24/09/2007
24/09/2007

Veronica Kaup-Hasler
Eröffnungsrede steirischer herbst 2007
Graz, 20/09/2007

Als ich vor einem Jahr meinen ersten steirischen herbst eröffnet habe, ist etwas passiert, was zum Albtraum einer Festivalintendantin gehört. Ich habe in der Nacht nach der Eröffnung aufgrund einer Erkältung die Stimme verloren. Und das zwang mich in den darauf folgenden Tagen zu krächzen und dann einfach den Mund zu halten.
Trotz aller Verärgerung war das auf eine besondere Art ein heilsamer Moment, denn in der Tat ist eine Eröffnung eines Festivals der Zeitpunkt, an dem sich die an der Konzeption und Planung beteiligten Kuratoren und Dramaturgen zurücknehmen. Der Raum gehört ab heute den Künstlern und allen, die an der Realisation mitarbeiten und vor allem Ihnen: dem Publikum.

Und so hat der steirische herbst 2007 seinen Anfang mit einem künstlerischen Ereignis begonnen. Die eben erlebte herausfordernde Geräusch- und Klanginstallation von Staalplaat Soundsystem ist zugleich auch die Eröffnungsproduktion des ORF-eigenen Festivals für Neue Musik, dem musikprotokoll, das heuer – wie der herbst auch – sein 40jähriges Bestehen feiert.

VIERZIG JAHRE, das ist für ein interdisziplinäres Festival zeitgenössischer Kunst beachtlich und alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Der steirische herbst hat es über all die Jahre geschafft, sich immer wieder neu zu positionieren und zu erfinden. Er hat Schwerpunkte gesetzt und Impulse aus der Kunst aufgenommen und verstärkt.
Außerordentlich ist auch, dass der herbst trotz und durch die Herausforderung, vor die er sein Publikum stellt, ein wichtiger Bestandteil kultureller Identifikation geworden ist. Sie findet ihr Echo in unzähligen Geschichten, Anekdoten um Skandale, um befremdliche und begeisternde Ereignisse aus allen Bereichen der Kunst.

Wir wollen dieses Jubiläum zum Anlass für einige allgemeinere Überlegungen nehmen: So fragen einige der gezeigten Arbeiten danach, welchen Zugang wir noch zu früheren avantgardistischen Positionen finden. Die norwegischen Baktruppen etwa eignen sich sehr eigenwillig eine Choreographie von Merce Cunningham an und Mathilde Monnier konfrontiert ihre Choreographie mit Musik von György Ligeti. Ligeti wurde übrigens beim allerersten musikprotokoll vor vierzig Jahren aufgeführt.
Andere Projekte wiederum folgen, den Spuren, die der herbst selbst in den Köpfen hinterlassen hat – so wie die Audio-Tour von plan b durch das Gedächtnis und die Straßen von Graz.
„Reading Back And Forth“ - so heißt eine spezielle herbst-Ausstellung im Stadtmuseum. Sie untersucht das Verhältnis von Kunst und Öffentlichkeit, das die Politiken des Festivals bis heute geprägt hat.

Ein anderer wichtiger Impuls für den diesjährigen steirischen herbst war die Auseinandersetzung mit dem Begriff NAHE GENUG.
NAHE GENUG – beschreibt einen performativen Zustand Es geht um die Bewegung zueinander und voneinander weg, um die verschiedenen Möglichkeiten von Nähe und Ferne. Es dreht sich auch um das Aushandeln von Symmetrie und Asymmetrie in Beziehungen, das die Verhältnisse erst lebendig hält.
NAHE GENUG meint die Kunst des richtigen Abstands in Naheverhältnissen. Sie gilt sowohl für Liebe als auch für Arbeitsverhältnisse, für ästhetische Erfahrungen als auch für die Politik.
Amos Oz hat das Hingezogen-Sein und das Sich-Entziehen mit dem Verhalten von Igeln in Sibirien verglichen: Sie rücken in der Kälte aneinander, um nicht zu frieren. Dann stechen sie sich und rücken wieder auseinander und fangen wieder an zu frieren. Zusammen und auseinander. Immer wieder. So einfach ist das mit Beziehungen. Und so kompliziert. Es geht in allem um die gut gewählte Distanz, die, wie Dirk Baecker es im Magazin des steirischen herbst beschreibt „Nähe nicht mit Verschmelzung und Ferne nicht mit Abwesenheit“ verwechselt.
NAHE GENUG: das ist ein Sehnsuchtsort, wenn er entfernt ist – und ein Zuviel, wenn er erreicht ist.
So ist es in der Liebe, in Freundschaften, familiären Strukturen und anderen konkreten sozialen Gefügen des Alltags.
So ist es auch auf dem etwas weiter gefassten Feld der Politik. Wer Abkommen, Gesetze oder gar Verfassungen macht, befindet sich in permanenten Statusverhandlungen. Dieser Status wird im Spannungsfeld von Nähe und Distanz verhandelt, indem Übereinstimmungen und Differenzen, Rechte und Pflichten, Grenzziehungen und Grenzöffnungen diskutiert werden.
Wie eng ist Europa tatsächlich aneinander gerückt?
Welchen Status soll die Türkei im Verhältnis zur jetzigen Europäischen Union erhalten?
Wie nah ist Afrika? Vom spanischen Festland trennen uns nur 14 Kilometer. Doch auf beiden Seiten der Straße von Gibraltar werden fast täglich ertrunkene Flüchtlinge an den Strand gespült.
Und so ist – um ein aktuelles Beispiel aus Österreich zu nennen – auch bei uns eine aufgeheizte und undifferenzierte Diskussion zum Thema Islam und Integration im Gange.
Ich frage mich: Inwieweit ist dies nicht auch Ergebnis eines falschen Identitätsbewusstseins und einer fehlender Unterscheidungsfähigkeit, wie wir Nähe und Ferne zu anderen Kulturen bestimmen?
Sind wir uns der eigenen Werte bereits so unsicher geworden, dass uns die gelebten Werte der anderen bedrohen?
Müssen Grenzziehungen gegenüber einem radikalen Islamismus einhergehen mit einem Pauschalverdacht und einer Abwertung von Kultur und Glauben der friedlich in Österreich lebenden Muslime?
In dieser Logik der Einfalt wird plötzlich das Kopftuch und der Bau von Moscheen zum Zankapfel in einer engstirnigen populistischen Debatte. Von „den Anderen“, die man nicht kennt, nicht versteht und weiterhin wie Fremde behandelt, wird Integration in unsere „Leitkultur“ gefordert.
Wer würde sich gerne in so eine „Kultur“ integrieren, die auf den Anderen tatsächlich als Bürger zweiter Klasse herabblickt?
Wer wird sich im Dialog öffnen, wenn die eigene Religion als implizit gewalttätig denunziert wird?
Wer wird denn an so genannte „europäische Werte“ glauben können, wenn man dann im Alltag ihr Gegenteil erlebt: Ausschluss, Desinteresse, fehlende Bildungschancen, mangelnde Möglichkeiten der Mitbestimmung und Mitgestaltung in unserer Gesellschaft?
Wer auf diese Probleme nicht NAHE GENUG hinsieht, unterminiert als Politiker eine wesentliche Säule des demokratischen Grundverständnisses: die der Glaubensfreiheit.

Auch in der zeitgenössischen Kunst wird der performative Zustand des NAHE GENUG, inszeniert und rezipiert. Es ist ein Zustand in der Zeit, der Moment vor der Katastrophe oder dem Glück. Im Ästhetischen sind wir ständig mit dem performativen Zwiespalt konfrontiert: Wir nehmen teil und wissen, dass es schon vorbei ist. Ein Prozess, kein Produkt. Bewegung, keine Statik. Ein Beständiges Heran-„zoomen“ und Aus-„faden“. Ständig der Erfüllung nahe und gleichzeitig von nichts weiter entfernt. „Nahe genug“ ist ein alternatives Modell zu der von Werbung und Lifestyle propagierten Vorstellung, dass ineinander Verschmelzen uns das Glück beschert.
Im Gegenteil: „Das Gesetz des Berührens ist Trennung.“ (Jean-Luc Nancy). Kunst berührt, wenn sie abstößt oder festhält, aber auch, wenn sie uns – vielleicht zufällig, vielleicht nicht einmal benennbar – auf uns selbst zurückwirft, auf einen Moment, eine Erinnerung, ein verdrängtes Ereignis vielleicht.
Manchmal ist es der Einbruch der eigenen Wirklichkeit – manchmal aber auch der Aufbruch einer anderen Realität. Oft kommt Kunst gerade dann nah, wenn sie uns überlistet, wenn sie schneller, langsamer, schlauer oder naiver ist als die eigene Wahrnehmung.

NAHE GENUG – Sie werden dieses Leitmotiv, mal offensichtlicher, mal versteckter in den zahlreichen Produktionen des Festivals finden. Diese sind fast ausschließlich neue Arbeiten, die für und durch den steirischen herbst entstanden sind. Das ist nicht ohne Risiko – schließlich weiß man vorher nicht genau, wo der künstlerische Prozess hinführen wird. Aber es ist wichtig, diese Tradition zu wahren: Kunst zu ermöglichen, nicht nur vorzuführen. So entstehen wieder zahlreiche Arbeiten, die anschließend in Europa und darüber hinaus weiter zu sehen sein werden.

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