21/10/2020

steirischer herbst – anderer Ansatz

Wilhelm Hengstler zum Festival 2020, das am 18. Oktober zu Ende ging.

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21/10/2020

steirischer herbst 2020, Paranoia TV Zentrale, Graz, Foto: Mathias Völzke

©: steirischer herbst

Eröffnungsrede von Chefintendantin Ekaterina Degot, auf Bildschirmen in der Innenstadt übertragen, Graz, Foto: Johanna Lamprecht

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Judy Radul, Der Grazer Spiegel (2020), Installation, Paranoia TV Zentrale, Graz, Foto: Mathias Völzke

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Janez Janša, Das Finale (2020), Hörspiel und Performance, Graz – zu hören in Grazer Taxis. Foto: Johanna Lamprecht

©: steirischer herbst

Nachdem er einen Film über Heiler im Himalayagebiet gesehen hatte beschwerte sich der Fett- und Filzkünstler Joseph Beuys: „Diese Schamanen haben buchstäblich alles bei mir geklaut!“. Und nach einem alten Werbespot von Humanic ist die Wirklichkeit nicht wirklich wirklich, aber wirklich ist sie doch. (Wobei der Slogan nicht nur den Konstruktivismus meint.)

Auch im steirischen herbst 2020 war allenthalben ein Leiden an der Wirklichkeit bzw. Unwirklichkeit zu beobachten: Utopien auf hohem Abstraktionsniveau im Forum Stadtpark, Thematisierung des Spannungsfeldes von Ungewissheit und Risiko im < rotor > mit In der Schwebe und Selbstbefragung der Autoren im Literaturhaus, ob ihnen nicht ihre erfundenen Figuren die Sätze in den Mund legten. Die Intendantin Degot selbst legte es auf  Verwirrung hinsichtlich ihrer zwei Eröffnungsreden, der Bio-Live-Rede im Orpheum oder der zeitgleich auf 99 Bildschirmen in der Grazer Innenstadt gezeigten, an. Auch der Titel ihres Leuchtturmprojektes Paranoia TV entsprach diesem Ansatz. Aber neu an dem hauseigenen Fernsehen war weniger der mittlerweile inflationäre Einsatz von digitalen Übertragungungen (Streaming, etc.). Genial war vielmehr der Kunstgriff der Intendantin Degot und ihrer Mitdenker, den technisch-digitalen Behelfen in Zeiten von Corona eine eigene, dramaturgische  Rolle zu geben. Das Streaming von Performances, das Ausstrahlen hausgemachten Fernsehformate wurde von einer inflationären, zweitklassigen Kommunikation aufgewertet zur künstlerischen Metaerzählung. Der Veranstalter wurde zum Künstler, der seine Verfahrensweisen reflektiert. Schöner war nur die Paranoia TV Zentrale im ehemaligen Schuhhaus Spitz, die vom Grazer Publikum viel zu wenig genutzt wurde.
Die Sendungen im Paranoia TV waren demgegenüber durchwachsen: Jede Menge Diskussionen, wirklich kluge Leute im gegenseitigen Austausch, also Zwei- und Dreiergespräche, Ulk mit möglicherweise tieferem Sinn. All das geadelt durch absichtsvollen Trash auf dem bekannten filmischen Amateurniveau. Was da verhandelt wurde, war auf einem beachtlichen Abstraktionsniveau in dem bekannten Sinn gut und richtig, Talking Heads könnte man sagen. Sicher, auch in der Steirischen Akadmie wurde viel gequasselt und selbst das wohlmeinende Publikum stöhnte unter Publikationswut von Intendant Haberl. Aber die Informationsfluten waren damals eher eingedämmt durch flamboyante Gegenprogramme. Ob gut oder schlecht, neben Trash und Realismus-Pulp zeigt sich Kunst immer stärker in Diskursform.
Und was hat das alles mit „Diese Schamanen haben buchstäblich alles bei mir geklaut!“, der Klage von Joseph Beuys zu tun? Der Schamane nimmt mit einem unsichtbaren Geist, der sich des Kranken bemächtigt hat, Verhandlungen auf und versucht ihn zu bestechen, damit er sein Opfer freigibt. Das wandelbare, für das unbewaffnete Auge unsichtbare Coronavirus oder der ungreifbare Kapitalismus können gut als böse Geister angesehen werden, der Gesellschaftskörper mit seinen Infizierten und Verarmten ist natürlich der Kranke und die Akteure im Paranoia TV geben die Schamanen. Am Ende der  traditionellen, künstlerisch-magischen Beschwörungen steht kluges Gerede, die schamanistische Ekstasetechnik (um Mircea Eliade zu  zitieren) mündet in Diskurse, das Rationale wird zum Irren. Alles klar?

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