01/09/2010
01/09/2010

Steirische Herbst 2010, Festivalzentrum im Forum Stadtpark. Gestaltung u. Schaubild: feld72, Wien

Steirische Herbst 2010, Festivalzentrum im Forum Stadtpark. Gestaltung u. Schaubild: feld72, Wien

Steirische Herbst 2010, Festivalzentrum im Forum Stadtpark. Gestaltung u. Schaubild: feld72, Wien

Steirische Herbst 2010, Festivalzentrum im Forum Stadtpark. Gestaltung u. Schaubild: feld72, Wien

HOCHGESTAPELT

Als Initiator partizipativer Prozesse changiert das Wiener Architekturkollektiv feld72 zwischen Künstler, Quartiersmanager und Bauarbeiter. Für den steirischen herbst haben sie das heurige Festivalzentrum entworfen (dzt. in Bau; Anm.): eine Skulptur aus 2000 Europaletten, deren provisorischer Charakter zum Weiterbasteln einlädt. Julia von Mende über feld72 und eine Architektur, deren Motiv und Methode die Ermöglichung ist.

Die Arbeitsweise von feld72 zu erklären fällt ebenso schwer wie eine Erfolgsgarantie für das Gelingen einer Party zu geben. Denn Anne Catherine Fleith, Peter Zoderer, Mario Paintner, Michael Obrist und Richard Scheich sind perfekte Gastgeber und Meister des Ephemeren. Der Motor ihres Schaffens ist ihr Interesse am Menschen und die Leidenschaft für die Begegnung. Dabei erzielen oft jene Projekte, die mit geringsten Mitteln realisiert werden, die größten Effekte.

In Graz dient ein standardisiertes Massenprodukt als Low-Budget-Baustein. Für die Dauer des steirischen herbst besetzen ca. 2000 Europaletten das Forum Stadtpark, durchqueren und transformieren es zu einem neuen Gebäude. Die aus der hocheffizienten Logistik des Warenverkehrs angemieteten Bausteine karikieren den gebetsmühlenartig wiederkehrenden Nachhaltigkeitsanspruch im aktuellen Architekturdiskurs, denn gegen Ende des Festivals werden sich die Paletten spurlos in ihren eigenen Stoffkreislauf verflüchtigen. Zuvor (hoch)stapeln sie sich zu einer raumgreifenden Skulptur, ragen als multifunktionale Tribüne aus dem Forum Stadtpark hervor und bedienen das räumliche Repertoire von der Bar bis zur Bühne, das sämtliche Formen des zwischenmenschlichen Vor-, Aus- und Aufführens provoziert. Die konstruktive Effekthascherei des Palettenwahnsinns, der angesichts seines provisorischen Charakters im Entstehen bereits von seinem Abbau kündet, scheint das diesjährige Leitmotiv der „Meister, Trickster, Bricoleure“ lauthals in den Park zu gellen und lädt zum Weiterbasteln ein. In einem Drahtseilakt lehnt sich das extrovertierte Gebilde weit hinaus in den Park und stellt zugleich über die Erschließungsbrücke den Rückbezug zum Forum Stadtpark her. Der Ort wird großflächig in Beschlag genommen, ohne den denkmalgeschützten Park dabei wesentlich zu berühren.

Die Lust, die Absurdität von Beschränkungen durch Regularien oder Gewohnheiten zu entlarven, um daraus Neues zu generieren, zieht sich wie ein roter Faden durch die Arbeit von feld72. Schon eine ihrer ersten urbanen Interventionen, „Toronto Barbecue“, warf mit Elementen der Schrebergartenkultur die Banalität der parzellenartigen Gestaltung des Museumsvorplatzes in Wien auf sich selbst zurück. In einer Umkehr von öffentlicher in private Nutzung und von Hochkultur in Alltagskultur setzten sie einen 24-Stunden-Aneignungsprozess durch die Bevölkerung in Gang – mit Plastikmöbeln und Planschbecken.

Über den Sommer 2002 wurde an diesem zentralen, bis dato ungenutzten Ort gegrillt, geplanscht und gecampt.
„Toronto Barbecue“ veränderte nicht nur die öffentliche Wahrnehmung des Stadtplatzes, sondern verschaffte auch feld72 selbst die nötige Popularität, um ihren Aktionsradius weiter auszubauen. So konnten sie gemeinsam mit Carlotta Polo an einer Studie für die Stadt Bozen und die Landesregierung Südtirol teilnehmen und die Empfehlung abgeben, den Boden der Stadt Bozen besser den lebenden Stadtbewohnern zur Verfügung zu stellen, anstatt ihn an Friedhöfe und die Obstlagerung zu verschwenden. Diese sollten besser in unterirdische Raumreserven verlegt werden. In der Unvoreingenommenheit gegenüber der Situation tragen solche Aussagen schelmische Züge und schlagen damit die Brücke zum Leitmotiv des steirischen herbst – zumindest zur ambivalenten Figur des Tricksters, des Narren oder göttlichen Schelms. Genauso wie der schöpferische und zugleich listenreiche Antiheld sind feld72 Grenzgänger: zwischen Urbanismus, Kunst und Architektur. Sie wirken an unterschiedlichen Orten und wechseln ihre Gestalt je nach Bedarf. Als Initiatoren partizipativer Prozesse changiert ihr Rollenverständnis zwischen Künstler, Quartiersmanager und Bauarbeiter, was ihnen scheinbar Unmögliches möglich macht.

Im Rahmen des Kunstprojekts „Paesesaggio – Azione Matese“ entwickelten feld72 für den Ort Prata Sannita eine Strategie, wie die durch Migration von Verödung bedrohte Region bei Neapel ihre kulturelle Identität erneuern könnte. Mit Einfühlungsvermögen und Sprachkenntnis gelang es, für den größtenteils entleerten Ortskern Prata Sannita Inferiore binnen eines Monats 40 Freiwillige aus benachbarten Ortsteilen zu mobilisieren, bei glühender Hitze und mit nur 10.000 Euro ihrem verfallenden Stadtteil eine zukunftweisende, neue Identität zu verleihen. Mit einfachsten Mitteln der Bricolage, wie Farbe, Beton und Holzbrettern, reinterpretierten sie vorgefundene Überreste von Zivilisation zu Hotelkomponenten. In verlassenen Ruinen und Felshöhlen entstanden etwa ein grünes Badezimmer mit Gummikordelwald, ein Schlafzimmer mit ausfahrbarem Bett, das über dem Abgrund schwebt, und eine im Sommer angenehm kühlende Blackbox.

Geführt wird das Million Donkey Hotel, dessen Räumlichkeiten in der Nebensaison den Einheimischen zur Verfügung stehen, von zu local heroes ernannten Gründungsmitgliedern. Die Begeisterungsfähigkeit der Anwohner und die Fähigkeit von feld72, andere Menschen in ihren Bann zu ziehen, wird für den Besucher spätestens beim Frühstück leiblich erfahrbar. Dann bringen die benachbarten Dorfbewohner stolz heißen Kaffee in Thermoskannen herbei, als wären sie Darsteller in einem modernen Eremitenspiel – hier in der Rolle des Hoteliers. Der Gast geht den impliziten Kontrakt ein, die Illusion des Hotels, das kürzlich im Rahmen eines internationalen Preises für Gastronomie- und Hotelbauten ausgezeichnet wurde, weiter zu tragen. Seine Bekanntheit hat das Million Donkey Hotel durch Mund-zu-Mund-Propaganda und das Internet erreicht, sodass selbst aus dem Dorf einst Ausgewanderte neugierig wiederkehren. Womit es seinen Zweck, die Wiederbelebung des Dorfes, erfüllt.

Neben dem sozialen Anspruch verhehlt es nicht seine Kritik an Klischees der Hotelindustrie und persifliert in seiner Zeichenhaftigkeit die inflationäre Verbreitung sogenannter Arthotels mit individuell gestalteten Zimmern sowie die überschätzte Bedeutung von Spa-Bereichen.

Tricks und Illusionen sind hier Mittel zum Zweck, Kritik zu üben und zugleich soziale Integration und Identität zu stiften. An diesem Punkt unterscheiden sich feld72 vom Trickster, der als Außenseiter moralische und soziale Werte ignoriert. feld72 fragt, wie man die im öffentlichen Raum wirkenden Kräfte und Regularien sichtbar machen kann und welche neuen Nutzungs- und Aneignungsvarianten sich dadurch eröffnen. Im Fokus stehen Menschen und mögliche Formen der Kommunikation. Das Destillat dieser Herangehensweise ist „Rent-a-hitchhiker“ aus dem Jahr 2002. Dieser Vorschlag für einen Autobahnabschnitt bei Rotterdam stellt ungenutzte Potenziale der Vernetzung persönlicher Kompetenzen in den Vordergrund.

Im Tauschgeschäft gegen eine Mitnahme mit dem Auto, sollten Tramper am Straßenrand – wie Steuerberater, Oma oder Pilates-Trainer – Rat und Expertise anbieten. Die Autobahn verliert dadurch ihre Monofunktionalität und wird zur Wissensbörse.

Die urbanen Strategien von feld72 werden im Kontext der Neuverhandlung von öffentlichem Raum diskutiert. Dabei spannt sich der theoretische Bezugsrahmen von Henri Lefebvres Ausführungen zum Raum als sozialem Produkt über die situationistische Aneignung von Alltagsräumen bis hin zum Einzug von Alltags- bzw. Popkultur in die Architektur, wie etwa von Denise Scott Brown oder Archigram gefordert. Sie sind in ihrer Generation zwar nicht die einzigen, die in einer handlungsorientierten Art und Weise an diese Themen der 60er Jahre anknüpfen, doch es fasziniert, mit welcher Penetranz ihre Arbeiten Klischees enttarnen und wie ihre Interventionen angenommen werden.

Auch wenn in der Vergangenheit weniger das Gebaute als das Spektakel sozialer Interaktion den Wirkungsgrad des multinationalen Kollektivs charakterisierte, sind feld72 Architekten. Inzwischen bauen sie Kindergärten, Wohnungen oder Bürogebäude. Der subversive Aspekt, der ihre urbanen Interventionen auszeichnet, läuft dabei Gefahr zu erstarren – denn am Ende eines Planungsprozesses, mag er noch so partizipativ sein, steht ein statisches Gebilde. So sehen sich die Architekten heute der Frage ausgesetzt, wie sich ihre kritischen Positionen in gebaute Formen transferieren lassen.

JULIA VON MENDE lebt und arbeitet als freie Architekturjournalistin in Berlin. Sie arbeitete als Redakteurin der Architekturzeitschrift ARCH+ und am Lehrstuhl für Hochbaukonstruktion und Entwerfen an der Technischen Universität Dresden.

Aus:
herbst. Theorie zur Praxis, das Magazin zum steirischen herbst 2010

Verfasser/in:
Julia von Mende, Bericht
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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