20/12/2009
20/12/2009

Abb. 1: NAi Rotterdam (Foto: J. Tornquist). Zur Vergrößerung auf das gewünschte Bild klicken.

Abb. 2: FORUM (Foto: JT)

Abb. 2 a: FORUM (Foto: JT)

Abb. 3: Paraísopolis, São Paulo (Foto: Rainer Hehl)

Abb. 4: Microrayons (Foto: JT)

Abb. 5: Microrayons (Foto: JT)

Abb. 6: Bart GOLDHOORN: Block City

Abb. 7: Black Rock City, Nevada (Foto: Gabe Kirchheimer)

Abb. 8: Modell Nahr el Bared (Foto: JT)

Abb. 9: Nahr el Bared (Foto: JT)

Abb. 10: The City on its Knees, AbdouMaliq Simone (Foto: JT)

JOHANNES FIEDLER

4. Architektur Biennale Rottderdam
"Open City - Designing Coexistence"Wenn man weiß, dass heute die Hälfte der Menschen in Städten lebt und wenn man weiters bedenkt, dass - wie Edward Soja kürzlich in Graz ausführte - die andere Hälfte ebenfalls in Städten lebt, dann ist es doch interessant zu sehen, welche konkreten Formen dieses Leben in Städten angenommen hat. Die 4. Architektur Biennale in Rotterdam und Amsterdam (www.iabr.nl) hat unter der Leitung von Kees Christiaanse eine Vielzahl von Perspektiven hergestellt und aus diesen erschließt sich eine kaleidoskopische Vielfalt von Phänomenen, Prozessen, Erkenntnissen, Projekten. (Abb. 2, 2 a)

Das werkstattartige Arrangement in der Haupthalle des NAi, die sechs parallelen thematischen Ausstellungen unterschiedlicher Kurator/innen , eine Veranstaltungsreihe und der umfangreiche Katalog vermitteln die Ergebnisse einer "Stadtforschung mit ästhetischem Anspruch". Diese Disziplin ist vor etwa 20 Jahren von Rem Koolhaas erfunden worden und hat sich als effektiv und publikumswirksam erwiesen. Vermittelt werden Tonnen von Wissen - so viel, dass man keine Zeit hat, Gedanken daran zu verschwenden, wozu dieses Wissen dienen soll. So erfährt man etwa…

- dass der Stadtteil Paraisópolis in São Paulo (95 ha, 500.000EW) - eine Favela ungeheuren Ausmaßes- nun als Zona Especial de Interesse Social gilt und zum Schauplatz umfangreicher Maßnahmen geworden ist: Straßen, Plätze, Sozialzentren, Kanalisation und: Experimentierfeld für Sozialinitiativen aller Art, begleitet von unzähligen Fachleuten, Universitäten und Architekten und Architektinnen aus aller Welt. Das Besondere: diese Favela war ursprünglich eine kommerzielle Stadterweiterung mit ordentlichem Rasterstraßennetz - und ist ins Informelle abgeglitten. Die bizarren Verdichtungen, die aus der Plan- aber nicht Regellosigkeit entstanden sind, gelten anderswo schon als Weltkulturerbe. (Abb. 3)

- dass - daran erinnert uns David Harvey in der Ausstellung SQUAT - die informelle Besiedlung nicht allein in Entwicklungsländern stattfindet. Heute leben in den USA viele Menschen illegal in ihren eigenen Häusern - weil sie sich der Zwangsversteigerung und Räumung widersetzen.

- dass es immer noch und immer wieder Menschen gibt, die glauben, Vorfertigung und modulare Bausysteme könnten den Armen zu billigem Wohnraum verhelfen. Zu sehen: das vielpublizierte System "Elemental" an der Avenida Perimetral in Santiago de Chile.

- dass übrigens schon bei der CIAM-Tagung im Jahr 1953 in Aix-en-Provence von den Architekten Candillis und Woods auf das Phänomen der „Bidonvilles“ in Nordafrika aufmerksam gemacht wurde und sie daraus - nicht ganz unberechtigt - das Scheitern des modernistischen Städtebaus ableiteten.
- dass in den semi-urbanen Randgebieten von Addis Abeba deutsche Professoren und Studierende mit den Menschen über ihre Alltagsprobleme reden und über ihre Wunschvorstellungen. In einer der Hütten gibt es sogar einen Poeten, der seinen Beitrag zur Neugestaltung des Gebietes leisten möchte. Andere wollen nur einen Brunnen.

- wie es aussieht, wenn - ebenfalls in Addis Abeba - die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit aus Eschborn bei Frankfurt im Low-Cost- Geschosswohnungsbau agiert. Das sieht dann aus wie im Kosovo. (GTZ-Projekt AAIHDP)

- dass es eine Internetseite gibt, wo man kleine Monografien informeller und spontaner Stadtphänomene deponieren kann: www.urbaninform.net

- dass die urbane Denkfabrik aus Caracas (www.urbanthinktank.org) nicht nur in Grotão (Paraísopolis, SP, s. oben) Gutes zu tun gedenkt, sondern natürlich und vor allem in Caracas, wo die Acción Social para Música (wir kennen das berühmte Jugendorchester) eine Behausung benötigt. Und dass auf diese Weise auch einem bildungsbürgerlichen Bedürfnis entsprochen werden kann: klassische Musik tönt aus den Slums.

- was aus den funktionalistischen Großblocks der Sowjet -Ära geworden ist, den sogenannten „Microrayons“. Wie die Autos den vormalig kollektiven Freiraum okkupieren und wie Zäune und Mauern errichtet werden und wie sich die unteren Wohnungen in Sonnenstudios und Fitnesscenter verwandeln und die Werbung an den Bauten hochkriecht (Trickfilm von Najila el Zein !). Man erfährt, dass sich diese „Microrayons“ regional sehr unterschiedlich weiterentwickeln, mit Weinreben in Georgien und Wachdiensten in Moskau. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass in manchen Fällen das Funktionieren der Aufzüge nur durch Einheben eines Fahrtgeldes gewährleistet werden kann. (Abb. 4, 5)

- wie überhaupt der Massenwohnbau in die Krise geraten ist - auch darauf wird im Ausstellungsteil COLLECTIVE aufmerksam gemacht. Der staatlich betriebene Massenwohnbau ist jedenfalls vorerst passé. Dort, wo es noch geförderten Wohnbau gibt, etwa in Holland, verkleidet er sich als marktwirtschaftlicher - raffiniert in kleine Produktionseinheiten zerteilt.

- dass es in diesem Zusammenhang zu einer Neubewertung des städtischen Blocks kommen sollte, als neutrale Grundeinheit der Immobilienproduktion, als Format des Zusammenwirkens von öffentlich und privat, indem das Gebäude direkt an den öffentlichen Raum grenzt und damit eben auch diesen öffentlichen Raum bildet. Dass die Architekturen solcher Blöcke als „readymades“ global gehandelt werden könnten, ist eine interessante Weiterentwicklung dieser Erkenntnis, unternommen von Bart Goldhoorn, einem der Kuratoren von COLLECTIVE. (Abb. 6)

- dass auch die Stadt Rotterdam ernsthafte Bemühungen unternimmt, nach den neoliberalen Metroplisierungsversuchen wieder Maßstab und Nutzbarkeit herzustellen - das erfährt man in einem eigenen Ausstellungsteil unter der Titel MAAKBAARHEID. Da müssen Autobahnkreuze überwunden und grüne Bänder hergestellt werden, eine alte Hochbahntrasse soll als urbaner Katalysator funktionieren. Man wird sich wohl auch bald mit der Requalifizierung der postmodernen Stadtcollage und mit der teilweise noch in Bau befindlichen Immobilienagglomeration Kop van Zuid beschäftigen müssen…

- welche Probleme zwischen den privaten Anrainern von Malibu Beach und dessen öffentlichen Nutzer/innen auftreten. Damit beschäftigen sich die Los Angeles Urban Rangers.

- wie man in der 1970er-Jahren in den USA versuchte, die Diskrepanz zwischen der de-jure und der de-facto-Gleichstellung aller ethnischen Bevölkerungsgruppen - also zwischen Schwarzen und Weißen, festgeschrieben im „Fair Housing Act“ von 1969 - dadurch auszugleichen, dass man die Kinder täglich mit Bussen in die Schulen der jeweils anderen verbringt (Stichworte „Busing“, „NAACP“) - und welche Strategien die weiße Bevölkerung dagegen entwickelte.

- dass gegen die Praktik des "blockbusting" (schwarze Agitatoren terrorisieren Bewohner/innen von weißen Wohngebieten und bewirken Notverkäufe unter dem Marktpreis, um die Häuser sodann mit Gewinn an die nachrückende schwarze Bevölkerung zu verkaufen) eine "Home Value Insurance" eingerichtet wurde, um wenigstens den ökonomischen Beweggrund für die "white flight" zu nehmen (erstmals praktiziert im Chicagoer Stadtteil Oak Park, heute Wohnsitz der Familie Obama). Aus diesen und anderen Beispielen in der Ausstellung COMMUNITY gewinnt man Einblicke in die Absonderlichkeiten des US-amerikanischen Siedlungswesens und das Ausmaß, in dem es von ethnischen Faktoren bestimmt wird.

- wie groß die Anzahl und Vielfalt der "Common Interest Communities" in den USA ist: Wohnanlagen für Pferdeliebhaber, Schwule, religiös motivierte Polygamisten, Senior/innen aller Schattierungen, Paare ohne Kinder. Es gibt auch Anlagen, wo man mit dem eigenen Flugzeug vor dem Haus parken kann. Dass diese Siedlungen durch eine Fülle privatwirtschaftlicher „Convenants“, "Conditions“, „Restrictions“ geregelt werden, sollte uns eigentlich nicht unbekannt sein - auch unsere "Wohnanlagen" funktionieren nach diesem Prinzip. Womit man auf das, in unseren Breiten weitgehend unbekannte Gegensatzpaar Staat/Gemeinschaft gestoßen wird. Gemeinschaft als Zusammenschluss Gleichgesinnter, als Schutzgemeinschaft gegen die öffentliche Sphäre, damit auch gegen das Prinzip der "offenen Stadt". (Abb. 7 )

- dass jedes Jahr zum "Burning Man Festival" in der Wüste von Nevada eine temporäre Stadt entsteht. Wie eine archaische Stadtanlage ist sie ganz auf die - in diesem Fall reichlich skurrile - Kultfunktion ausgerichtet.

- dass als physischer Effekt der Fragmentierung der US-amerikanischen Gesellschaft der vormals durchgängige offene Erschließungsraster (gridiron) des Landes verstümmelt wird. „Four-way crossings“, werden zu „three-way“ und „two-way“ - Knoten, um letztlich im Ideal der Siedlungsindustrie, der Sackgasse (cul-de sac) zu münden (dargestellt von Interboro, den Kurator/innen von COMMUNITY). Wer glaubt, das wäre eine Besonderheit der amerikanischen Siedlungsindustrie - der oder die sollte einmal genauer in unsere Landschaften und Städte schauen.

- inwieweit es möglich ist, durch "Community Benefits Agreements" private Investorinnen dazu zu bringen, im Abtausch gegen Baurechte weit gehende Umwelt- und Sozialmaßnahmen für das Gebiet zu sichern, wie etwa erfolgreich praktiziert im Zentrum von Los Angeles (Staples Cedar, L.A. Live). Ob damit nicht auch die Erosion des Öffentlichen unterstützt wird?

- dass künftige GPS-Navigationssysteme auch emotionale Faktoren berücksichtigen werden, also etwa das Vermeiden von "Problemgebieten". (Soweit könnte man tatsächlich noch kommen, sich so etwas zu wünschen, zum Beispiel um dem visuellen Stress zu entkommen, wenn man die Grazer Peripherie durchqueren muss.)

- dass palästinensische Flüchtlingslager längst den Charakter hochkomplexer Stadtviertel angenommen haben, in denen sich die wesentlichen Elemente der islamischen Stadt verdichten. Das sieht man unter anderem am Beispiel des Gebietes Nahr-el Bared bei Tripoli im Libanon, das in einem blutigen Lokalkonflikt fast vollkommen zerstört worden ist - und dessen Wiederaufbau (zu dem übrigens auch die österreichische Regierung besteuert) bisher daran gescheitert ist, dass die komplexen Besitz- und Nutzungsverhältnisse nicht rekonstruiert werden können. (Abb. 8, 9)

- dass die Jumeirah-Palme in Dubai auch andere Stadtdenker/innen zur Deformationsszenarien inspiriert (vgl. Fiedler: GAT-Beitrag am 5.4.2009).

- von den Zuständen auf der Insel Lampedusa, einem der heißesten Schauplätze des europäischen Migrationsdramas, und von einem Aufruf zur Errichtung eines "Leuchtturms" (www.kilpper-projects.net)

- wie in Städten die Mechanismen des Austausches, abseits von Geld und Markt funktionieren - die organisierte Landbesetzung, Patronage, die Selbstorganisation in Slums. Die Kuratorinnen Daliana Suryawinata and Stephen Cairns nennen ihre Schau RECIPROCITY. Da ist nicht alles vom guten Willen beseelt: diese Gegenseitigkeiten reichen von der Nachbarschaftshilfe bis zur Blutrache. Und dass die Regeln dieser gegenseitigen Verhältnisse zeitlich und örtlich nicht übertragbar sind und ständig neuer Aushandlung bedürfen.

- wie in der von „Gated Communities“ durchsetzte Stadtlandschaft von Jakarta die Zäune und Mauern Gegenstand kontinuierlicher Verhandlung und Überschreitung sind, also nicht nur trennend, sondern auch verbindend wirken - eben als städtebauliche Schwellenbereiche.

- dass es sich als positiv für den öffentlichen Raum und für die Sicherheit in Mittelstandsquartieren erwiesen hat, wenn man die Dienstbotenwohnungen nicht im Hinterhof, sondern vorne platziert.

- was man tun kann, damit in Jakarta bei Unwettern das Wasser nicht so schnell abrinnt - zum Beispiel die gezielte Verschrumpelung von gebauten Oberflächen - und dass sich ein Slum auch vertikal organisieren lässt.

- was "in situ-Urbanisierung" ist, nämlich das Verstädtern landwirtschaftlich geprägter Siedlungen in der Nähe eines städtischen Kerns - nicht dessen Expansion. Ist von Graz die Rede? Nein, Stephen Cairns berichtet aus Jakarta.

- dass überhaupt die postkolonialen Städte eher eine Ansammlung von "bits and pieces" darstellen, "fugitive material" sowohl in physischer Hinsicht als auch in den Biografien ihrer Bewohner und Bewohnerinnen und somit in keiner Weise dem Bild der hierarchisch gegliederten Metropole entsprechen, das gemeinhin mit dem Stadtbegriff einhergeht. Das sagt Abdoumaliq Simone, Soziologe am Londoner Goldsmith Institute in einer Rahmenveranstaltung zu RECIPROCITY und er gibt - darauf angesprochen - zu bedenken, dass die Unterscheidung in formelle und informelle Stadtphänomene zu scharf ist, um die Realität zu beschreiben. (Abb. 10)

- dass Städte die Materialisierung von Erwartungen, Lebensvorstellungen (aspirations) sind (derselbe).

Der Bezug zum Thema "Open City- Designing Coexistence" erschließt sich eher nebenbei. Den Beiträgen unterliegt offensichtlich eine weitgehend kohärente Werthaltung und Sichtweise - das Bekenntnis zur politischen, öffentlichen Gestaltung des Raumes, eine Position, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen schweren Stand hatte in den Nischen der vom Markt getriebenen Urbanisierung. Was sich auch nebenbei erschließt, ist, dass wir im österreichischen Binnendiskurs wohl ein paar Zentimeter über die Kategorien des geförderten Wohnbaus und der Wärmedämmverordnung hinausdenken und zu zeitgemäßen urbanen Praktiken für den lokalen Gebrauch kommen sollten. Denn ähnlich wie im Bereich Klimaschutz hat Österreich auch in der Siedlungsentwicklung hinter den Nebelschwaden der Polit-PR ziemliche Verheerungen angerichtet - man denke nur an die slumartige Überwucherung dessen, was man einmal als Land bezeichnete.

Die in Rotterdam dargestellten Strategien und Praktiken sind tastende Versuche, zu neuen Formen öffentlich legitimierter Stadtplanung zu gelangen. Da gibt es auch bei uns einiges zu tun. Und man darf zudem hoffen, dass im Rahmen der globalen Konvergenz auch in unsere Breiten ein wenig vom Ideenreichtum und der Eigenverantwortung durchdringt, die sich in Ländern zeigen, die wir als weniger entwickelt betrachten.

Biografische Notizen:

JOHANNES FIEDLER
Architekt und Stadtplaner, Graz/Wien, Berater in internationalen Projekten der Stadt- und Raumentwicklung, Lehrbeauftragter an der Universität Graz, der FH Joanneum Graz und an der TU Braunschweig, Bürogemeinschaft mit DI Jördis Tornquist (fiedler.tornquist arch + urb, Graz).
Publikationen u.a: Instrumente der Stadtproduktion, Architektur und Bauforum, 7/2007; Exterritories, ARCH+ 173, Juni 2005; Urbanisierung, globale, Böhlau 2004.
KONTAKT: fiedler@arch-urb.at

Verfasser/in:
Johannes Fiedler
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16. + 17.11.2023
 
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