15/09/2014

Refugi Lieptgas. Die Transformation eines Maiensässhäuschens zum Kleinod aus Beton. Die Schweizer Architekten Selina Walder und Georg Nickisch von Nickisch Sano Walder Architekten aus Flims, Graubünden (CH), erhielten dafür 2014 eine Anerkennung der Zeitschrift Hochparterre.

In der GAT-Reihe architektur> werden Bauwerke innerhalb und außerhalb Österreichs veröffentlicht, die an der Schnittstelle von Architektur und Kunst einzuordnen sind. Bei der Kuratierung werden Projekte von AkteurInnen bzw. ProtagonistInnen mit Bezug zur Steiermark bevorzugt

15/09/2014

Refugi Lieptgas – Ferienhaus in Flims von Selina Walder & Georg Nickisch, Flims, 2013. Außenansicht

Architektur: Selina Walder & Georg Nickisch©: Tim Lüking

Gebäudeecke mit Felsgrube

©: Tim Lüking

Gebäudeecke durch Blockhüttenschalung

©: Tim Lüking

Abdruck Holzauge

©: Tim Lüking

Betonierte Küchenplatte

©: Tim Lüking

Essen am Kamin

©: Tim Lüking

Lichtung als Bild

©: Tim Lüking

Baumkronen als Bild

©: Tim Lüking

Felsenbild vor Badewanne im Schlafbereich

©: Tim Lüking

Der Graubündner Ort Flims dürfte ArchitektInnen vor allem als Heimat der Olgiatis bekannt sein, deren Arbeiten sich auch im Ortsbild wiederfinden lassen. Der Sohn Valerio, Professor in Mendrisio und an der Harvard University in Cambridge, wird eher als weltweit tätiger Architekt ob seiner publizierten und ausgezeichneten internationalen Projekte wahrgenommen. In Flims hat er jedoch ein Büro und dort transformierte er das Gelbe Haus auf sensible Weise. Sein Vater Rudolf setzte vor etwa 50 Jahren bedeutende Akzente durch die gestalterische Übersetzung historischer Entwurfsprinzipien in die Architekturmoderne. Einige dieser architekturgeschichtlich bedeutenden Wohnhäuser stehen im unteren Stadtteil von Flims-Waldhaus. Bricht man von dieser Siedlung nach Osten zu einem Spaziergang in den Flimser-Wald auf, passiert man am Übergang zwischen Siedlung und Wald ein weiteres architektonisches Kleinod.

An dieser Stelle befand sich ein für die Region typisches Ensemble aus einer Scheune und einem Maiensässhäuschen. Diese Häuser bezogen die bäuerlichen Familien mit ihren Bediensteten ab Mai mit dem Almauftrieb. Entsprechend der baulichen Tradition waren beide Objekte Strickbauten – Blockhütten aus Rundhölzern. Den Standort des Maiensässhäuschens bestimmten mehrere große Felsbrocken. Sie bildeten eine Grube, in der vor Ort hergestellter Käse kühl gelagert werden konnte. Diese verschattete, feucht-kalte Situierung wirkte sich jedoch zusammen mit der fehlenden Bewirtschaftung negativ auf den Blockhausbau aus und so war das Haus in einem schlechten baulichen Zustand.

Der Eindruck eines Maiensässhäuschens
Die ursprüngliche Nutzung von Maiensässhäuschen als bäuerliche „Sommerresidenz“ auf der Alm ist heute nicht mehr gegeben. Vor diesem Hintergrund stellt die Umnutzung von Maiensässhäuschen in Ferienhäuser einen üblichen Prozess dar, um das kulturell erhaltenswerte Bild entsprechender Ensemble beizubehalten. In der Regel werden dafür die bestehenden Objekte durch zeitgenössische Bauten im Holzbaukleidchen ersetzt. Die Architekten Selina Walder und Georg Nickisch entschieden sich jedoch dazu, kein Replikat des Häuschens zu errichten, sondern das ursprüngliche Gebäude mittels Abdruck in Beton zu bewahren. Erreicht wurde dieses Ziel, indem die Außenwand der Strickbaus als Schalung für den neuen Baukörper genutzt wurde; die äußere Form des Nachfolgers zeichnet somit das Innenraumvolumen seines Vorgängers nach.

Herausgeschält findet sich nun an dieser Stelle ein gedrungenes Häuschen, dessen Erscheinung äußerlich durch horizontal verlaufende Kanneluren geprägt wird. Faszinierend sind die Gebäudeecken. Wirkt die Innenecke einer Blockhütte noch profan, verdeutlicht ihr Negativabdruck sehr eindrucksvoll die geometrische Komplexität der Verschneidung. Bei näherer Betrachtung der Kehlen wird deutlich, wie hervorragend das ursprüngliche Maiensässhäuschen durch diesen Prozess konserviert wurde: der Beton zeichnet sehr präzise die Baumstämme mit ihren Holzaugen und sonstigen Fehlstellen nach.

Unterbrochen wird die horizontale Gliederung durch die Abdrücke von Rundholzköpfen, die auf alte innenräumliche Strukturen verweisen. Bei dem Objekt könnte es sich um eine Skulptur Rachel Whitereads handeln, die die Leere des Innenraums in Massivität widerspiegelt, so wie das beispielsweise bei dem von Whiteread gestalteten Wiener Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah der Fall ist. Im Gegensatz zu den Projekten der englischen Künstlerin, denen kein Nutzung eingeschrieben ist, verweisen bei dem Refugi Lieptgas zwei in das versteinerte Innenraumvolumen eingeschnittene Öffnungen auf die Anwesenheit eines neuen Innenraumes.

Die Laibungen der Öffnungen mit einer Tiefe von 50 bis 60 cm werden nicht unterbrochen und sind ebenfalls komplett aus Beton; der Fenster- und Türrahmen wurde von innen auf die Wandfläche gesetzt. Diese Anordnung unterstreicht das Konzept des Abdrucks, da dadurch der betonierte Körper für sich steht; das Fenster und die Tür werden als hinzugefügte Elemente wahrgenommen. Ausgeführt wurde die einschichtige Wandausbildung mit einer Leichtbetonmischung, um den wärmeschutztechnischen Anforderungen gerecht zu werden.

Der Innenraum
Betritt man das Haus durch die Tür in der nördlichen Giebelwand – die Öffnung entspricht in der Lage und Größe der des alten Maiensässhäuschens – gelangt man in dem Wohnraum. Für die innere Oberfläche der Leichtbetonwände wurde eine glatte Schalhaut gewählt. Die Wand wird damit zum reduzierten Element, das keine Konkurrenz zu den anderen Einbauten und Möbeln aufbaut. Rechter Hand ist eine Küchenzeile, deren Arbeitsplatte inklusive Spüle auch betoniert wurde. Linker Hand befindet sich ein großes Fenster mit einem Tisch und einer Sitzbank davor, die sich ebenfalls als Betonelement aus der Wand entwickelt. Die Öffnung gibt einen Blick auf eine Lichtung frei und lässt Morgensonne weit in den Raum hinein. An der anderen Giebelseite weicht die Wand in Teilen zurück und bildet damit eine Kaminnische. In der Dachfläche ermöglicht eine kreisrunde Öffnung den Blick in die Kronen der umgebenden Bäume. Dieser Raum ist ein Rückzugsort, der wohldosierte Ausblicke in die Umgebung gewährt.

Neben der Küchenzeile öffnet sich die Wand für eine schmale Stiege ins Untergeschoß. Diese führt an einem Technikraum und dem Bad vorbei in einen Raum, der sich ob seiner Schlichtheit und Reduktion am ehesten vielleicht als Schlafkammer bezeichnen lässt. Fußboden, Wände, Decke: an fünf Seiten zeigt sich die Oberfläche zementgrau. Die sechste Seite besteht aus einem Fenster, das als Bilderrahmen fungiert. Der Ausblick beträgt keine eineinhalb Meter, dann wird er von großen, grauen Findlingen begrenzt. Unmittelbar vor dem Fenster in einem Betonsockel ausgeführt befindet sich die Badewanne. Der Raum vermittelt eine absolute Introvertiertheit und bietet eine Abschottung von der Umgebung. Gleichzeitig offenbart er durch die greifbare Nähe dieser robusten, schroffen Findlinge im Tageslicht eine unglaubliche Naturverbundenheit. Dieses kraftvolle Bild bindet den Blick derart, dass die anderen Möbel kaum wahrgenommen werden; sie drängen sich aber auch nicht auf. So findet der Wandschrank sein Volumen in der Außenwand und zeichnet sich nur über die aufgesetzte Tür aus Weißtannenholz ab. Das Material wurde mit einer hohen handwerklichen Verarbeitungsqualität für alle eingebauten Möbel, Türen und Fenster im Refugi Lieptgas genutzt.

Im Gespräch äußerte die Architektin Selina Walder die Hoffnung, dass das Refugi Lieptgas wie die Felsbrocken im umgebenden Flimser-Wald bald von Moos erobert wird und sich so weiter in die Umgebung einbettet. Es ist nur ein ganz kleines Häuschen, das die Architektin und ihr Partner mit einem großartigen Gespür für den Ort und das Detail geplant haben. Es war von den Architekten nicht als Architekturmonument gedacht. Dieses Wort ist auch zu groß und schwer für solch ein kleines Häuschen, obwohl das Refugi diesem Ausdruck dank seiner Kompaktheit und massiven Hülle standhalten könnte. Der eingangs verwendete Begriff „Kleinod“ trifft es sicherlich am besten.

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