21/11/2004
21/11/2004

Zubau für Josef und Sarah, Holzkonstruktion, Peckham Rye, London

Ruine der kaiserlichen Basilika von Otto I und dessen Söhnen, Memleben, Deutschland

Kingsland Road, Dalston, London

Sash-Fenster mit innenliegenden Balken

Parkholme Road, Dalston, London

Edwardian Terrasse

Eingangsbereich

Zimmer

Burgenlandkreis, Deutschland

Dorf im Burgenlandkreis, Deutschland

Zubau fuer Joseph und Sarah, Abbrucharbeiten und Fundamente, Peckham Rye, London

Zubau fuer Joseph und Sarah, Dachstuhl, Peckham Rye, London

Zubau fuer Joseph und Sarah, Dachlandschaft, Peckham Rye, London

Guardian

"Sorry, the room is gone!"
von Günter Hainzl.

Nach ein paar sommerlichen Monaten in der Steiermark bin ich wieder hier in London. Wie das Wetter in London ist? Regenerisch und feucht kalt, so wird es auch bis April bleiben.

Ich bin wieder heimgekehrt, oder doch wieder weggegangen. Ich bin mir darüber nicht immer ganz im Klaren. Es sind mittlerweile acht Jahre vergangen, seitdem ich das erste Mal einen Fuß auf diese Insel gesetzt habe. In diesen verstrichenen Jahren gab es Abschnitte, in denen ich mich in London zuhause fühlte, dann gab es auch Zeiten, in denen ich diesen Moloch einer Stadt verflucht habe. Wir, die Stadt und ich, haben uns stark verändert in dieser Zeit. London ist um vieles teurer geworden, besonders was die Unterkunft betrifft. So sind die Mieten in den letzten acht Jahren um mehr als das Doppelte angestiegen und leider auch der Preis des Bieres. Die stärksten Veränderungen bemerke ich in der Art und Weise, wie sich die Bewohner dieser Stadt ihrem Leben und dessen Werten stellen. Geld und materielle Dinge werden immer mehr zur Religion und auch dementsprechend verehrt und begehrt. Und falls man sich kein exzessives Leben leisten kann, gibt es an jeder Ecke Banken und Kreditinstitute (Kredithaie), die einem gerne das nötige Kleingeld bereitstellen, damit man gelassen über seinen Mitteln leben kann. Natürlich hat diese gestellte finanzielle Ungebundenheit auch ihren Preis: nämlich das Gebundensein an Arbeit und auch an die Stadt selbst, da die Löhne in London um einiges höher sind als außerhalb. Ein weiterer Preis ist der Verlust der Seele: ‘this city has got no soul’ (Gerry Rafferty: Baker Street). In den Morgen- und Abendstunden werden die U-Bahn Stationen zu Trichtern, welche simultan Arbeitermassen mit ungeheurer Wucht und Geschwindigkeit einsaugen und wieder ausspucken. Wenn man bereits wie eine Ölsardine in die Waggons der ‘tube’ gepfercht wurde, erschallt dann noch die Durchsage: ‘This is your conductor speaking! Please move inside, there is still more space.’ Es gibt noch mehr Raum! Nein, es gibt keinen Raum mehr! Und falls doch, Raum für was?

Ich lebe jetzt in einem Stadtteil von London, wo es keine U-Bahn gibt; keinen Trichter – jedenfalls nicht bis 2009, sofern alles nach Plan läuft (nicht sehr wahrscheinlich bei "Transport for London"). Der Stadtteil liegt im Nordosten der Metropole, in Bourough Hackney, einem der ärmsten Bezirke der Insel (inklusive Nordirland). Dalston, so ist die genauere Bezeichnung dieses Viertels, ist gekennzeichnet durch seine multi-ethnische Demographie und seine günstige Verkehrslage zu den Innenstädten Londons, die man relativ schnell per Bus erreichen kann und einer gewissen, beruhigenden Abgeschiedenheit von den Zentren. Im Gegensatz zu vielen anderen Teilen konnte Dalston ein Gefühl von Dorfgesellschaft bewahren. Ein guter Indikator sind die Pubs, die meistens unpersönlich sind und sich niemals einem einzelnen Gast widmen können. Hier jedoch in Dalston spricht man von ‘locals’ – auf deutsch würde man wohl ‘Stammkneipen’ sagen – die Gäste kennen sich untereinander und man ist auch nicht abgeneigt, Fremde im Ort aufzunehmen.

Es hat eine Weile gedauert, bis ich dieses Zimmer hier gefunden habe. Eine Wohnung in London zu suchen ist fast immer ein tragisches Unterfangen. Der Wohnungsmarkt ist immer in Bewegung, folglich gibt es immer großen Bedarf, das Angebot ist jedoch in den meisten Fällen sub-standard, besonders wenn man dies mit Zentraleuropa vergleicht. Nichtsdestotrotz sind die Preise exorbitant hoch und die Vermieter gefallen sich als präpotente Cowboys des Immobilienmarktes – von den Maklern möchte ich gar nicht sprechen. So kann es schon des öfteren vorkommen, dass man zu arrangierten Wohnungsbesichtigungen gelangt und vom Vermieter mit den Worten 'Sorry, the room is gone! Good luck' begrüßt wird. Oder auch überraschend anerkennen muss, dass die Beschreibungen in den Zeitungen und Internetforen fantastische Variation und Interpretation von einer überteuerten Realität sind. Es gibt auch einen neuen Trend, für jene mit begrenzten Mitteln oder starker Neigung zu Gesellschaft: diese Wohnungen nennt man ‘communal livings’. Das sind Häuser, in den mehr als zehn Bewohner in Zimmern (in manchen Fällen werden diese auch geteilt) einquartiert sind und sich eine Küche, Wohnzimmer und Sanitäranlagen teilen. Auf die Frage, wie man wohl unter solchen Umständen angenehm leben kann, bekam ich zur Antwort: "Drugs, man!"

Nein, mein Zimmer ist recht o.k., wenn man die Dinge in Relation sieht. Es hat gute Proportionen, eine angenehme Raumlichte und ein Fenster mit Blick auf den Garten. Die Möblierung ist eher alt, aber, Gott sei Dank, nicht von Ikea. Wahrlich hat das Haus bauliche Mängel und würde sang- und klanglos versagen, müsste es den Baunormen gerecht werden. Das Haus liegt in einer ruhigen Straße, welche von Reihenhäusern verschiedenster Epochen gesäumt ist. Die Bushaltestelle ist gleich um die Ecke und der jamaikanische Straßenmarkt ist fünf Minuten zu Fuß entfernt. Was will man mehr? Ich wüsste einiges . . .

Wie meist üblich, sind Wohnungen eher selten zum Wohnen genutzt, sondern eher nur zum Schlafen. Ich denke, dass dies ein Phänomen unserer modernen Zeit ist, in der Arbeit, Wohnen und andere Aktivitäten räumlich getrennt stattfinden. Diese Situation kann Vorteile mit sich bringen, aber auch Nachteile. Manche sehen in dieser Form möglicher Ortsungebundenheit und Ortlosigkeit einen gewissen progressiven Charme. Ich bin kein Verfechter von translokalen Strukturen. Nichts destotrotz bin ich gefordert, mich diesem räumlichen und kontextuellen Riss zu stellen. So habe ich die letzten Wochen hauptsächlich außerhalb meines Raumes verbracht: in Büros, auf Baustellen, auf potentiellen Baugründen, in neuen Stadt- und Landstrukturen, die mir bis jetzt fremd und fern waren; und natürlich auch in Verkehrsmitteln. Ich war in Newcastle, Edinburgh, Leipzig, Halle an der Salle, Andover (Süd-West England), Peckham Rye (London), Chorleywood (Buckinghamshire, nord-westlich von London) und immer wieder – nur für eine kurze Erholungsphase – in Dalston.

Ich arbeite an einem Wettbewerb im Osten Deutschlands, in einem Land, welches ungemein reich an Zeit und Historie ist, übersät mit wunderbaren Zeugnissen vergangener Kulturen, wie zum Beispiel der Romantik. Ein Land, welches einem das Gefühl gibt, dass es noch immer schlummern möchte, obwohl die westlichen Magnaten bereits an des Landes Türe pochen, um es in das 21. Jahrhundert zu reißen. Für die Zukunft scheint dieses Land keine Zeit mehr zu haben.

Ich verfolge mit Spannung und großer Freude das rasche Entstehen eines kleinen Projektes im Herzen von Südlondon. Und ich kann es nicht abwarten, wieder vor Ort zu sein, um das Holz zu riechen; um durch den weichen Boden der Baustelle zu hüpfen, und um zu testen, ob die langen Gedanken der Entwurfsphase sich in der Realität genau so gut anfühlen wie in der Imagination im Kopf und auf dem Reisspapier.

Ich bin froh, heute hier in Ruhe in meinen Zimmer zu sitzen und zu schreiben.

Den ‘Weekend Guardian’ werde ich dieses Wochenende noch lesen. Und morgen die 15.20 Vorstellung des koreanischen Films ‘oldboy’, danach ein paar Pints im 'local' zum Wochenschluss.
Günter Hainzl:
Studium der Architektur, London
Studium der Architekturgeschichte und Theorie, London
nebst privaten Bauprojekten, Arbeit in Architekturbüros (Graz, London)
derzeitiger Aufenthaltsort: London

Verfasser/in:
ausgewählt von Ute Angeringer und Markus Gfrerer
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+