19/07/2016

Privatissimum vom Grilj


Jeden 3. Dienstag im Monat

Zur Person
Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

19/07/2016
©: Mathias Grilj

Ich sehe das Bessere und billige es,
dem Schlechteren gehe ich nach.
Ovid

Ich warte nicht auf den Zug,
ich bin der Zug.
Jean-Luc Godard

Ein guter Stolperer fällt nicht.
Arno Geiger

Nichts ist stabiler als eine Fahrt
in den Abgrund.
Juli Zeh

Von Haus aus nach Brasilia

Als einer, der gedacht hat, wir seien alleweil bestrebt, es im Leben von Haus aus kommod zu haben, wurde ich neulich eines anderen belehrt. Es hat mit Architektur zu tun und war so: Das Grand Cafe in Zürich ist wie ein gläserner Kasten mit drei Türen. Die lassen sich nur mit einigem Kraftaufwand öffnen. Kein Kellner kann sie – wenn er mit den Tabletts auf die Terrasse hinaus- und dann mit dem Geschirr wieder hineinmuss – locker mit dem Ellbogen aufstoßen. Sitze ich also draußen vor der Tür, fühle ich mich unentwegt bemüßigt, aufzustehen und den beladenen Domestiken die Tür aufzuhalten.
Tja, deshalb könnte diese Glosse etwas zerhackt wirken...
Neulich war es besonders heiß und schwül – und ich sah, oho, dass sich im Grand Cafe so gut wie alle Glaswände öffnen lassen. Na fein, dachte ich, nun müssen sich die Gastro-Jongleure nicht mit den schweren Pforten plagen und gehen einfach durch die nicht mehr vorhandene Wand. Und was machten sie? Schwebten sie mit dem Espresso einfach an der Tür vorbei hinaus und mit dem Leergut wieder hinein? Nein, sie machten es wie immer. Ich sprach eine junge Kellnerin, sie studiert übrigens sowas wie Mediendesign, darauf an. Sie lächelte nur hilflos, nickte, zuckte die Schultern und zog wieder die gewohnten Wege. Und sämtliche Kolleginnen und Kollegen ebenso.
Tja. Was ist da am Werk...?
Kurz argwöhnte ich, dass unsere Kommunikation an meinem Unvermögen leidet, Schwiizerdütsch ohne Untertitel zu verstehen, aber das kann es nicht sein. Tags zuvor hatten wir uns ja über ihr Studium passabel verständigt. Dass sie sowas wie Art-Director werden will, am liebsten in Japan, weil sie Ikebana mag und so. Odrrr?
Tja. Es muss also tiefer liegen...
Ist es genetisch bedingt? Wie bei Schildkröten, die seit dem fünften Tag der Schöpfung stets dieselben Wege zum selben Strand paddeln, um dort ihre Eier zu vergraben? Und die bei ihrer Route bleiben, auch wenn das Ufer längst zubetoniert oder der Strand ein Beach-Volleyballplatz ist? Der fünfte Tag der Schöpfung geht übrigens so: „Und Gott sprach: Es errege sich das Wasser mit webenden und lebendigen Tieren, und Gevögel fliege auf Erden unter der Feste des Himmels.“ (Gen 1,20)
Tja...
Auch jene lapidare Erkenntnis von Freud – „Leiden ist leichter als handeln“ – bringt mich auf der Terrasse des Grand Cafe nicht weiter. Es wäre kein besonderer Aufwand, zwei Schritte neben der Tür ein- und auszugehen. Hier liegt gerade Gegenteil des Erschaffens von Trampelpfaden vor, wie ich es in Niemeyers Brasilia gesehen habe. Kein Mensch plagt sich die langen und vom Stadtplaner vorgesehenen Gehsteige entlang, alle Grünflächen der unwirtlichen Stadt sind von Trampelpfaden durchzogen.
Tja, vielleicht sollten die Kellner vom Grand Cafe, wenn sie Mediendesign studieren, ein Praktikum in Brasilia absolvieren... Odrrr?

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