13/09/2018

Transparenz, Widerhall und Integrität

Drei Neuerscheinungen in der Camera Austria Edition:

– Horáková + Maurer: TPX-Index
Karina Nimmerfall: Indirect Interviews with Women
Heidi Specker: Fotografie


Emil Gruber rezensiert.

.

13/09/2018

Horáková + Maurer: 'TPX-Index'

©: CAMERA AUSTRIA

Karina Nimmerfall: 'Indirect Interviews with Women'

©: CAMERA AUSTRIA

Heidi Specker: 'Fotografie'

©: CAMERA AUSTRIA

1947 revolutionierte der amerikanische Physiker Helmut Land die Fotografie. Zehn Jahre nach Gründung seiner Polaroid Company gelang es erstmals, unmittelbar nach einer Aufnahme ein fertiges Foto ohne Warten auf die Entwicklung in einem Labor in den Händen zu halten. Bis zur Digitalfotografie waren Polaroids für Fotografen wie auch Knipser das Non-Plus-Ultra des Bild-Sofort-Sehens. „Es gibt Wahrnehmungen, die Menschen ohne die Photographie nie vollständiger erfahren könnten. Die Welt steht still, damit die menschliche Zeit vorüberfließen kann. Fotografie ist eine Vorratskammer für die Sinne“, bemerkte Land einmal zu seiner Erfindung.

Zwischen 1996 und 2000 setzten Tamara Horáková und Ewald Maurer für ihre künstlerischen Arbeiten auf Polaroidfilme. Der Röntgen-Sofortbildfilm spielte einmal eine bedeutende Rolle in Wissenschaft und medizinischer Diagnostik. Bis zu seiner Einstellung wurde dieser Spezialfilm zusätzlich im Sicherheitsbereich verwendet. Diese Ambivalenz nahmen die beiden Fotografen auf und begannen gegen die „Laufrichtung“ des ursprünglichen Zwecks zu experimentieren. Nicht maximales Erkennen und eine Rückführung des Bildes zur Auswertung in einen vorgegebenen Kontext lautete die Aufgabenstellung, sondern der Grenzverlauf zwischen Material und Immaterialität, heute würde man "Augmented Reality“ dazu sagen, wurde zum Experiment. Diese Infragestellung von Anschaulichkeit gibt sowohl Reflexionen, Schatten wie auch haptischen Elementen, sei es ein ausgedienter Büroschrank, einem frühen Apple Computer als Antagonist des in Reduktion befindlichen Analogen oder dem Produkt Polaroidfilm selbst eine neue sinnliche Physis. Der Fotograf wird nicht mehr distanzierter Erfüllungsgehilfe vager Objektivitätsvermutungen, er wird zum Experiment selbst.
Der Enthusiasmus, die Essenz von scheinbar willkürlichen Objekten zu finden, etwas, das bewusst nach einer Konfrontation mit Versuch und Irrtum verlangt, kann vielleicht mit Edward Weston erklärt werden. In einem Tagebucheintrag im August 1927 erklärte der Meister der Abstraktion eines seiner Experimente pragmatisch: "Der Salat bewegte sich – verwelkte – während der langen Belichtungszeit; die Auberginen-Gruppe ist vielleicht zu offenkundig arrangiert; aber drei lange Rettiche haben mich genauso erregt wie einst die Muscheln. Ich ordnete sie zu einem großartig bewegten Rhythmus: Etwas, was leben wird."
Diese Lebendigkeit entsteht bei Horáková und Maurer durch eine präzise Organisation der Oberflächen und des Lichts. Inhalt und Form verschränken sich ineinander, Wahrnehmung und Empfindung lösen sich gleichzeitig aus. Horákovás und Maurers TPX-Index, der Titel, rührt von der Typenbezeichnung des verwendeten Polaroidfilms her, ist ein Kompendium eines – um nochmals eine Begrifflichkeit von Weston auszuborgen – Mosaiks von außerordentlich zarten Partikeln.

Ab 1940 begannen mitten in den deutschen Luftangriffen eine Gruppe von Künstlern, Schriftstellern und Filmemachern rund um London die Lebensverhältnisse der Engländer aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu untersuchen.
Siebzig Jahre später konzentrierte sich die Medienkünstlerin Karina Nimmerfall bei ihren Recherchen im Mass Observation Archive der Universität Sussex auf 1941 festgehaltene Aussagen von Frauen zur Wohnsituation während der Bombardierungen und deren Wünsche an den Wohnbau nach Kriegsende. Den ausgewählten Transkripten der Interviews werden aktuelle Aufnahmen der Häuser und Wohnviertel gegenübergestellt, in denen die Gespräche in der Kriegszeit stattgefunden haben.
In seinem Essay Der isolierte Augenblick schrieb 1965 der 2009 verstorbene Hörspielregisseur und Autor Heinz von Cramer „Photographie ist Information über die winzigsten Risse und Sprünge, von denen unsere Wirklichkeit, die wir so festgefügt glauben, durchzogen ist. Das was zwischen den sichtbaren Vorgängen geschieht, und von Auge und Verstand während seines Ablaufs nicht mehr wahrgenommen werden kann. Das was am Ablauf selber, im Ablauf, nicht wahrnehmbar wäre – wenn es eben nicht von der Kamera fixiert würde, authentisch, das heißt, ohne Urteil und Vorurteil.“
In Indirect Interviews with Women sucht Karina Nimmerfall genau nach diesen Spalten, die trügerisch unsichtbar bleiben, wenn Text oder Bild getrennt analysiert werden. Das “surrealste“ Phänomen sei die Zeit selbst, schreibt Susan Sontag in ihrem Buch über Fotografie. Erst die Zusammenführung, die Synthese von Bild und Text lässt überhaupt erst die Frage zu, ob auf einer Zeitachse nach Anspruch und Erfüllung gefragt werden kann. Sowohl die alten Texte wie auch die aktuelle Fotografie sind zunächst Fassaden. Sie aber im Jetzt in die Gleichzeitigkeit zu heben, löst einen wechselseitigen Prozess aus. Er muss nicht, aber er kann beide Welten vereinigen.

Fotografie nennt sich schlicht das dritte und aktuellste der 2018 in der Camera Austria Edition erschienene Buch. Auch in Heidi Speckers Bildern bleibt Zeit etwas Variables. Die Fotografin ist Sammlerin, wie sie selbst sich bezeichnet sogar Diebin, aber eine, die alles wieder zurückgibt. Was sie findet, kann als eine Art erstarrte Unruhe definiert werden. Sie entnimmt der Welt kleine Proben, gibt ihnen frische Perspektivität, formt Möglichkeiten, alchemistisch und in eigener Nomenklatur. Eine Fotografie jenseits einer erwarteten Zuordnung entsteht.
Die Luft wird von einem Fotodunst verseucht. Es zählt die Integrität des Fotografen, meinte 1981 Robert Frank. Specker verflüssigt diesen Dunst, seien es architektonische Elemente, Reisemomente oder der Fetisch eines Künstlerkollegen. Raum-Bedeutungs-Verhältnisse werden verschoben. Die Realität kommt im Bild immer zu spät. Diese Arbeitsweise von Specker, das Prüfen einer Logik im fotografischen Prozess, lässt für die Betrachter keinen Spielraum. Das Motiv lässt sich nicht dort verorten, wo wir es – konditioniert durch Erwartungshaltung und Erfahrung – erwarten.
Ähnlich der Vorgabe Andre Bazins bedient sich Specker der Leidenschaftslosigkeit des Objektivs, um  es von Gewohnheiten und Vorurteilen zu befreien, eine freie Sicht darauf zu erzeugen.

Neuerscheinungen in der Camera Austria Edition

Horáková + Maurer:
TPX-Index
256 Seiten, 118 Duoton-Abbildungen
Edition Camera Austria, Graz, 2018
€ 24,90

Karina Nimmerfall:
Indirect Interviews with Women
160 Seiten, 120 Farbabbildungen
Edition Camera Austria, Graz 2018  
€ 27.00                                                                                                                       

Heidi Specker:
Fotografie
32 Seiten, 13 × 21 cm, 20 Farbabbildungen
Edition Camera Austria, Graz 2018    
€ 10.00                                                                                                                       

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+