17/12/2019

GAT veröffentlicht in der Kolumne Privatissimum vom Grilj jeden dritten Dienstag im Monat Texte zum Nachdenken.

Zur Person
Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

17/12/2019
©: Mathias Grilj

Was war dieser Säurefleck
in der Zeit,
den man das Leben nennt?
Giocomo Leopardi

Wer Ohren hat zu hören,
der höre!
Matthäus, 11,15

Wiedersehen mit Theresia

Gerade gibt mir Theresia die Hand, lacht glöckchenhell und sagt, sie hätte mich ja ewig nicht gesehen. Stimmt. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass Theresia blind ist. Als sie einmal zu Besuch war, hat sie im Stüberl ein kleines Kind auf den Schoß gehoben und ihrer Schwester zugerufen: „Schau nur, wie lieb er lacht!“ Die war auch begeistert vom Lächeln des Fuzzis, das gerade geknuddelt worden ist. Ihre Schwester ist übrigens auch blind.
So sind sie.
Manchmal gehen sie mit meiner Frau shoppen, wie sie das nennen, und Elisabeth nimmt dann die am schaurigsten aussehenden Schuhe in die Hand und sagt in Richtung ihrer Schwester: „Schon fesch, oder?“
Oftmals – „Wir kommen Christbaumschauen“ – haben sie zärtlich die Zweige und Kugeln und Kerzen berührt und geflüstert: „So schön!“ Damals bin ich mit Theresia ganze Stapel ihrer Bürokratie durchgegangen, von Miete über Versicherung bis Was-weiß-ich-Erlagscheinen. In ihrer Küche war zwar alles picobello, aber für mich etwas düster. Inzwischen macht sie das per Computer und braucht mich nicht mehr. Und ihr Bub ist ein Computer-Experte und hat einen Job in London.
Bei Tisch erzählt sie auch, wie sie durch das Tal der Depression gewandert ist und dass ihr die Ärzte gut geholfen haben. Man muss, sagt sie jetzt, schon beim ersten Anzeichen von Verzweiflung selber dagegen angehen. „Schauen Sie sich eine Blumenwiese an! Und hören Sie den Schaferln zu!“
Beim Essen hat sie ihr Kinn mit Soße angepatzt, dann macht sie sich mit der Serviette wieder schön und strahlt nichts als Lebensfreude aus. Manchmal frage ich, ob sie merkt, dass ich diesmal unrasiert bin. Und ich freue mich, dass wir einander wiedersehen, die Blinde und ihr Zuhörer.

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