25/06/2006
25/06/2006

Ingeborg Bachmann (1926 - 1973)

sonnTAG 134

sonnTAGs-Geschichten im Juni zum Thema: Orte schreiben. Teil 4 „Lieder von einer Insel“ zum 80. Geburtstag von Ingeborg Bachmann Lieder von einer Insel (1954)

Schattenfrüchte fallen von den Wänden,
Mondlicht tüncht das Haus und Asche
erkalteter Krater trägt der Meerwind herein.

In den Umarmungen schöner Knaben
schlafen die Küsten,
dein Fleisch besinnt sich auf meins,
es war mir schon zugetan,
als sich die Schiffe
vom Land lösten und Kreuze
mit unserer sterblichen Last
Mastendienst taten.

Nun sind die Richtstätten leer,
sie suchen und finden uns nicht.

Wenn du auferstehst,
wenn ich aufersteh,
ist kein Stein vor dem Tor,
liegt kein Boot auf dem Meer.

Morgen rollen die Fässer
sonntäglichen Wellen entgegen,
wie kommen auf gesalbten
Sohlen zum Strand, waschen
die Trauben und stampfen
die Ernte zu Wein,
morgen am Strand.

Wenn du auferstehst,
wenn ich aufersteh,
hängt der Henker am Tor,
sinkt der Hammer ins Meer.

Einmal muss das Fest ja kommen!
Heiliger Antonius, der du gelitten hast,
heiliger Leonhard, der du gelitten hast,
heiliger Vitus, der du gelitten hast.

Platz unsren Bitten, Platz den Betern,
Platz der Musik, und der Freude!
Wir haben Einfalt gelernt,
wir singen im Chor der Zikaden,
wir essen und trinken,
die mageren Katzen
streichen um unseren Tisch,
bis die Abendmesse beginnt,
halt ich dich an der Hand
mit den Augen,
und ein ruhiges mutiges Herz
opfert dir seine Wünsche.

Honig und Nüsse den Kindern,
volle Netze den Fischern,
Fruchtbarkeit den Gärten,
Mond dem Vulkan, Mond dem Vulkan!

Unsre Funken setzten über die Grenzen,
über die Nacht schlugen Raketen
ein Rad, auf dunklen Flößen
entfernt sich die Prozession und räumt
der Vorwelt die Zeit ein,
der schleichenden Pflanze,
dem fiebernden Fisch,
den Orgien des Winds und der Lust
des Bergs, wo ein frommer
Stern sich verirrt, ihm auf die Brust
schlägt und zerstäubt.

Jetzt seid standhaft, törichte Heilige,
sagt dem Festland, dass die Krater nicht ruhn!
Heiliger Rochus, der du gelitten hast,
o der du gelitten hast, heiliger Franz.

Wenn einer fortgeht, muss er den Hut
mit den Muscheln, die er sommerüber
gesammelt hat, ins Meer werfen
und fahren mit wehendem Haar,
er muss den Tisch, den er seiner Liebe
deckte, ins Meer stürzen,
er muss den Rest des Weins,
der im Glas blieb, ins Meer schütten,
er muss den Fischen sein Brot geben
und einen Tropfen Blut ins Meer mischen,
er muss sein Messer gut in die Wellen treiben
und seinen Schuh versenken,
Herz, Anker und Kreuz,
und fahren mit wehendem Haar!
Dann wird er wiederkommen.
Wann?
Frag nicht.

Es ist Feuer unter der Erde,
und das Feuer ist rein.

Es ist Feuer unter der Erde
und flüssiger Stein.

Es ist ein Strom unter der Erde,
der strömt in uns ein.

Es ist Strom unter der Erde,
der sengt das Gebein.

Es kommt ein großes Feuer,
es kommt ein Strom über die Erde.

Wir werden Zeugen sein.

Bachmann, Ingeborg (1926-1973) Schriftstellerin.
Ingeborg Bachmann wurde am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren. Der Einmarsch von Hitlers Truppen in ihrer Geburtsstadt führte zum „Aufkommen meiner ersten Todesangst", die sie später in ihrer Dichtung zu bekämpfen sucht. Ein Studium der Philosophie, Psychologie und Germanistik in Innsbruck, Graz und Wien (1945-1950) schloss sie mit einer Dissertation über Martin Heidegger (Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers, 1950) ab. Während dieser Zeit kam Bachmann u a. mit Paul Celan und Ilse Aichinger in Kontakt. Von 1951 bis 1953 war sie Redakteurin der Sendergruppe Rot-Weiß-Rot in Wien. Während dieser Zeit erschien ihr erstes Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen (1952); von dem im Publikationsjahr fertig gestellten Roman Stadt ohne Namen ist nur das erste Kapitel überliefert. Ab 1953 arbeitete sie als freie Schriftstellerin und wurde nach einer Lesung der Gruppe 47 für ihren ersten Gedichtband Die gestundete Zeit (1953) ausgezeichnet. Nach Aufenthalten u. a. in Italien, München und Berlin sowie einem Aufenthalt in Cambridge (1955, auf Einladung der Harvard University) lebte Bachmann von 1958 bis 1962 mit Max Frisch in der Schweiz, unterbrochen durch eine Poetikvorlesung an der Unversität Frankfurt am Main (1959/60; Probleme zeitgenössischer Dichtung), anschließend in Rom. Reisen nach Prag, Ägypten und in den Sudan folgten 1964. Bachmann starb am 17. Oktober 1973 in Rom.

Mit ihrer subjektiv geprägten Lyrik, die nicht zuletzt die existentielle Bedrohung des Subjekts durch die Allmacht der Geschichte thematisiert, gab sie der deutschsprachigen Literatur der Nachkriegszeit entscheidende Impulse.1957 erhielt Bachmann den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen, 1959 den Hörspielpreis der Kriegsblinden und 1964 schließlich den Georg-Büchner-Preis zugesprochen. 1968 wurde ihr der Österreichische Staatspreis für Literatur verliehen. Mit seinem collageartigen Nekrolog Eine Reise nach Klagenfurt, dessen Titel sich auf die Fahrt des Autors zur dortigen Grabstätte Bachmanns auf dem Friedhof Annabichl bezieht, setzte Uwe Johnson der Dichterin 1974 ein literarisches Denkmal. Später verlieh Thomas Bernhard der Figur der Dichterin Maria mit ihrem „opernhaften Aufzug" im Roman Auslöschung (1986) deren Physiognomie. Nach Bachmann ist ein Preis benannt, den die Stadt Klagenfurt und der österreichische Rundfunk (ORF) jährlich nach einer Lesung für das beste noch unveröffentlichte Manuskript vergeben.

Verfasser/in:
ausgewählt von Karin Tschavgova
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