Brunswick Center London
Brunswick Center in London von Patrick Hodgkinson, 1972
©: Eugen Gross

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Rezension
Urbanität durch Dichte?

Der Transcript Verlag, Bielefeld, hat ein bemerkenswertes Buch herausgegeben, das sich in umfassender Form mit Großwohnkomplexen der 60er- und 70er Jahre in Europa befasst. Autorin ist Karen Beckmann, die diese Thematik als Forschungsarbeit für eine Dissertation an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover behandelt hat.
Sie weist darauf hin, dass Großwohnkomplexe ein besonderes Feld innerhalb der wieder aktuellen Situation von urbanen Wohnquartieren als Stadterweiterungen darstellen, die durch zwei gegensätzlich erscheinende Merkmale gekennzeichnet sind: einerseits die Zeitbezogenheit auf eine „Boomzeit“ des Wiederaufbaus nach dem zweiten Weltkrieg und andererseits die Erkennbarkeit von Bruchlinien zur klassischen Moderne, die sich als Abkehr von den Prinzipien der städtischen Funktionstrennung im Gefolge der Charta von Athen darstellt und eine qualitative Funktionsüberlagerung postuliert. Dem entsprechend weist das Buch den Untertitel Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe auf.
Das Buch ist das Ergebnis einer profunden und systematisch fundierten Forschungsarbeit, das zugleich gut lesbar ist.

Zunächst wird das Forschungsziel als in die Zukunft weisende Problematik umrissen, dann eine Analyse der europäischen Wohnbauentwicklung hinsichtlich der Typologien und länderspezifischen Voraussetzungen vorgenommen und schließlich die Komplexität als entscheidendes Merkmal in den Vordergrund gerückt, die anhand einiger Fallbeispiele dargelegt wird. Diese umfassend analysierten Wohnanlagen sind das Brunswick Center in London, die Olympiastadt in München und die Terrassenhaussiedlung Graz-St.Peter.

Die Dissertantin hat zu diesem Zweck aufbauend auf einem Literaturstudium zu den Projekten diese besucht und Interviews gemacht, die sich auf die Erfassung der Planungsprinzipien, die Umsetzung als Bauwerk, Veränderungen am Bauwerk und die Nutzereinstellungen bezogen. An allen drei Bauwerken sind nach über 40-jähriger Nutzungsdauer Sanierungsmaßnahmen vollzogen worden, die jedoch das ursprüngliche Erscheinungsbild nur geringfügig veränderten. Trotz teilweiser negativer Einstellung der Öffentlichkeit zu diesen Bauvorhaben zur Zeit ihrer Errichtung – sie stellten „Inseln“ im Stadtkörper dar – konnte die Bewohnerzufriedenheit heute als unvermindert hoch festgestellt werden. Auf die Gründe wird in der Arbeit näher eingegangen.

Dem Buch wird einleitend die grundlegende Motivation der Autorin vorangestellt: „Entscheidend für das Forschungsinteresse an diesem Thema ist dabei die Feststellung, dass städtebaulich verdichtete Bebauungsstrukturen heute im Hinblick auf anwachsende Megastädte und dem Wiedererstarken der Stadt als Wohnort eine neue Aktualität erhalten“.

Die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen der 60er- und 70er- Jahre bilden die Basis für die Auseinandersetzung mit dem Wohnbau. Auf der einen Seite sind es die Aufbaukräfte der Wiederaufbau-Zeit nach den Zerstörungen des 2. Weltkriegs mit dem sich daraus ergebenden Bau-Boom, auf der anderen revolutionäre Tendenzen, die auf eine Neuordnung der gesellschaftlichen Realität, die durch Stagnation gekennzeichnet war, zielten. Gesellschaftsentwürfe, die eine Befreiung von Zwängen auf allen Ebenen postulierten – Verwaltung, Bildung, Raumgestaltung – mündeten in utopische Entwürfe, die einen anderen Umgang mit dem Raum zum Inhalt hatten. Gemeinschaft bildende Kräfte, die der ressourcenfeindlichen „Raumvernichtung“ entgegenstanden, gewannen an Gewicht. Politische Entscheidungsträger begannen sich ihrer Verantwortung für eine urbane Umwelt, die mehr als Massenproduktion von Wohnbau sein musste, bewusst zu werden. Ungezügeltes Wachstum der Städte mit extensiver Landverschwendung sollte durch eine neue Konzeption des Städtebaus als kommunale Aufgabe hintangehalten werden.

Zugleich hatte sich architekturgeschichtlich ein Paradigmenwechsel vollzogen. Der CIAM – Congrès Internationale d`Architecture Moderne –, der über Jahrzehnte Träger von Architekturkongressen und freies Diskussionsforum der aufkommenden Erneuerungstendenzen in der Architektur war, hatte bereits 1953 bei einem Kongress in Aix-en-Provence unter dem Thema Habitat den Menschen in das Zentrum des Interesses gerückt. Teilnehmer wie Georges Candilis, Shadrach Woods, Alison und Peter Smithson stellten in Projekten die traditionelle Form der Straße als Kommunikationsraum hervor, um Konsequenzen für den zeitgenössischen Städtebau zu fordern:
„It is the idea of the street, not the reality of the street, that is important – the creation of effective group spaces fulfilling the vital function of identification and enclosure making the socially vital life-of-the streets possible“.
Bei weiteren Arbeitstreffen der den CIAM konstituierenden Gruppe schälte sich das TEAM TEN heraus, das über die französischen und englischen Teilnehmer hinaus die Proponenten der neueren niederländischen Architektur um den Vordenker Aldo van Eyck als auch Kenzo Tange einbezog, der die auf japanischem Denken aufbauende metabolistische Idee des Wandels in der Kontinuität vertrat. In Vorbereitung eines größeren Kongresses 1959 in Otterlo wurde auch Prof. Hubert Hoffmann als ehemaliger Bauhaus-Schüler, der auf die Städtebaulehrkanzel in Graz berufen worden war, eingeladen.

Dieser Kongress kann als die Geburtsstunde des Strukturalismus in der Architektur angesehen werden, bei dem anhand von Beispielen von Teilnehmern der Zeit ein besonderes Gewicht eingeräumt wurde. Bereits Allison und Peter Smithson hatten in einem Text darauf hingewiesen, dass es in der modernen Stadtplanung eines regressiven Schrittes bedarf, der auf wieder zu gewinnende Urbanität hinzielt. Diese müsse durch Überlagerung von Funktionen und Vermischung zu erhöhter Kommunikation und Verlebendigung des Stadtbildes führen. Durch Differenzierung der Typologien der Wohnbauten und Wegführungen auf verschiedenen Ebenen sollte dieser herbeigeführt werden, wobei der Begriff der Straße als neuer Kommunikationsraum aufgefasst wird. Strukturalistisches Denken verleiht dabei der Rezeption – eine individuelle Qualität – neben der Produktion – eine technologische Herausforderung der Zeit – entsprechendes Gewicht.

Die Autorin gewichtet daher Ihre Kriterien der differenzierten Wohnhaustypologie, der Funktionsüberlagerung und der Integration in den öffentlichen Raum in wohnpsychologischer Sicht, in der weniger die technische Umsetzung eines Programms als die reale Wohnerfahrung steht. Entsprechend hat sie neben einer Übersicht über eine Reihe bemerkenswerter Wohnanlagen der europäischen Nachkriegsmoderne drei ausgewählte Beispiele persönlich besucht, analysiert und Einwohner bzw. Bauträger interviewt.

Vorausgehend hat sie eine kurze Charakteristik von nahezu 30 Wohnanlagen in Europa vorgenommen. Sie reicht im Hinblick auf die Integration des öffentlichen Raumes vom frühen Beispiel der vielbeachteten Hangsiedlung Halen bei Bern vom Atelier 5  über die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße von Architekten Heinrichs und G.+ K. Krebs in Berlin bis zur Großwohnanlage Toulouse Le Mirail von Candilis, Shadrach, Woods. Auch der Erhaltungszustand der Wohnanlagen, die mehrfach experimentellen Charakter hatten, wird angesprochen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass einige dieser Wohnanlagen nur in teilweiser Umsetzung des Programms realisiert wurden, gravierende Veränderungen in der Zeit erfuhren oder bereits aus sozialen oder technischen Gründen abgetragen wurden.

Verfasser / in:

Eugen Gross

Datum:

Wed 02/09/2015

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Urbanität durch Dichte?
Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe

Karen Beckmann eröffnet neue Sichtweisen auf die Architektur der 1970er Jahre und Strategien für den Umgang mit Gebäudestrukturen dieser Art. Ihre Aktualität zeigen Projekte wie das Brunswick Center in London, die Olympiastadt in München und die Terrassenhaussiedlung in Graz-St.Peter.

Karen Beckmann (Dr.-Ing. Architekt) lebt und arbeitet als Architektin in Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben Architektur- und Städtebaugeschichte der 60er/70er Jahre Fragen zu Architekturrezeption und -produktion.

transcript Verlag, 2015
500 Seiten,
kart., zahlr. Abb.
39,99 Euro
ISBN 978-3-8376-3063-3

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