02/11/2008
02/11/2008

Farbcode des Blue Fence

Olympic Park Gelände, East London

Stage 2 der Bauarbeiten: dig, demolish, design

Spurensuche am Blue Fence

Jean-François Prost: Adaptiv Actions

Jean-François Prost: Adaptiv Actions

Jean-François Prost: Adaptiv Actions

Jean-François Prost: Adaptiv Actions

Jean-François Prost: Adaptiv Actions Walk

Jean-François Prost: Adaptiv Actions Walk

Jean-François Prost: Adaptiv Actions Walk

[space], London / Hackney

Jean-François Prost: Adaptiv Actions

Blue Fence Actions
Kleine Revolutionen am blauen Zaun, East London

von Judith Laister

Urban acts: Wer macht Stadt?
Die Docklands in den 1980er und 90ern, King´s Cross von den 90ern bis heute und jetzt: das Lower Lea Valley in East London, vor allem: Stratford, Hackney Wick bis hinüber nach Dalston, wo rechtzeitig bis zu den Olympischen Spielen 2012 ein neuer Verkehrsknotenpunkt samt monumentalem Wohn-, Business- und Einkaufszentrum entstehen wird. Sogenannte “Schandflecke” der Metropole werden sukzessive physisch, infrastrukturell und demographisch erneuert. Mit den oft rasanten Veränderungen durch groß angelegte “urban and social regeneration” wächst auch die Kritik. Da ist von einem rein ökonomisch orientierten Tabula-Rasa-Prinzip die Rede, das historische, ökologische und soziokulturelle Qualitäten eines Ortes missachtet und weder Wissen noch Bedürfnisse lokaler BewohnerInnen berücksichtigt. Darüber hinaus wird das Schwinden heterogener Zonen beklagt und die zunehmende Unmöglichkeit aufgezeigt, sich Stadt abseits vorgegebener Handlungsmuster anzueignen. Während die einen von “aufgewerteten” Arealen profitieren, sich darin verwirklichen und spiegeln können, müssen andere ungefragt verschwinden oder sind mit Vertrautheits-und Identifikationsverlust konfrontiert. Zwischen Profiteuren und Verlierern tut sich ein wachsendes Feld von Akteuren auf, die wieder laut nach alternativen Strategien zum zunehmend dominierenden Investorenstädtebau rufen. Wie zu Zeiten der Hochblüte urbanistischer Kritik am modernistischen Fortschrittsparadigma (von Guy Debord über Jane Jacobs bis hin zu Richard Sennett) wird laut ein demokratisches Recht auf Stadt und öffentliche Mitgestaltung des städtischen Raums eingefordert.

Noch nie hat es so viele urbanistische, transdisziplinär zwischen Kunst, Architektur und Theorie angesiedelte Projekte gegeben, die sich teils bereits gut vernetzt für Stadtentwicklung “bottom up” einsetzen. Angesichts der wachsenden Macht transnationaler Kapitalinteressen, die immer häufiger Partnerschaften mit kommunaler Standortpolitik eingehen (Stichwort: Private Public Partnership), werden wieder verstärkt Bürgerrechte eingefordert, partizipative Modelle überdacht und lokale Handlungsinstrumentarien der Mitgestaltung neu erprobt. Einen detaillierten Einblick in die jüngsten internationalen Entwicklungen gibt etwa die Publikation “Urban Act”. Gruppierungen, Initiativen und Projekte alternativer Stadtentwicklung werden vorgestellt, Strategien und Werkzeuge diskutiert, Probleme und Grenzen aufgezeigt, die Bildung lokaler und internationaler Allianzen wird angestrebt. Die Palette an Beispielen aus verschiedenen Städten reicht von spielerischen Interventionen bis zur Entwicklung schlagkräftiger Beteiligungsinstrumente. Kleinster gemeinsamer Nenner ist die Suche nach “new ways of urban action” bei klarer Benennung bestehender Machtverhältnisse und struktureller Rahmenbedingungen. Nicht Naivität, sondern Reflexivität ist angesagt, wenn etwa die tatsächliche Wirkkraft der präsentierten “neuen” Wege urbanistischen Handelns deutlich hinterfragt wird: “Are they temporary or lasting? Are they only critical, confrontational, oppositional? Or could they also be transformative, proposing something else, while radically questioning the existing laws, rules, policies, models and modes of working and living in the city?”

Adaptive Actions
Der kanadische Architekt und Künstler Jean-François Prost, Mitglied der „urban acts“-Plattform (PEPRAV, European Platform for Alternative Practice and Research on the city, http://www.peprav.net/tool/), widmet sich diesen Fragen seit Jahren. Sein jüngstes Projekt „Adaptive Actions“ hat ihn nach East London geführt, direkt an den Blue Fence (vgl. sonnTAG 250, siehe Link). Wie viele KünstlerInnen und ArchitektInnen war er von der ästhetischen und symbolischen Kraft der blauen Sicherheitsarchitektur fasziniert und irritiert zugleich. Bietet ein derart kontrolliertes, strikt “top-down” geplantes Gebiet noch Möglichkeiten der Raumaneignung abseits vordefinierter Handlungsanweisungen? Dieser Fragestellung ging Prost während seines halbjährigen Artist-in-Residence-Aufenthalts (von September 2007 bis März 2008) in der renommierten Londoner Kunstinstitution [space] empirisch wie praktisch, im Alleingang und kollaborativ nach. Er recherchierte Spuren subversiver Raumaneignung vor Ort, dokumentierte Graffities, verbotene Gebrauchsweisen und andere anonyme Protest- und Fragezeichen. Gleichzeitig initiierte er selbst “Adaptive Actions”: Nachdem er bei einem seiner Rundgänge eine leere Farbdose gefunden hatte, die ihn den genauen Blau-Code des Zauns entschlüsseln ließ, besorgte er sich Farbe im gleichen Ton und übertünchte Fundgegenstände, Bauteile und Pflanzen in unmittelbarer Umgebung des Zauns in exakt demselben Blau. Bis heute trifft man vereinzelt auf Spuren seiner “space-activating micro acts”: blau bemalte Plastiksessel, Schaukelpferde oder Schirlingspalmen, postiert an verlassenen Plätzen in Sichtweite zum Blue Fence.

Das Areal um den Blue Fence in East London war für Jean-François Prost einer von vielen städtischen Schauplätzen, an denen er sein Projekt „Adaptive Actions“ durchführte. An über 20 anderen Orten weltweit - von Amsterdam bis Miami, von Sheffield bis New York - erforschte und erprobte der gelernte Architekt Strategien der Umdeutung und Neunutzung vorgegebener physischer Raumstrukturen. Auf seiner Website www.adaptiveactions.net findet sich ein fotografisches Archiv vorgefundener und selbst ausgeführter Aktionen: anonyme Trampelpfade, informelle Schlafstätten unter Brücken, Zelte auf Hochhausdächern, Schlupflöcher in Begrenzungszäunen und andere Spuren individueller Umnutzung von eigentlich ganz anders geplanten Architekturen. Bildreich dokumentiert und knapp kommentiert, wird auf diese Weise das simple stadtanthropologische Gesetz visuell fassbar: dass Stadt nicht durch Bauten und Pläne gemacht wird, sondern erst im Gebrauch durch die Menschen entsteht. Und diese halten sich nicht notwendigerweise an gebaute Gebote oder ästhetische Vorgaben, sondern adaptieren das Vorhandene schon mal nach eigenem Bedarf.

Beziehungsästhetik, Open Source und Strukturelle Exklusion
Neben Fotografien des Künstlers finden sich auf der Web-Site auch zahlreiche Einträge von anderen “Adaptive Actors”. Der Aufruf zum öffentlichen Upload von sowohl gefundenen als auch selbst iniitierten Adaptiv-Aktionen verweist auf die zentralen Methoden von Jean-François Prosts Arbeitsweise: „relation building“ und „resident collaboration“. Prost will möglichst viele lokale BewohnerInnen und interessierte Menschen involvieren und zur Entdeckung wie Kreation weiterer “Adaptive Actions” motivieren. Er schreibt Open Calls zur Zusammenarbeit und Einreichung von Beiträgen aus, arrangiert Workshops, kollektive Spaziergänge und gemeinsame Abendessen an den unterschiedlichen Orten seines Wirkens. In London nahmen etwa 20 Interessierte an den zwei Workshops und Olympic Perimeter Walks teil. Zwei Tage lang stand die Gruppe, vor allem KünstlerInnen, AktivistInnen, ArchitektInnen, TheoretikerInnen und lokale BewohnerInnen, in intensivem Austausch “to explore singular ways of thinking and activating disused, divided and controlled areas.” Indem Prost sowohl Stadt- als auch AlltagsexpertInnen aktiv in urbanistische Diskussionen und Aktionen involviert, setzt er der Dominanz autonomer Autorenschaft in Kunst und Architektur die Bildung von Netzwerken entgegen. Zudem wird sowohl die physisch-räumliche Arbeit (Adaptive Action) als auch deren visuelle Repräsentation (Fotografie, Video) dem vermarktbaren Copy-Right-Kreislauf entzogen. Vor Ort bleiben die temporären, vergänglichen Aktionen anonymisiert; als Abbilder im Web verstehen sie sich als Open-Source Produkte, deren sich jeder bedienen kann.

Was im gegenwärtig dominanten Diskurs der “relational aesthetics” (Nicolas Bourriaud) verführerisch einfach klingt, zeigt in der Praxis seine strukturellen Grenzen. Trotz des offen angelegten Calls und dem dezidiert demokratischen, nicht-elitären Anspruch waren die TeilnehmerInnen in ähnlichen Arealen des sozialen Raums positioniert. Obwohl sie geographisch aus unterschiedlichen Regionen der Welt stammten - von Japan über Finnland bis nach Österreich -, obwohl der berufliche Hintergrund und die Motivationen für die Teilnahme unterschiedlich waren, hatte der Großteil einen akademischen Abschluss sowie ein spezifisches Wissen über aktuelle urbanistische Diskurse im Allgemeinen und über die konkrete lokale Situation im Speziellen. Man verwendete die gleiche Sprache, teilte ähnliche visuelle und verbale Kompetenzen und hatte die gleichen Bücher gelesen. Darüber hinaus waren die meisten TeilnehmerInnen mit dem Feld der zeitgenössischen Kunst und einem erweiterten Verständnis von Architektur vertraut. Man gab sich kritisch gegenüber gegenwärtigen ökonomischen, politischen und sozialen Machtverhältnissen und ihren physischen wie symbolischen Manifestation im städtischen Raum. Während man jedoch Fragen sozialer Exklusion und Gentrifizierung im Kontext von “urban regeneration” intensiv diskutierte, wurde die soziale Homogenität der Gruppe als gegeben hingenommen. Niemand wunderte sich über die strukturelle Exklusion all jener sozialer Akteure, die mit den Diskursen und Institutionen zeitgenössischer Kunst und Architektur nicht vertraut sind.

Institutionen: SPACE!
Den strukturellen und institutionellen Rahmen von Jean-François Prosts Projekt Adaptive Actions / London bot die renommierte Kunstinstitution [space], verortet im Olympic Borough Hackney, etwa zwei Kilometer vom künftigen Olympischen Dorf entfernt. [space] wurde 1968 um eine Gruppe von KünstlerInnen um die Op-Art-Malerin Bridget Riley gegründet und nahm seinen Anfang in den damals brach liegenden, heute durchgehend gentrifizierten St. Katharine´s Docks nordöstlich der Tower Bridge. Die ursprüngliche Intention der SPACE Gruppe war es, leerstehende Gebäude als Atelierräume zu adaptieren, was bis heute die wichtigste Aufgabe der heuer 40 Jahre alten Institution ist. [space] bezeichnet sich selbst als „the leading provider of studios for visual artists in London“. Zu moderaten Preisen werden in 18 Gebäuden Atelierräume an insgesamt etwa 600 KünstlerInnen vermietet - der Großteil in leer stehenden Industrie- und Gewerbebetrieben in Ost-London. Neben seiner Aktivität als Makler spielt [space] eine aktive Rolle im kulturellen Leben Hackneys. Es betreibt unter anderem eine Galerie, ein Artist-in-Residence-Programm samt Wohn- und Arbeitsraum und ein „Collaboration“-Programm zur Integration vor allem marginalisierter lokaler BewohnerInnen. Seit 2005 veranstaltet [space] das Programm „Legacy Now!”, “to address the need to consider the impact of the Olympic Games and redevelopment on the East End”. Weiters steht das “Olympic Artist Forum” in enger Verbindung mit [space], definiert als “an information and events platform for artists and creative practitioners engaging with the Olympics and the changing cultural landscape of London.” (www.spacestudios.org.uk)

Schon zu Beginn von Jean-François Prosts Aufenthalt als Artist-in-Residence war das Thema Stadterneuerung, Kunst und Olympische Spiele bei [space] omnipräsent. Es überrascht daher nicht, dass sein Blick sehr bald Richtung Olympic Park und Blauem Zaun gelenkt wurde. Am Ende seines Aufenthalts wurde Jean-François direkt in die Olympia-Aktivitäten von [space] involviert: Beim dritten Olympic Artist Event, das im März 2008 stattfand, präsentierte er eine Video-Doku seines “Adaptive Actions” Projekts in London (http://www.adaptiveactions.net/information), an dem auch offizielle Repräsentanten von London 2012 durchaus Gefallen fanden. Obwohl Jean-François Prost und die TeilnehmerInnen seines Workshops nach Gegenstrategien zur offiziellen Raum- und Bildpolitik rund um den künftigen Olympic Park suchten, wurden sie letztlich legitimierter und goutierter Teil derselben. Inwiefern sich aus der Vernetzung vieler Mikro-Revolutionen eine wirkmächtige Bottom-Up-Bewegung gegen ökonomisch orientierte Planung “Top Down” ausbilden kann, muss offen bleiben. Aus heutiger Sicht scheinen die zahlreichen “tiny revolutions” am Blue-Fence mehr als romantische, verspielte oder auch trotzige Antworten, die das herrschende System rigorosen Abrisses nur mehr symbolisch kommentieren können.

Fotos, wenn nicht anders angegeben: Judith Laister und Jean-François Prost

KURZBIOGRAFIE:
Judith Laister, Kulturanthropologin und Kunsthistorikerin, lehrt und forscht an der TU Graz und an der Uni Graz; Visiting Research Fellow am Goldsmiths College, London; Forschungsprojekt zum Thema Kunst und Stadtentwicklung; kontinuierliche Feldforschungen in Hackney.

Verfasser/in:
Judith Laister
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