26/06/2005

Order is: Komplexität der Form - Vortrag von Architekt Bernhard Hafner, gehalten am 5. Mai 2005, anlässlich der ersten von insgesamt drei Kino-Matineen zur Architektur.

26/06/2005
©: Redaktion GAT GrazArchitekturTäglich

Im Mai 2005 veranstaltete GAT gemeinsam mit dem Augartenkino KIZ in Graz eine dreiteilige Matinee-Reihe zur Architektur Louis I. Kahns (5., 22., 29. Mai), in deren Rahmen der Film My Architect. A Son´s Journey gezeigt wurde und die drei Grazer Architekten Bernhard Hafner, Peter Hellweger und Volker Giencke in Kurzvorträgen unterschiedliche Bezüge zu Werk und Leben des großen amerikanischen Architekten herstellten.

Lesen Sie nachfolgend den Vortrag, den Bernhard Hafner am 5. Mai 2005 im Rahmen der ersten Kino-Matinee gehalten hat.

Spirit in will to express can make
The great sun seem small.
The sun is
Thus the Universe.
Did we need Bach
Bach is
Thus music is.
Did we need Boulée
Did we need Ledoux
Boulée is
Ledoux is
Thus Architecture is.

Order is: Komplexität der Form

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich habe zu Kahn erst sehr spät, mit ca. 40 Jahren, Zugang gefunden. Ich hatte zu ihm anfänglich sogar eine außerordentlich feindselige Haltung. Das hatte bestimmte Gründe. Es gibt hier jemanden, der über Kahn sehr viel weiß, und der damals, in den sechziger Jahren – ich hoffe, daß ich das nicht falsch sehe, - unter seinem Einfluß gestanden hat: Klaus Gartler. Kahn hatte damals durch seine so vollkommen andere Architektur, als sie damals üblich war, in Europa einen großen Einfluß. Die fünfziger, sechziger Jahre waren voll von funktionalistischer Architektur, mit Fensterbändern, Sie kennen sie ja, und Kahn hat etwas ganz Anderes gebracht. Meiner Meinung nach war das bei uns aber weitgehend eine Nachahmung von Formen, die er verwendete, vor allem fensterlose Flächen, die in der Zeichnung alle irgendwie ein bißchen maschinenbaumäßig ausgesehen haben. Ich möchte nichts herabsetzen: Gartler und Rieder entwarfen damals sehr schöne Projekte in dieser Art, üblicherweise war es aber ein Aufnehmen von Erscheinungsformen von Kahnschen Gebäuden, ohne daß meiner Meinung nach wirklich verstanden wurde, was dahinter stand.
Ich werde hier aber weniger meine persönliche Meinung dazu sagen, sondern über Kahn so objektiv zu berichten, wie ich es vermag.

Kahn ist wirklich eine einzigartige Erscheinung in der Architektur. Ich bin sicher, daß er als einer der großen Architekten in die Architekturgeschichte eingehen wird, vermute aber, und das ist mir gestern bestätigt worden, daß höchstens 10% der heute Studierenden seinen Namen überhaupt kennen. Kahn ist in der Architektur erschienen wie ein Wesen aus einer anderen Galaxie. Für mich ist es wie eine Art Kuckucksei, das in Estland in das Nest der Eltern gelegt wurde, wie es vor 2000 Jahren in anderer Form in Palestina geschehen sein mag. Er ist so vollkommen außerhalb von all dem, was damals in der Architektur aktuell war oder heute ist, und hat einen ganz eigenen, persönlichen Weg gefunden, der von einer starken, geistigen Dimension geprägt ist. Er ist in meinen Augen eigentlich ein archaischer Architekt; wenn Sie das mit Ionisch, Korinthisch oder Hellenistisch vergleichen, ist er eigentlich unabhängig von Stilrichtungen. Er ist vollkommen außerhalb des Zeitgeistes und das möchte ich Ihnen durch Dias auch zeigen.

Mein Thema lautet: ORDER IS – KOMPLEXITÄT DER FORM. Das ist das, was man am besten über Kahn sagen kann, zumindest ich. Das Wort „is“ hat im Englischen die gleiche Bedeutung wie im Deutschen, es ist ein Hilfszeitwort, und man fragt sich nun: Was ist Ordnung? Kahn hat „is“ aber nicht als Hilfszeitwort verwendet sondern als Hauptzeitwort. Man könnte die Frage vielleicht am besten so beantworten: Es geht um das Ordnen von Baumasse und Raum in Architektur. Um das zu erreichen, bediente er sich des Begriffs der architektonischen Form, etwas, was vor dem Entwurf liegt. Dieses Konzept hat er in einer außerordentlich komplexen Art und Weise verwirklicht. Kahn ging dabei einen konsequenten Weg, und er ging ihn unabhängig von dem, was üblich war oder sozusagen in der Luft lag. Das ist es, was mich bei Kahn in besonderer Weise beeindruckt. Er war auf der Basis dessen, was er unter Architektur verstand, nie von vorgefaßten Meinungen geprägt.

Ich erinnere an das Gebäude der Tribune Review Printing Press, ein zweigeschoßiges Gebäude mit hoher Halle, in der er annähernd quadratische Fenster hoch oben mit schmalen Schlitzen darunter anordnete. Das Gebäude war mir in den sechziger Jahren als Student schon bekannt. Ohne den Grund dafür zu kennen, hat mich diese Teilung damals abgestoßen, weil sie mir willkürlich erschien, als ein formalistischer Trick. Erst 1979 erfuhr ich dann die Begründung durch einen in Texas gehaltenen Vortrag eines Kollegen, mit dem ich vorher sechs Jahre in Los Angeles zusammen unterricht hatte. Er erklärte, warum das so war: Das Licht sollte hoch eindringen, sollte den Raum von oben durchfluten, und die Schlitze darunter sollten nur einen Ausblick gewähren, so daß man sich nicht in einen Raum eingeschlossen fühlt und in Augenhöhe geblendet ist; also eine vollkommen rationale Begründung der gewählten Öffnungen. Das hat er in allen Projekten immer gezeigt: immer, wenn man meint, daß das, was er macht, willkürlich sei, weil er immer Formen verwendete: Fensterausschnitte, Dachformen, die ungewöhnlich sind, auf die man nicht gleich selbst kommen würde, so sind das wirklich Zeichen seines Genies und nicht Willkür.

Le Corbusier sagte, „um einen guten Entwurf zu machen bedarf es des Talents. Um ein gutes Programm zu machen, bedarf es des Genies“. Mit Programm meinte er das Programmatische, die architektonische Konzeption, und diese Aussage triff auf Kahn sehr zu.
Welcher Mittel hat er sich bedient, um die Komplexität der Form zu verwirklichen? Er hat einen großen Unterschied gemacht zwischen Form und Entwurf. Das wird in einer Zeichnung für einen der schönsten Bauten, die ich Ihnen im Dia zeigen werde, veranschaulicht [Abb. 15]. Ich kenne das Gebäude nicht aus persönlichem Augenschein sondern aus der Literatur. Es ist die First Unitarian Church and School in Rochester, New York, ein exemplarisches Beispiel, das den Unterschied zwischen Form und Entwurf verdeutlicht. Kahn entwickelt eine hierarchische Aufstellung und Unterteilung des Raumes zum Zweck der Ordnung, wofür er den Begriff der dienenden und bedienten Form verwendet. Das machte damals großen Eindruck. Es war ein theoretischer Ansatz, der zu dieser Zeit unbekannt war und der eigentlich jedem einleuchtete. Denken Sie daran, daß Mies van der Rohe immer so getan hat, als gäbe es einen universellen Raum und daß alles was Nebenraum ist, irgendwo hin verbannt wurde, ins Untergeschoß in Berlin, zum Beispiel, in einen Sockel: das ist bei Kahn nie der Fall. Er sagt, es gebe Räume, die anderen dienen, und das drückt sich in der Gestaltung der Räume aus. Das ist eines der wesentlichen Konzepte in Kahns Werk. Ich meine, das ist dann als bleibender Beitrag in die Architekturtheorie eingegangen, auch wenn ihm in den letzten Jahren aufgrund des Subjektivismus, des Individualismus und, im besonderen, des De(kon)struktivismus wenig Beachtung geschenkt wird.

Das nächste ist die Befassung mit Konstruktion. Kahn war ein großartiger Konstrukteur. Er hat wahrscheinlich auch nicht ganz allein konstruiert, aber er hat Konstruktionen konzipiert und zwar, wie ich zeigen werde, wirklich fabelhaft. Deswegen sind seine Bauten auch mit dem Professionalismus, mit dem in Amerika gebaut wird, heute keine Ruinen, wie es bei Bauten von Le Corbusier heute leider weitgehend der Fall ist. Dazu gehört die Befassung mit dem Mauermassenbau, der Lichtführung und, als besonderem Element seiner Architektur, die Auseinandersetzung mit dem Dach.

Unter dem Einfluss von Buckminster Fuller begann Kahn mit triangulierte Strukturen. Vielleicht kennen Sie die triangulierten Strukturen für städtische Hochbauten, sehr schöne, die mich damals sehr wohl beeindruckten; auch ein Plan für Philadelphia mit einem Traffic flow Diagramm stammt aus dieser Zeit. Dann folgten, am Ende seines Studiums 1928/29, und 1951 wieder, ausgedehnte Reisen nach Europa. Diese haben Kahn in meinen Augen zu einem Römer gemacht. Das kam eigentlich erst 1951 zum Ausdruck. Kahn war wirklich begeistert, nicht so sehr von den griechischen Tempeln, er hat zwar die Akropolis gezeichnet, den Parthenon gezeichnet - es gibt da ein Buch mit Skizzen, sehr schönen Handzeichnungen, das ich in meinem Buch auch erwähnte, was ihn aber wirklich faszinierte, das war die römische Architektur des Mauermassenbaus, des bewehrten Betons, den es damals auch gab, der Bauten mit Bögen und Kuppeln. Von ihm hochgeschätzte Gebäude sind das Pantheon in Rom, die Engelsburg, die Aquädukte. 1928/29 hatte er von den Geschlechtertürmen von San Gimignano eine Zeichnung gemacht, jetzt, 1951, am Beginn seiner Karriere als ausführender Architekt, besuchte er nochmals Italien und den Mittelmeerraum.

Als erstes Gebäude entwarf er die Richards Laboratories der University of Pennsylvania in Philadelphia, die sehr stark unter dem Einfluss dieser Geschlechtertürme stehen. Zu diesem Zeitpunkt ist seine Vorliebe für den Mauermassenbau entstanden und einer der Sätze lautet: Man müsse sich Bauwerke als Ruine vorstellen, architektonische Qualität danach beurteilen, wie es als Ruine sein würde, denn wenn es als Ruine immer noch Architektur ist, dann ist es ein gutes Gebäude. Sie sehen schon, daß ist eine Vorstellung, die uns heute vollkommen fremd ist.

Beginnen wir mit Dias des Richards Medical Research Building’s, das ich 1967 besuchte, vier Jahre nach der Fertigstellung [Abb. 1-4]. Sie sehen die Geschlossenheit der Baukörper, darunter sind Installationstürme oder -stränge, Stiegenhäuser und Aufzüge. Die von ihm verwendeten Betonfertigteile sind sehr schön, zum Teil sind sie unterspannt, das ist wirklich unglaublich eindrucksvoll und elegant. Die Boxen sind einzelne Zimmer, in denen die Forscher arbeiten.

Das nächste Bauwerk, das ich Ihnen auch aus persönlicher Kenntnis zeigen will, ist das Salk Research Institut in La Jolla, Kalifornien, etwas nördlich von San Diego, südlich von Los Angeles [Abb. 5-14]. Es ist ein viergeschoßiges Gebäude, bei dem jeweils zwischen den zwei Hauptgeschoßen ein Installationsgeschoß eingefügt ist. Dieses Objekt war ein Teil einer viel größeren Anlage, und liegt auf einem Plateau mehrere hundert Meter über dem Pazifik, eigentlich in einer Wüstenlandschaft, von Kakteen umgeben. Ich habe mir damals einige Kakteen mitgenommen, die inzwischen ziemlich verkümmert sind, aber anlässlich dieses Vortrags werde ich mir ihrer wieder etwas annehmen. Die Südfassade ist weitgehend geschlossen. Im Inneren ist es nicht so dunkel, wie das Dia es zeigt [Abb. 6] - ich fotografiere mit Exakta und Handbelichtungsmesser, und da nimmt man sich vielleicht nicht immer genügend Zeit. Sie sehen auch einen schönen Sessel – es gibt Aufnahmen von anderen Bauten, in denen Thonet Stühle zu sehen sind. Kahn hatte also schon ein ausgeprägtes ästhetisches Bewusstsein, stand nicht außerhalb der Kulturgeschichte, das möchte ich nebenbei erwähnen und hatte, im Gegensatz zu vielen anderen, im besonderen von Le Corbusier, immer großen Respekt vor anderen. Er hat nie jemanden schlecht gemacht, mir ist jedenfalls nichts davon bekannt. Davon zeugen seine Texte. Im Entwurfsprozeß, wenn er etwas mit sich diskutiert, dann fragt er: „how am I doing, Corbu?“. Le Corbusier hat er sehr geschätzt.
An der Ecke der West- und Südseite, die Sie hier sehen [Abb. 7-8], verwendet er Teak Holz. Davon bin ich nicht begeistert, das Wasser, das herunterrinnt, bildet Schlieren und verfärbt es; ich verstand diese Materialwahl nicht ganz. Dann sehen Sie den Blick auf die Stiegenhäuser mit angegliederten Baukörpern an der Hofseite. Die Anlage besteht aus zwei Zeilen im Abstand von einander, nach Westen und Osten ausgerichtet, mit einem Hof dazwischen und vor diesen Zeilen sind auf jeder Seite Vorbauten. Die Stiegenhäuser im Hof sind grandios [Abb. 12]. Ich erinnere mich noch, wie ich nachträglich gerätselt habe, wie sie entworfen sind. Ich konnte es mir einfach nicht erklären - ich habe später einige Zeit dazu gebraucht-, war beim Fotografieren zwar sehr beeindruckt, habe mir damals aber keine Gedanken über deren Grundriss gemacht. Von den Podesten aus können Sie durch mehrere Stiegenhäuser hindurch hinunter zum Pazifik schauen. Sie alle sind ganz einfach gemacht und richtige Skulpturen im positiven Sinn.
Das Bauwerk hat sich sehr gut gehalten - wie übrigens alles, was ich von Kahn gesehen habe. Die Aufnahmen wurden 1985 gemacht und das Bauwerk wurde 25 Jahre vorher fertiggestellt. Das Grandiose ist der Hof: links und rechts die vorher erwähnten Vorbauten, und die Rinne, die im Osten beginnt und im Westen endet [Abb. 14]. Es ein steinerner Hof, mit Travertin belegt. Unten ist ein Geländesprung von ca. drei Metern, dort fangen dann die Kakteen an, der Blick geht hinaus auf den Pazifik. Von Kahn gibt es eine Skizze, wo dieser Hof begrünt war. Aus einem Gespräch mit dem Bauherrn und Mr. Salk, einem Nobelpreisträger, der den Polio-Impfstoff erfunden hatte, geht hervor, das Luis Barragan meinte, dieser Platz solle unbegrünt sein, also ein steinerner Platz werden. Das ist für mich das einzige Beispiel, das ich in der Moderne kenne, wo ein Architekt wirklich auf einen Genius loci einging ist bzw. ihn in dieser Form zum Vorschein brachte. In der Einöde oberhalb des Pazifiks, wo rundherum Kakteen und Dreck sind, hat er diesen einmaligen, zum Pazifik hin offenen Platz geschaffen, etwas wirklich Einzigartiges. Vielleicht kennen Sie Norberg-Schultz, der sehr viel über den Genius loci geschrieben hat. Er war in den sechziger und siebziger Jahren ein sehr bekannter Architekturtheorethiker und –historiker, damals, bevor man in der Architektur begann, in Fassaden und Hüllen das Heil zu finden, von hohem Ansehen - er war auch in Graz als Professor im Gespräch, was ich damals sehr unterstütze, und hielt einen sehr inspirierenden Vortrag.

Zur First Unitarian Church and School in Rochester, New York [ Abb. 15-20]. Ich zeige ihnen eine Grundrißzeichnung, die er ein “form drawing“ nennt. Das Interessante ist, daß er erläutert, warum das kein Entwurf sei. Er ist nämlich der Meinung, daß die vier großen quadratischen Räume in den Ecken ein Teil seines Formkonzeptes sind, sie aber im Entwurf nicht haltbar sein würden, denn es gebe keine Funktion und keinen Raumbedarf, der gleiche Räume mit ähnlich wertigen Funktionen besetze. Deshalb nennt er das auch „form drawing“. Der Hauptraum ist ein Quadrat, umgeben von einem Zylinder, über den Licht herunter kommt. Sie sehen auch schon hier, wie das Dach konzipiert ist, es ist wirklich wunderbar. In der zweiten Entwurfsphase sieht man nun, in den Versionen I und IV, was aus dem form drawing wird. Einer der quadratischen Räume bleibt erhalten, die andern werden geändert. In der Folge sieht man, wie dieser Raum weiter entwickelt, alles noch einmal geändert wird. Man kann in Ansicht und Schnitt sehr schön sehen, wie er das mit den dienenden und bedienten Räumen meint. In der endgültigen Version ist die Fassade durch die Nischenbildung als tiefes Objekt entwickelt, sie veranschaulicht, was er unter dienenden Elementen verstand: Sie dienen der Belichtungskontrolle, der Öffnung und dem Auflösen eines Baukörpers nach außen hin, so daß er an Tiefe gewinnt. Ich glaube, er war der erste, der das gemacht hat. Corbusier hat es auch gemacht, besonders bei Großformen wie in Chandigarh, auf seine Art etwas anders. Dann der Hauptraum, der Saal und die Aufbauten für die Lichtführung, auch dieser Fensteranschnitt: er ist dreieckig eingefügt und vorne geht die Stütze im Mauermassenbau herunter. An einer der Stirnseiten wurde von Kahn in einem späteren Entwurfsstadium eine Schule angefügt. Ich halte das Bauwerk einfach für große Architektur.

Das Indian Institute of Management in Ahmedabad [Abb. 21-22]. Ich kann nur einen Teil zeigen, es ist ein Krankenhaus. Ich zeige Ihnen, wie die Hörsäle und andere Räume konfiguriert sind. Alles zusammen und jedes Bauwerk allein ein Wunderwerk, das man vom Vorangegangenen nicht voraussagen kann. Immer wieder ist die Einzigartigkeit Kahns erkennbar. Man weiß, daß es die Sprache von Kahn ist, aber jedes Bauwerk ist immer einzigartig, jedes ein Kunstwerk. Ahmedabad ist übrigens eine Reise wert (also die staatlich subventionierten Architekten unter Euch können sie sich ja leisten, ich leider nicht). Auch Le Corbusier hat in Ahmedabad einige sehr schöne Bauten gemacht, zum Beispiel das Haus Shodan, auch in Ziegel und Sichtbeton, ein großartiges Bauwerk. Zurück zum Indian Institute of Management. Gezeigt sind auf der einen Seite Küche und Refektorium, dahinter ist ein Hof, dahinter die Bibliothek an einer Seite, unten sieht man die Klassenräume. Jenseits davon befinden sich die Dormitories, zu denen die Rampe hinauf führt [Abb. 22]. Ein sehr komplexer Plan. Man sieht immer, wie klar alles organisiert ist, daß das, was das Wesentliche, das zentrale Element räumlicher Natur ist, immer größer in Erscheinung tritt, ganz natürlich, und daß das Andere dienender Natur ist, obwohl es im gestalterischen Ausdruck bedeutend ist.
Schließlich ein Ausschnitt aus dem National Capitol of Bangladesch, in Dhaka [Abb.23]. Das Gebäude wurde 1978 fertig gebaut. Kahn ist 1974 gestorben. Von diesem Gebäude habe ich wenig fotografieren lassen und das meiste, das ich mir an Material zugänglich ist, zeigt Baustellen.

Als Kontrast und Übergang zum Zeitgeist der letzten Jahre von Kahns Leben der Notsh Showroom eines Shoppingzentrum in Sacramento, Kalifornien, von SITE. Das Bauwerk hat eine Fassade aus einer Art von Ziegellaminat, Klinkerplatten, die im Verband auf einem Gewebe aufgeklebt sind und großflächig auf Fassaden aufgebracht werden, wie es in den USA häufig gemacht wird. Das sieht dann aus wie ein Gebäude aus Ziegeln. Eine solch aufgeklebte Fassade kann man sich abgezogen vorstellen, als “peeling“, eine Fassade, die wie eine Haut abgezogen wird und oben gebogen vorsteht. Kahn hätte das nicht so gemacht, er hat zu dieser Art von Architektur gemeint:“ Why would anyone want to do that?“.
Damit möchte ich ihn als Person charakterisieren: Kahn hatte nie andere Personen herabgesetzt, ganz im Gegensatz zu Corbu, der es wirklich verstanden hat, sich in den Vordergrund zu stellen und der versuchte, jeden, der irgendwie vielleicht ein Konkurrent hätte sein können, schlecht zu machen. Ich denke hier beispielsweise an seinen eigenen Cousin, ich denke an Mart Stam; Andre Lurcat hat für ihn auch nicht existiert. Kahn war da ganz anders. Er hat nur gesagt: warum sollte jemand das tun? Und das war ja die Frage, die er sich selbst immer stellte: warum tu ich das? Alles, was er gemacht hat, steht unter dem Motto, das er immer wieder auch nennt: “man muß den Dingen auf den Grund gehen“. Unter diesem Gesichtspunkt hat Kahn eben auch vorgefasste Meinungen über Bord geworfen, wenn ihm etwas eingefallen ist als Begründung für das Verwerfen. Also nicht „warum nicht“? als Begründung für etwas was man tut, wie es meiner Meinung nach im individualistischen Subjektivismus heute ja das Motto ist, sondern „warum“. Und dann stellt er eben immer die Frage: warum sollte jemand das tun?; nach dem „Warum“. Dies ist eben keine Geringschätzung der anderen, denn sonst hätte er sich ganz anders ausgedrückt, es ist nur ein „Warum“?

Zum Abschluss möchte ich noch zusammenfassen: Kahn ist 1974 an der Penn Station in Manhattan gestorben. Es heißt, er sei dort auf der Toilette einem Herzinfarkt erlegen und sei drei Tage im Leichenschauhaus gelegen, bevor man überhaupt gewußt habe, wer er sei. Er war ein großartiger Architekt und verdient es, mehr Beachtung zu bekommen. Nicht, dass man sich verleiten lassen darf durch das, wie seine Bauwerke erscheinen, sondern durch die Methode und den Anspruch des sich in eine Aufgabe hinein Versetzens. Es ist überraschend, dass in der relativ kurzen Zeit von nur 25 Jahren Praxis, doch entscheidende Bauwerke entstanden sind. An vielen seiner Bauten arbeitete 15 Jahre lang. (Wenn Sie heute einen Monat für den Vorentwurf haben und einige Wochen für den Entwurf, dann muß schon alles geschehen sein, weil man Ihnen nicht mehr Zeit zugesteht. In Wettbewerbsjurien wird oft überhaupt nicht geschaut, was geplant ist, sondern wird nur so ungefähr geschaut).
Kahn war ein ganz großer Mann. Wer sich mit seiner Lichtführung näher befassen will, sollte das Kimbell Art Museum in Fort Worth studieren, ein hervorragendes Bauwerk. Seine Materialbehandlung, sein Sichtbeton, ist etwas, was ich sonst nirgends annähernd so gesehen habe. Er sieht aus, als wäre es geschliffener Stein, auch wenn er gewölbt ist. Einfach unglaublich. Ich habe dann im Kimbell Art Museum den Builder getroffen, der es gebaut hat, und ihn bei einer Veranstaltung gefragt, wie er das gemacht habe. Er lächelte nur und meinte, das ginge schon. (Also wenn Sie bei uns jemals mit Sichtbeton arbeiten, dann sind Sie in einer anderen Liga, das können Sie mit glauben.)

Danke für ihre Aufmerksamkeit.
Bernhard Hafner, Architekt

BIBLIOGRAFIE:
Heinz Ronner und Sharad Jhaveri, “Louis I. Kahn, Complete Works 1935-1974”, Birkhäuser 1987, ISBN 3-7643-1347-1, ISBN 0-8176-1347-1
Architecture at Rice 26, “Louis I. Kahn, Conversations with Students”, Architecture at Rice Publications , Princeton Architectural Press, 2nd Edition. Peter Papademetriou; Kahn Conversations with Students; Lars Lerup; Michael Bell, Text englisch. ISBN 1-56898-149-X
Alessandra Latour (Auswahl aus), “Louis I. Kahn, Die Architektur und die Stille, Gespräche und Feststellungen”. Aus dem Englischen von Lore Ditzen und Kyra Stromberg. Birkhäuser Verlag, ISBN 3-7643-2826-6
Pennsylvania Academy of Fine Arts, Exhibitions 1978-1079, „The Travel Sketches of Lois I. Kahn”, Library of Congress Number 77-95244Introduction by Vincent Scully, mit ausführlicher Bibliographie und Biographie

KURZBIOGRAFIE
BERNHARD HAFNER wurde 1940 in Graz geboren. Er studierte an der Technischen Universität Graz und an der Harvard University. Hafner war Professor und Gastprofessor an der University of California, Los Angeles (bis 1974), Cornell University (1974), University of Texas, Arlington (UTA, 1977-79) und am New Jersey Institute of Technology (2000). Er ist seit 1976 als freischaffender Architekt tätig und betreibt seit 1980 ein Architekturbüro in Graz. Außerdem ist er Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten und theoretischer Texte zur Architektur.

Bauten (Auswahl):
Erweiterung Grabenstraße 21, Graz (1985-90), Wohnanlage Rettenbach (1986 – 91), Laborhalle der Montan Universität Leoben (1990-92), Wohnanlage Andritz (1990-94), Altarraum Nestelbach (1994), Reorganisation und Umbau Malervereinigung (1994-95), Lehrwerkstätte der Landesberufsschule 6, Graz (1995-2000).

Publikationen (Auswahl):
"Tanz der Lurche" 2002 Loecker Verlag
"Architektur und Sozialer Raum" 2002 Loecker Verlag> > VORSCHAU

Am Sonntag, den 10. Juli 2005 auf GAT:
> sonnTAG 084 "Sidesteps", Vortrag von Architekt Peter Hellweger, gehalten am 22. Mai 2005 anlässlich der 2. Kino-Matinee zur Architektur Louis I. Kahns im Augartenkino KIZ in Graz.

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