08/11/2013

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08/11/2013

Überwachung immer und überall?

©: Emil Gruber

Das gehört zum Unverbrüchlichen, das mir aus dem Studium der Rechtswissenschaften geblieben ist: Selbst wenn man hinter jeden Staatsbürger einen Polizisten stellt, garantiert das noch nicht die Einhaltung der Gesetze. Und was ist schon eine unauffällig angebrachte Videokamera, verglichen mit einem ordentlich Uniformierten? Anlass für diese Überlegungen ist die Absicht der Holding Graz zu den 269 von ihr bereits eingesetzten Kameras in 35 Bussen weitere 268 Kameras einzusetzen – die Bewilligung der Wiener Datenschutzkommission vorausgesetzt.

In Red Road (2006), dem ersten Film von Andrea Arnold, verfolgt Jackie Morrison die Kameras in einer Glasgower Überwachungszentrale. Bezeichnenderweise ist es die Beamtin selbst, die sich der Videobänder bedient, um einen mittlerweile längst verurteilten Typen zu verfolgen, der vor Jahren ihre Familie betrunken mit seinem Auto getötet hat. Arnolds Film wirft mindestens zwei Fragen auf: Erstens, wenig originell, wer überwacht die Überwacher? Und kann, zweitens, durch die Überwachung oder die Androhung der Überwachung ein geplantes Übel oder ein jäh hereinbrechender Schrecken verhindert werden?

Der ubiquitäre Gebrauch von Filmkameras trägt mittlerweile mehr zur Verfinsterung der Welt bei als zu ihrer aufklärerischen Erhellung. Im öffentlichen Raum eingesetzte Videokameras werden zu einer Art vorbeugendem Disziplinierungsmittel für die "unteren Schichten". Der öffentliche Raum wird entweder kommerzialisiert bzw. privatisiert oder in seiner Qualität gemindert – beispielsweise durch den Ersatz altmodischer, brauchbarer Holzbänke gegen kalte Stahlkonstruktionen. 

Im Zug dieser Entwertung der öffentlichen Räume (und Verkehrsmittel) gilt die stillschweigende Annahme, dass sie hauptsächlich von Unterprivilegierten genutzt werden, denen eine gesunde Disziplinierung nicht schadet. Durch die Montage von Kameras wird der Raum erst, oder zumindest zusätzlich, als Gefahrenzone definiert. Locker gesagt, beschleunigen Überwachungskameras gerade jene Verfallserscheinungen, die sie verhindern sollen. In England wurden früher, als es noch Taschendiebe gab, diese zur Strafe gehenkt. Und ausgerechnet während sich der Verurteilte zu Tode zappelte, hatten seine Kollegen in Freiheit ihre Hochsaison. Soviel zur Abschreckung.

Der Einsatz elektronischer Kameras lässt sich unter architektonischen Gesichtspunkten sehen. In Überwachen und Strafen geht Michel Foucault auf Jeremy Benthams Konzept des Panopticons ein. Dabei handelt es sich um einen Ringbau, dessen Zellen von außen und zum Zentrum für den Lichteinfall geöffnet sind. Von dem Turm im Zentrum lassen sich die Silhouetten (und das Verhalten) der Gefangenen jederzeit vom Wächter kontrollieren, er wird gesehen, ohne gesehen zu werden. Das Panopticon ist also eine Maschine, die Insassen – in dem Fall Bürger, Fahrgäste – einerseits automatisch zu ohnmächtigen Objekten der Beobachtung macht  und andererseits Machtausübende, Beobachter, etabliert.

Die postmoderne Gegenwart verzichtet allerdings auf die Idee eines Zentralbaus. Die solide Architektur wird ersetzt durch überall verteilte elektronische Apparate (Kameras), die zwar keine Form oder Struktur ergeben, dafür aber die Welt insgesamt in ein Gefängnis ohne Freiräume und ihre Bürger in Gefangene verwandeln. Der dezentralisierte, allgegenwärtige elektronische Überwachungskomplex entspricht der Multitude von Negri/Hardt, dem Netzwerk der Vielen, dem die beiden Autoren wohl utopisch die Demokratisierung der Weltgesellschaft zuschreiben. Interessant ist, dass Panopticon (16. Jhd.)  und Multitude (17. Jhd.) beide zum Ursprung einer Aufklärung gehören, die "im Subtext" immer noch nachwirkt.

Versuchen wir eine unauffällige Überleitung von der Ideengeschichte zum Geld: Die Holding Graz – per definitionem um das Wohl der Bürger besorgt – installiert also mit deren Geld Überwachungskameras. Ist die Frage gestattet, wer die Geräte zu welchem Preis verkauft, betreibt und wartet?
Oder so: An Stelle praktizierter Paranoia ginge es doch darum, öffentliche Räume bzw. Lebensverhältnisse zu schaffen, die republikanische Tugenden und das Vertrauen in sie stärken. Derzeit schwächeln sie leider dahin. Niemand heult bei diesen kaltblütig durchgeführten Überwachungsplänen auf.

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