21/07/2020

GAT veröffentlicht in der Kolumne Privatissimum vom Grilj jeden dritten Dienstag im Monat Texte zum Nachdenken.

Zur Person
Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

21/07/2020
©: Mathias Grilj

"Seufze nicht, wenn du dein Laken bettest.
Es mischen sich sonst deine Träume
Mit dem Schweiß der Toten."
(Nelly Sachs)

"Anfangs wollt ich fast verzagen
Und ich glaubt, ich trüg es nie.
Und ich hab es doch getragen,
Aber fragt mich nur nicht, wie."
(Heinrich Heine)

"In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen."
(Bertold Brecht)

"Von schönsten Wesen wünschen wir Vermehrung,
Damit der Schönheit Ros´ unsterblich sei..."
 (William Shakespeare)

Zirkelschlag über fünf Generationen
oder Hinter dem Hausbau

Die Frau, noch keine 50, ruft ihren Sohn ans Sterbebett. „Versprich mir, dass du ein Haus bauen wirst.“ Er weiß gut, dass so ein Auftrag heilig ist und wiegt, dass er den Lebenstraum der Sterbenden enthält, eine beladene Obsession. Er küsst die schweißnasse und zerfurchte Stirn und eine Hand, die er als harte Hand erlebt hat. Die Sterbende verlässt sich auf sein Wort. Es wird dann heißen, sie sei „nach einem schweren und entbehrungsreichen Leben friedlich entschlafen“.

Zu sagen, dass die Tote „ärmlichen Verhältnissen“ entstammte, ist ein fast schamloser Euphemismus. In ihr, die in Kindheit und Jugend nie ein Zuhause gehabt hatte und vom Leben hin- und hergeschoben worden war, als treuester Begleiter stets der Hunger, in ihr wucherte wie ein dämonisches Karzinom die Vision, in einem eigenen Haus würde alles gut. Der ordnete sie im Alltag jeden Handgriff unter, mit einer geradezu rücksichtslosen Entschlossenheit. Nun muss der Ausdruck „eisern vom Mund abgespart“ kommen – der trifft es. Doch kam über Nacht die Inflation, und alles vom Mund Abgesparte – für einen Rohbau hätte es womöglich schon gereicht – langte für wenig mehr als für ein Paar Schuhe. Damit ging der Sohn, für den der Pfarrer ein Stipendium erwirkt hatte, auf ein Jesuitengymnasium. Dann kam der Krieg, und die ganze Familie wurde ins Arbeitslager deportiert.

Nach dem Krieg: Dieser Sohn – schnell im Studium und erfolgreich in der Arbeitswelt, wird einen Sohn zeugen und heiraten, dann kommt noch die Tochter zur Welt, er wird ein gutes Dutzend Bäume pflanzen – wovon die Wühlmaus zwei verschont. Und mit aller zielstrebigen Unerbittlichkeit, die er von Mutter und vom Überleben im Lager gelernt hat...

als Einschub: wie man beim Gestapo-Verhör mit Stiefeln auf seinen Händen tanzt...

... macht er sich daran, sein Gelübde zu erfüllen. Er wird ihm so gut wie alles unterordnen und das Ziel erreichen. Die junge Familie bezieht ihr Heim in einem Spätherbst, noch ehe der Zimmermann alle Türen geliefert und der Hafner die Öfen gesetzt hat. Ein Pferdefuhrwerk bringt über steile und nicht asphaltierte Wege die Möbel zur neuen Adresse, die noch keine Hausnummer hat. Bei der Ankunft bricht ein Sturm los, als wollte er den Einzug verhindern. Die Pferde schreien, ihre irren Augen, und schlagen aus. Der vierjährige Sohn muss zwischen Blitzen, die wie grelle Schlangen durch das Gras zischen, Stühle in den Neubau schleppen. Schneller! Dabei stolpert er, und eine Sessellehne schlägt ein Stück Verputz aus der Küchenwand. Für diese Tempelschändung schleudert ihn die väterliche Ohrfeige durch den Raum. Er wird nie vergessen, wie feuchter Verputz riecht, und Vater wird ihn nie um Verzeihung bitten.

Der erste Tag im neuen Haus. Und der Bub sah, dass es nicht gut war. Es wird ihm nie ein Zuhause. Auch als sich durch die Jahre sein Leben in die Länge zieht, wird er kaum das Gefühl bekommen, an einem Ort daheim zu sein. Das passiert höchstens in einem Blick und Augenblick, im Klang einer Stimme oder einem Duft, in einer Umarmung oder im schmerzhaft gewordenen Erinnern. Letztlich in einem gegebenen oder gefundenen Wort, also im Satzbau, der ihm das Fragilste und Verlässlichste zugleich ist. Sonst hat man nur Meldeadressen.

An der neuen Adresse bekommt die Ehe schärfere Risse und zerbröckelt. Als wäre beim Verputz des Rohbaus die handwerkliche Regel missachtet worden: weich auf hart. Hier war es umgekehrt, und das Harte hat das Weiche erdrückt. Wieder ein Fuhrwerk, diesmal hangab, man muss jetzt tüchtig an der Bremse kurbeln. Das fremdgebliebene Daheim und ein verlassener Hausherr bleiben im Rücken und sind bald nicht mehr zu sehen. Alle Schuld am Zerschellen der Familie gibt das Kind diesem Bau und verflucht ihn mit trockenem, hilflosen Hass. Es schwört sich, nie ein Haus zu bauen.

Dann gehen, wie man sagt, die Jahre ins Land. Und in einem anderen Land sieht der nun junge Mann – fast so alt wie sein Vater es war, als er am Sterbebett das Versprechen gegeben hatte – ein Mädchen stehen. Unter der sagenhaften Weikhard-Uhr trifft ihn also, wie es heißt, der Blitz. Er wird dem Mädchen bald sagen: „Ich will alles für dich tun, nur ein Haus baue ich nicht.“ Sie nimmt ihn trotzdem und wird bleiben. Sie bauen an etwas anderem. Beide entstammen sie kaputten Beziehungen, auf beiden liegt bei aller Unbeschwertheit ihrer Jugend auch der Staub ehelicher Ruinen, der schale Geschmack von Enttäuschung und von falschen Deutungen, auch der Schmerz fremder Wunden, den man selber spürt, aber nicht so recht zuordnen kann. Und Dämonen, die schon den Alten auf den Schultern hockten.

Ihre Kinder, die es diesbezüglich besser haben sollen, wachsen in einem Gebäude auf, das 1888 errichtet wurde. Die Rennstrecke für ihr Dreirad durchmisst fünf Räume. Der Vater lernt: Sobald du selber Kinder hast, begreifst du deine Eltern besser und bringst mehr Nachsicht für sie auf. Und nie verlangt es ihn nach einem Hausbau. Nur manchmal, wenn er ein Bühnenbild für eines seiner Theaterstücke macht, wird er – wie man früher sagte – einer Magie gewahr: Da beginnt etwas im lockeren Gekritzel auf einem Zettel zu wachsen, das geht dann durch viele Stadien und Studien und Nächte des Versuchens, Verwerfens, Verfeinerns – und steht auf einmal auf der Spielfläche. Als ein gebautes Ding. Als Tatsache und Lösung in drei Dimensionen. Diese Bühnenbilder könnten als Kunstwerke – etwas affig gesagt: als Installationen – für sich bestehen, auch ohne Spiel und ohne das Echo seines Satzbaus. Drückt er nach der Bauprobe immer wieder auf dem Lichtpult herum, oft bis zum Morgengrauen, und versinkt in den beglückenden Stimmungen zwischen Trance und Präzision, da ahnt er, was Architekten wohl spüren, wenn es soweit ist.

Den Kindern versucht er jemand zu sein, den er als Heranwachsender nicht gehabt hat: Ein Vis a vis beim Gedanken-Pingpong, ein Sparringpartner für den Infight und die absurdesten Kombinationen, die man schließlich auch ausprobieren will. Einer, der dir beim Marathon den Windschatten macht. Laufen musst du selber. Ein Stich in der Brust, als eine der Töchter sich für das Studium der Architektur entscheidet. Das hält er für kein gutes Omen. Aber ihre Lust und Freude, ihr Eifer – heißt „studium“ denn nicht Eifer? – und ihr Fortkommen überzeugen und scheinen gut und viel stärker zu sein als jener Dämon, der damals über dem Hausbau seiner Kindheit geschwebt ist.

So nimmt, wie man sagt, das Leben seinen Lauf, und die angehende Architektin bringt ein Kind zur Welt, seinen ersten Enkelsohn – und Ururenkel jener Frau, die am Sterbebett ein heiliges Gelübde eingefordert hatte. Der Neue hat die dunkel strahlenden Augen seiner Mutter, die sie wiederum von ihrer Mutter hat, der Schönheit – damals unter der Weikhard-Uhr. Manchmal steht im Haus von anno 1888 dann die vornehme Aufgabe des „Kinderschauens“ an, samt Vorlesen von Geschichten, die auch für unbeschwertes Träumen sorgen mögen. Und einmal, der Bub ist ungefähr so alt wie er war, als ihn nach der Tempelschändung die Ohrfeige des Vaters zu Boden geworfen hatte, liegt er auf dem Laken neben dem Enkel, hört ein zärtliches Flüstern („Rasier dich endlich, du fetter Igel!“) und fragt: „Was willst du denn einmal machen, wenn du groß bist?“ Der richtet sich im Bett auf, strahlt ihn an und verkündet, als sei das eine seit uralten Zeiten beschlossene Sache: „Ich werde Häuser bauen.“

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