11/11/2007
11/11/2007

sonnTAG 200

Faschingsego in Zeiten der Bürokratie

Von Wilhelm Hengstler

Keine Ahnung haben, was man schreiben könnte, aber die Einladung ungerührt annehmen...als ob man über Chuzpe verfügte. Ich wusste gar nicht, dass der Fasching seinen Schatten voraus warf, bis die liebenswürdige Redakteurin mich auf den 11.11. aufmerksam machte. Das ursprünglich vorgeschlagene Thema galt etwas anderem, vom Fasching wusste ich ja noch nichts. Die Redakteurin fragte leicht irritiert nach, was Bürokratie mit Architektur zu tun hätte. Für mich begann der Fasching in diesem Augenblick: Architektur der Bürokratie, Bürokratie der Architektur, Archive als Gedächtnis der Bürokraten. Im 24-bändigen Brockhaus von 1991, den man natürlich nicht überschätzen muss, folgt „Archiv“ wenigstens unmittelbar auf „Architektur“.

Es gilt ja als gesichertes Wissen, dass mit der Entscheidung für eine bestimmte Verkleidung stets eine erträumte, vielleicht verdrängte, im Alltagsleben jedenfalls selten praktizierte Alternatividentität gewählt wird. Die Powerfrau als Gänseblümchen, der Controller als Anarchist, der Senior als Backfisch usw. Und der Architekt sehnt sich insgeheim nach welcher Rolle? Bomberpilot, um all die schlecht gebauten Häuser, ganze Städte in Schutt und Asche zu legen? Oder Entfesselungskünstler, um endlich den Zwang loszuwerden Räume zu fühlen? Endlich, endlich nichts mehr gliedern müssen? Und was ist mit meinem Faschingsego? Ich z. B. wäre gern wieder ein Pubertierender, der im Hormonkoma mit bedenkenloser Selbstgewissheit Besinnungsaufsätze verfasst. Erfüllt von weltumspannendem Wissen, das ohne jede Sicherheit auf nichts anderem als reiner, eingebildeter Intelligenz beruht. Endlich die Faschingssau rauslassen! Unkorrekte Meinungen und unfundierte Vorurteile absondern, ohne sich vom besseren Wissen einschüchtern zu lassen. Auf Informationen pfeifen! Wütender Kleinbürger sein! Wie dessen Maske wohl aussehen mag? Brauch ich für die Rolle überhaupt eine?

Warum dieses plötzliche Interesse an der Bürokratie? Weil sie ein Instrument, genauer eine Organisation der Herrschaft ist? Nicht zufällig bildete sie sich mit dem Beginn des Absolutismus heraus, war vermutlich aber nie phantasietötender und herzabdrückender als heute. Der Druck bürokratischer Herrschaft wird jedenfalls in meiner Wahrnehmung immer unentrinnbarer, das Netz der Bürokratisierung, Disziplinierung, Archivierung (Erfassung) immer engmaschiger. Existiert eigentlich ein brauchbarer Index für den Grad in dem eine Gesellschaft bürokratisiert ist, etwa wie der Gini-Index für das Maß an Ungleichheit? Wie man in Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“ nachlesen kann (3. Kapitel), gibt es auch andere Herrschaftsformen, die charismatische zum Beispiel. Aber er behauptet auch, dass der Einfluss der Bürokratie viel entscheidender sei, als die Wahl zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Als ob man eine Wahl hätte. Das Rauchen, das Biersaufen am Hauptplatz, Arm in Arm mit Stadtrat Miedl, bald wahrscheinlich auch das Atmen: alles bürokratisch reglementiert, im Zweifelsfall verboten. In dem prophetischen Klassiker „Donald Duck und der goldene Helm“ werden die Besitzer eines Wikingerhelmes nacheinander Kaiser von Amerika, der Millionär Dagobert Duck natürlich auch. Er will einfach das Atmen besteuern, ein Seufzer kostet einen Cent, ein Schnaufer deren zwo. Bürokratie, die Zuordnung von Personen bzw. Positionen innerhalb eines hierarchischen Systems ist im Gegensatz zu unserem schwungvollen Selbstbild unvermeidlich. Sie lässt sich allenfalls reformieren: Bürgernähe, Flexibilität, Effizienzkontrolle, Kollegialität an Stelle von Autorität…man kennt das ja. Effektive Abschaffung der Bürokratie ist nur in der Utopie möglich. Ein temporäres Entrinnen gibt es allenfalls im Faschingstreiben, im bunten Mummenschanz. Habe ich jetzt doch noch die Kurve zum Thema gekratzt?

Die Kids haben weniger Problem mit der Bürokratie, aber sie wurden ja praktisch schon als „gläserne Menschen“ geboren. Meine ersten Erfahrungen mit ihr waren die filzigen, blassgrünen Lebensmittelkarten zum Abstempeln. Oder sitze ich da meiner eigenen Täuschung auf? Viel später war es dann in Camus Film „Orfeo Negro“ ein Archiv der Vermissten, untergebracht in einem riesigen Bürohaus in Rio De Janeiro. Orpheus sucht da vergeblich nach seiner Geliebten. In der einsturzgefährdeten Architektur meines Gedächtnisses verkörpert Adhemar da Silva, dreifacher Olympiasieger im Dreisprung und Darsteller des Todes, immer noch alle Schrecken der Bürokratie. Etwas später dann Bürokratie als existenzielle Metapher bei der Lektüre von Kafka, im Rahmen des verlogenen, österreichischen Flirts mit der Zeitgeschichte die reibungslose Bürokratie des Nazisystems, gleichzeitig als politisch korrektes Gegengewicht die Räume des Wilden Westens: eine Utopie, wie immer , wenn es bürokratiefrei zugeht, aber rückwärtsgewandt diesmal. Meine faschingsgerechte Auseinandersetzung mit Bürokratie besteht vor allem aus Projektionen, aus Interpretationen von Bildern und Filmen. In John Boormans Gangsterfilm „Point Blank“ zieht Lee Marvin, der Rächer in eigener Sache, einem Erschossenen eine lange Kette aus Kredit- und Klubkarten aus dem Sakko. Die Plastikdinger repräsentieren die verdichtete, bürokratische Identität des Toten. Dagegen sind Rächer selten Bürokraten. Für Lee Marvin ist es essentiell, bürokratisch nicht erfasst zu werden, nur mit gefälschten oder gestohlenen Ausweisen unterwegs zu sein und die verräterischen Linien auf seinen Fingerkuppen abgeschliffen zu haben.

Vielleicht wäre „Gangster“ das passende Faschingskostüm für mich, hätte ich nur mehr Mut. Aber ich gab auf der Karl-Franzens Universität sogar wegen meines fehlenden Gehaltskonto klein bei. Ich war der letzte im Wissenschaftsbetrieb ohne Konto. Bis ich den Klagen auf der Questur, dass nur meinetwegen ein monatlicher Geldtransport nötig wäre, nachgab. Bis dahin hatten die Banken die Gehaltskonten kostenlos verwaltet, aber unmittelbar darauf begannen sie diese Leistung zu verrechnen und sind seither immer teurer geworden. Selber verfüge ich mittlerweile über eine Bankomat- und eine VisaCard, über die E-Card, über die ÖBB VorteilsCard, über eine PlusCard von Kastner & Öhler, über den Plastikschlüssel zur Radstation am Hauptbahnhof und über die Karten von Universitäts-, Stadt- und Landesbibliothek. Die Euroscheine brauchen damit verglichen am wenigstens Platz. Wenn ich die Geldbörse nicht sorgsam verstaue, hält man mich für ein Sexmonster. Soll ich mich als Plastikkarte verkleiden?

Dafür intensiviert der bargeldlose Geldverkehr die elektronische Kommunikation. Vor seiner Einführung wurden Schulden bar beglichen, und das war´s. Oder es wurde eben ein neuer Termin festgesetzt. Seit ich ganzjährig den cleveren Businessman gebe - ich sage nur: Fasching! - schreibe ich Rechnungen, maile und telefoniere den Schuldnern hinterher und spiele öfters mit dem Gedanken auf die paar Kröten zu pfeifen. Bargeldloser Zahlungsverkehr gleicht der Aufforderung zum Kameradschaftsdiebstahl - er ruiniert die Zahlungsmoral. Hat man den Schuldner endlich in der Leitung, behauptet er immer, das Geld sei schon überwiesen. Den Lohn einzutreiben ist anstrengender, als die geleistete Arbeit und verschafft vor allem weniger Befriedigung. Wie ich das Schreiben von Rechungen hasse! Einmal hatte ich erfreulicherweise einen charmanten, hochintelligenten Companero, der meine Rechnungen gleich mit seinen eigenen ausstellte. Blind vor Glück übersah ich leider, dass mich der Partner bis an die Auslöschung der bürgerlichen Person mobbte – und das, noch bevor es das Wort gab.

Dem bargeldlosen Zahlungsverkehr entspricht das papierlose Büro, auch so eine Erscheinung der Computertechnologie. Aber der Papierverbrauch will nicht sinken, nach wie vor korreliert das Wirtschaftswachstum mit steigender Papierverschwendung. Von den beiden Radpartnern, hinter denen ich einmal wöchentlich herhetze, ist einer Architekt, der andere Statiker. Während unserer Pausen reden sie gelegentlich über die Flut von E-Mails, die sie während des Bauverlaufs unbedingt beantworten müssen. Schon als der Nadeldrucker meines ersten IBM (ein XT, dessen Programm noch mit einer Floppy geladen werden musste) seine Papierbahnen Laufmeter um Laufmeter herauswürgte, war mir klar, dass aus dem Papiersparen nichts werden würde. So wenig wie der bargeldlose Zahlungsverkehr das Geld, hat das papierlose Büro das Papier abgeschafft.

Archive, diese Ablagerungen jeder Bürokratie, gibt es seit der Bibliothek des Assurbanipal in Ninive. Aber erst die Digitalisierung ermöglicht diese systematische Erfassung alles Geschriebenen, aller Bilder und Töne. Es heißt, die Archive seien das Gedächtnis der Welt. Ich bin mir da nicht so sicher, auch wenn die Welt von ihrem eigenen Archiv immer schwerer zu unterscheiden ist. Die Apokalyptiker behaupten, alles verschwinde automatisch mit seiner Archivierung. Die Euphoriker verweisen darauf, dass weder Grimms Märchen noch das Johannesevangelium, noch die Rasterfahndung ohne Speicherung existierten. Archive, das sind gewissermaßen ausgelagerte Gedächtnisse und diese Auslagerung hat, ähnlich wie in der Betriebswirtschaft, ihre Grenzen. Das demonstriert eine Geschichte aus der Wüste Thar im Nordwesten Indiens. Jahrhundertelang bestand dort eine Erzähltradition, in der das vermutlich längste Epos der Welt – eine regionale Version des Mahabharata – über Wochen hin vorgetragen wurde. Es kam, wie es kommen musste: Die Jungen wollten nicht mehr, und zigtausende Verse drohten in Vergessenheit zu geraten. Darum lehrte man dem Letzten der Wissenden Lesen und Schreiben, damit er das Epos aufschriebe. Aber leider, je größer die Fortschritte des Erzählers in der Schule, desto mehr Verse entfielen seinem Gedächtnis. Heißt das jetzt, dass über der Totalarchivierung also Bürokratisierung die Welt vergessen wird? Das kann ja noch lange in der Art weiter gehen. Bis zum Fasching, Fasching!

WILHELM HENGSTLER ist Filmregisseur und Autor, ausgezeichnet mit dem Manuskriptepreis 2004, lebt in Judendorf/Strassengel bei Graz.

Verfasser/in:
Wilhelm Hengstler
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