14/12/2009
14/12/2009

Bildungskrawatte. Foto: Emil Gruber

HS II, Tu Graz ist wird derzeit von der AG Architektur besetzt.

Anmerkungen zu den aktuellen Studentenprotesten

Mobilität, internationale Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigungsfähigkeit sind die drei Hauptziele des Bologna-Prozesses.
„Hahn“ aufs Herz, organisierte Bildung ist kein Verbrechen – trotz des italienischen Namens. Oder europäischer formuliert: die Bergen-Deklaration löste mittlerweile endgültig das Lissabonner Abkommen ab und führte als einer der Grundpfeiler des Bologna-Prozesses die Sorbonne-Erklärung konsequent zu Ende. Klingt etwas stumpf, dient aber nur einer fairen Vereinheitlichung des Studiums innerhalb der EU-Grenzen. Davon sind unsere Brüsseler Spitzen überzeugt.

Seit kurzem gilt für den Gemeinschaftsstudenten nun eine gesamteuropäische Leistungswährung: ECTS, das European Credit Transfer System, eine Art Wissens-Euro. Von Turku bis Catania gleiche Voraussetzungen, gleicher Studienaufbau, gleiche Zeitvorgaben. Das Studium wird als 40-Wochenstunden-Arbeit gerechnet, die Ferien als sechswöchiger Urlaub kalkuliert. Wer sich an diesen Trainingsplan hält, wird nach dem akademischen Dreihürdenlauf jubelnd im Ziel abdrehen können. Studieneingangsphase, Bachelor, Master als Staffellauf mit sich selbst, für den endgültigen Karriereweitsprung wartet eventuell noch der Doktor.

Bereits seit 2003, bei Inkrafttreten des neuen Hochschulgesetzes, sind Universitäten Körperschaften öffentlichen Rechts und haben praktisch wie Unternehmer zu agieren. Der Bund hat sich auf seine Rolle als Aufsichtsorgan zurückgezogen. Doch die Bildungsfabrik kommt seither nicht so recht ins Laufen.

Kurzer Realitycheck:
„Dieser Studienplan verhindert freies Studieren!“, ist das Kernthema der Arbeitsgruppe Architektur im besetzten Hörsaal II auf der TU Graz. „Kein Student kann sein Studium mehr selbst organisieren, wer die Vorgaben nicht einhält, verliert schnell die ersten Semester und damit auch allfällige Beihilfen.“ Wahlfächer werden daher nicht mehr nach wirklichem Interesse ausgesucht, sondern nach Aufwand. Die Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens und die Theorie bleiben so auf der Strecke, bemängeln die Besetzer. „Man kann nicht in drei Jahren jeden Studenten reif für den Master machen. Wenn ich nicht mit der Elite Schritt halte, werde ich zu einem Studierenden zweiter Klasse“, sorgt sich ein Erstsemestriger. „Die Bologna-Architektur macht uns zu besseren Fachhochschülern.“ Eine Abänderung des derzeitigen Beihilfesystems, die Abschaffung des Studienorientierungsjahres, ein Ende der Verschulung des Studiums sind daher u. a. Forderungen der AG Architektur an die Regierung.

Die Politik schafft sich derzeit Überblick, evaluiert und beabsichtigt. Der Wissenschaftsminister hat schon einmal spontan seinen nationalen Wissenschaftslegebatterien 34 Millionen Euro mehr für die studentische Bodenhaltung versprochen. Er gibt also für jeden der rund 230.000 Studierenden in Österreich eine zusätzliche Bildungsressource von € 150.-.
Wenigstens Prölls demnächst feststehender Superpraktikant wird vom System profitieren. Eine Woche Unkostenabgeltung beim politischen Paarlaufen und die daran anschließenden, ebenfalls bezahlten siebentägigen Schiferien schonen das studentische Budget. Sofern diese Auszeit in die jährlichen sechs Wochen, die dem Studenten nun als reale Erholung zugestanden werden, integriert werden können. Ansonsten droht dem angehenden Akademiker, ähnlich wie gut zwei Dritteln der Grazer Uni-Absolventen im Vorjahr, ein Überschreiten der Toleranzstudiendauer.

Der Präsident der Universitätenkonferenz und Rektor der Wiener Wirtschaftsuniversität Christoph Badelt hält statt Bildungsroulette mindestens weitere 966 Millionen Euro für notwendig, um im europaweiten Wettbewerb zu bestehen. Laut Ankündigung von Bundeskanzler Faymann kann die Anhebung der Bundesmittel von derzeit ca. 1,3 Prozent auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes – was der von Bardelt geforderten Milliarde entspricht – erst schrittweise bis 2020 erfolgen. Für diese Diskrepanz gäbe es eine einfache Lösung. Vor knapp einem Monat erklärte der österreichische Notenbankchef Ewald Nowotny in der Presse: „Der 15 Milliarden Euro schwere Topf für staatliche Eigenkapitalhilfen an Banken in Österreich ist zum größten Teil noch gar nicht ausgenutzt.“ Im Rahmen des neuen Unternehmensliquiditätsstärkungsgesetzes für Not leidende Großunternehmen konnten ja auch zusätzlich zum Bankenrettungsschirm weitere 10 Milliarden Euro reserviert werden.

Es war einmal in den 70er-Jahren, da ging der fertige Maturant auf eine Hochschule und inskribierte. Entschied er sich für Architektur, stellte er sich auf eine durchschnittliche Studiendauer von sieben, acht, manchmal mehr Jahren ein. Auch damals platzten manche Hörsäle aus ihren Nähten und Extrajahre, wenn man entscheidende Prüfungen versiebte oder sich eine Zeit lang außerhalb der Universität inspirieren ließ, waren auch nichts Seltenes. Die legendäre „Grazer Schule“ entstand nicht aus der Vorgabe, Lehrplänen hinterher zu rennen. Im Trigon Jahrbuch 1969 träumte der Belgrader Architekt Predrag Ristić in seinem Entwurf einer Studenten-Megapolis 2000: „der unterschied zwischen studenten und studenten wird am geringsten sein und die gesamte studentengruppe wird unter den anderen gruppen in der gesellschaft im durchschnitt das höchste niveau einnehmen.“

Vierzig Jahre später wird diskutiert, ob Bildung wirklich für alle gleich verfügbar ist oder ob die Universitäten in Zukunft nur mehr Eliten offen stehen werden.
Es ist wieder die Zeit für neue Utopien.

Verfasser/in:
Emil Gruber, Kommentar
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