaus machen wir jeden Tisch zu einer Sperrzone und wenn wir uns in der sogenannten Öffentlichkeit bewegen, schleppt ein jeder die Aura des >noli me tangere< mit, wie ein wandelndes Blockhaus gewissermaßen. Wir müssen uns schließlich schützen gegen Regen, Wind und Schnee und - gegen den Einfall der anderen. Wie das halt so war in der Völkerwanderung, die die Südländer den ‚Einfall der Barbaren’ nennen.
My home is my castle, sagt der Engländer, auf Italienisch heißt das in etwa ‚sacro egoismo’. Dieser heilige Egoismus verfolgt seine Interessen, und dafür braucht er nun einmal Seinesgleichen. Der Mensch ist ein soziales Tier, das allein schlecht über die Runden kommt. Es muss kooperiert werden, um einander auszunutzen, um physischen und psychischen Tauschhandel treiben zu können. Das ist zwar bei uns „Barbaren“ auch nicht anders, aber wir hängen viel stärker der Fiktion an, „am stärksten ist der Mächtige allein“.
Die Kultur der Südländer, der Griechen und der lateinischen Derivate ist tausend Jahre älter. Als wir aus dem Urwald kamen, hatten die schon eine raffinierte Stadtkultur mit allem Drum und Dran, ja die Stadt, die polis, ist der Ursprung der mediterranen Kultur. Das Leben der Südländer findet in viel größerem Maß in der Öffentlichkeit statt, und sei es nur, dass sie wegen des Klimas mehr Zeit im Freien verbringen können. Auf der Agora oder dem Dorfplatz, bilden sie eine Schwadroniergemeinschaft, die in einem ewigen Hin und Her die Probleme wälzt. Auch sind sie als Anrainer des Meeres nun einmal offener, neugieriger und austauschfreudiger. Und sie bekennen sich zu ihrer sozialen Abhängigkeit, deren Ausdruck der Corso war und bis zu einem gewissen Grad immer noch ist. Da geht dann am späteren Nachmittag die ganze Ortschaft auf der Hauptstraße, dem Hauptplatz auf und ab, in immer neuen Paarungen wird, die Gemeinschaft vor Augen, geplaudert, intrigiert, denunziert, sehen und gesehen werden ist so wichtig wie miteinander, übereinander reden und beredet werden. Und, aus Kindern werden Leute, der Heiratsmarkt ist immer in Betrieb. Die Menschen bilden aktiv und offensichtlich Öffentlichkeit, die Fassaden der einrahmenden Häuser sind sorgfältig gestaltet und bilden so das gemeinsame Wohnzimmer.
Bei uns Nachkommen der „Barbaren“ hat spätestens mit der Gründerzeit das Bürgertum mit der Etikette ein strenges Regelwerk der Öffentlichkeit eingerichtet, die Fassaden der Gründerzeithäuser bildeten das Wohnzimmer und die Bürger näherten sich dem urban-mediterranen Vorbild. Der Couleurbummel der Studentenverbindungen ist dessen extremster Ausdruck. Man erging sich im städtischen Raum, in diesem Fall als Rudel, um präsent zu sein und andere in ihrer Präsenz zur Kenntnis zu nehmen. Es war die große Zeit der Spaziergänger, die um der Lustbarkeit willen unterwegs waren, die Müßiggang mit der Teilnahme am sozialen Geschehen verbanden, die beobachtend und sinnierend leichten Schrittes durch die Straßen wandelten, die ab und zu verweilten, mit einem Plauscherl Kontakt aufnahmen. Sie machten kein Hehl aus der Ziel- und Zwecklosigkeit ihres Herumschlenderns, sie waren ganz bei sich in ihrem Selbstvollzug. Ab und zu betrat der Flaneur eine Bar, setzte sich in einen Gastgarten, unterhielt sich, flirtete mit einem Mädchen - er hatte ganz offensichtlich nichts zu tun, nichts im Sinn, er konnte sich den Müßiggang leisten oder tat zumindest so. Das bürgerliche Zeitalter hatte seinen Höhepunkt erreicht, der emsige Bürger hatte dem Adel die Dominanz entwunden und versuchte sich in der Kunst des kultivierten Müßiggangs, die bis dahin der feudalen Oberschicht vorbehalten war.
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Gernot Lauffer wurde 1942 in Kitzbühel veröffentlicht, besuchte öffentliche Bildungseinrichtungen in Zell am See, Graz, Huben in Osttirol und Innsbruck sowie die öffentlichen Vorlesungen der TH Graz, machte mit Klaus Kada Archtitekturentwürfe auch durch Verwirklichung öffentlich und veröffentlicht nun schon seit Jahrzehnten die Zeitschrift STERZ, um abdruckbare Kreativeinfälle zu einem Thema öffentlich zu machen
Kontakt: zeitschrift@sterz.mur.at