foto_01.jpeg
Kunst als Wissenschaft? Ho Rui An erforscht und kommentiert „The Ends of a Long Boom“, ein Goldenes Zeitalter, das es nie gab, Ausstellungsansicht
©: Bettina Landl

_Rubrik: 

Rezension
Jetzt ist alles aus, der Wald ist tot!

„Das Millennium ist ein europäisches“, so Kishore Mahbubani, ehemaliger Diplomat aus Singapur und „führender Vertreter der globalen intellektuellen Elite“, der um 2001 feststellte, dass das Millennium eine Zeitenwende im europäischen Kalender war, nicht aber im asiatischen. Für Asien sei das letzte Millennium ein verlorenes gewesen, aber wenn die Menschen dort „sich zusammennehmen“, könnte die Region in diesem Jahrtausend den Ruhm der Vergangenheit aus der Zeit bedeutender Reiche wie Song, Angkor und Srivijaya wiedererlangen. Laut Mahbubani wurde Asien vom Westen überholt, weil die Asiat*innen Asien zurückgehalten hätten. „Can Asians Think?“ fragte er 2001 in seinem Buch und antwortete bereits mit dem Foto am Umschlag, das Mahbubani in Denkerpose zeigt. „Die Ironie daran: Der Asiate auf dem Foto denkt nicht nur, sondern er tut dies in der Manier eines Kartesianiers – cogito, ergo sum. Mit sich selbst ident, muss das asiatische – hier: das kartesianische – Subjekt die Tiefen seines Wesens ausloten und die spirituelle und kulturelle Stärke wiedergewinnen, die es in die Zukunft befördern. Es muss zeigen, dass auch Menschen aus Asien denken können.“, heißt es in Asia the Unmiraculous (2018-20) von Hui Rui An.

Unter dem Titel Ho Rui An. The Ends of a Long Boom in der Kunsthalle Wien am Karlsplatz, kuratiert von Anne Faucheret, präsentiert sich die erste Einzelausstellung des zwischen bildender Kunst, Film, Performance und Theorie agierenden japanischen Künstlers und Autors in Europa und damit fünf seiner Werke, deren Durchdringung (mehr) Zeit voraussetzt, ist doch Hos essayistische Praxis per definitionem hochgradig textlastig, wenn auch das vorhandene Bildmaterial und die vereinzelt ausgestellten Objekte besonders hervorzuhebende Stellen dieses umfangreichen (Forschungs- und Dokumentations-) Materials markieren. Konsequent führt der Ausstellungsguide detaillierte Werkbeschreibungen an, ein Interview mit dem Künstler und kontextalisiert die Arbeiten inkl. Zeitleiste (1863-2027). In ULTIMATE COIN TEST CHINA HIGH SPEED RAIL (Video, 2008), Student Bodies (Video, 2019), Asia the Unmiraculous (Videoinstallation, 2018-20), bestehend aus Digital-Prints auf hinterleuchtetem Film, aufgezogen auf LED-beleuchtetem Acryl, Wandttapete, Bücher und ein magnetisch in der Schwebe gehaltenes Hand-Modell, 2027 (Videoinstallation, 2021) und The Long Boom (Verw.: The Long Boom: A History of the Future, 1980–2020, Essay der US-amerikanischen Zukunftsforscher Peter Schwartz und Peter Leyden aus der Zeitschrift Wired, 1997; Digital-Prints auf Papier, aufgezogen auf Holzplatten und am Boden fixiert, 2021) arbeitet sich Ho an einer so umfassenden wie komplexen Geschichte ab, untersucht die Wirkungsweisen und Auswirkungen des Neoliberalismus, von der politischen Ökonomie bis zum gesellschaftlichen Imaginären, und damit die Verzweigungen der spätkapitalistischen Ideologie in den Medien und der kulturellen Produktion inkl. all seiner Krisen.
The Ends of a Long Boom ist Kunst als „Wissenschaft“ – erfüllt jedoch nicht automatisch wissenschaftliche Qualitätskriterien wie Objektivität oder Validität, und Vermittlerin mit klarem Impetus, nämlich sich unmissverständlich kritisch zu äußern, stets im Hinblick auf bewegliche und sich bewegende Gesellschaftskonstruktionen. Eine ebenso differenzierte Auseinandersetzung mit den Inhalten der Ausstellung wie auch dessen Prüfung sind angebracht, repräsentiert diese in erster Linie die subjektive Position des Künstlers.

In seiner Lecture und Videoinstallation Asia the Unmiraculous, die zum einen für sich spricht, zum anderen die übrigen Werke rahmt, betrachtet Ho die asiatische Finanzkrise von 1997 in Zusammenhang mit dem vorangegangenen „Wirtschaftswunder“; erfahren interessierte Besucher*innen von Clintons Finanzministerium, das global die Liberalisierung der Märkte zu forcieren begann, als der Finanzsektor der USA wuchs, und von dessen Augenmerk auf das lukrative Ostasien. So wie amerikanische Filme dieser Zeit von der Erkundung des Weltalls besessen waren, wurde die Finanzwirtschaft als letzte Grenze der Globalisierung angesehen. Die meisten Regionalmärkte erlaubten bereits freien Warenverkehr, um eine grenzenlose Welt zu verwirklichen. Südkorea, Thailand, Indonesien und Malaysia waren für Investoren besondern attraktiv, da sie ihre Währungen an den Dollar gebunden hatten und ihren Zinssatz über den der USA anhoben. Der Überschwemmung mit ausländischem Kapital folgte ein Investitionsboom. Die Weigerung der Regierungen die Bindung an den US-Dollar aufzuheben, während die USA in den 1990er-Jahren selbst einen Finanzboom erlebten, führte laut Ho schließlich zur Krise: „Sie begann am 2. Juli 1997, als der Bath einbrach, nachdem die Regierung, die nicht genug Rücklagen hatte, um die Bindung an den US-Dollar zu halten, ihn ‚frei schweben‘ hatte lassen.“ (vgl. Floating Currency, engl.) Auslandsschulden lokaler Firmen und Banken explodierten unmittelbar und löste Kapitalflucht und Spekulationsangriffe auf regionale Währungen aus, wodurch am Ende auch Indonesien, Malaysia und die Philippinen ihre Währungen ‚schweben‘ lassen mussten. „Der damalige Premierminister Thailands Chavalit Yongchaiyudh fiel sogar öffentlich in Ohnmacht und meinte dann, er wäre wie der Bath geschwoben.“ Der Künstler schildert den „dramatischen Kollaps“ des Diktators und zeigt ein Foto vom 15. Jänner 1998, das die Unterzeichnung des Kreditvertrags zwischen dem indonesischen Präsidenten Suharto und Michel Camdessus (Geschäftsführer des Internationalen Währungsfonds) zum Gegenstand hat. „Indonesien mit unbezahlbaren Schulden konfrontiert, wie Thailand und Südkorea ein Jahr zuvor, wandte sich für ein Rettungspaket an den IWF. Das beinhaltete Sparmaßnahmen und Strukturreformen. Der einstige asiatische Wunderschüler wurde nun vom Lehrer diszipliniert. Der IWF stellte sich als Retter dar. Bestätigt wurde dieses Narrativ, als Suhartu im Mai 1998 zurücktrat, inmitten von Massenarbeitslosigkeit und politischer Unruhe und nach über drei Jahrzehnten autoritärer Herrschaft.“

Während der Finanzkrise in Asien ging Malaysia seinen eigenen Weg, lehnte jegliche Hilfe des IWF ab und setzte gegen dessen Empfehlungen auf Kapitalkontrollen und die Bindung der Landeswährung Ringgit an den US-Dollar, was sich langfristig als wirksam erwies. Im Zuge dessen zirkulierten Bilder von Mahathir Mohamad (Premierminister von Malaysia), die ein eigenes Genre begründeten: Mahathir Looks at the Economy. Trotz der Verhaftung politischer Gegner*innen und der Einstellung von Zeitungen, war laut westlichen Medienberichten, das Empörendste, das er tun konnte, Kapitalmärkte für fremde Investitionen zu schließen. Doch internationale Investor*innen warteten (nur) darauf, wieder in den Markt einzutreten, mit noch größeren Anteilen als je zuvor. Per Vertrag mit dem IWF bürgten die Regierungen von Thailand, Südkorea und Indonesien für alle privaten Schulden von ausländischen Geldgebern und lokale Firmen und Banken mussten schließen. „Kapitalmärkte wurden zwangsgeöffnet und Plafonds abgeschafft, um Fremdbesitz von Firmen und Banken zu ermöglichen. Der folgende Notverkauf machte die Wirtschaften noch volatiler.“, heißt es im Video.

„Zurück zum Foto von Suhartu und Michel Camdessus.“, so Ho in Asia the Unmiraculous. „Die indonesische Öffentlichkeit erzürnte weniger der besiegte Diktator als die Figur neben ihm. In seinen verschränkten Armen sah man koloniale Arroganz. Dem korrupten Diktator gegenüber stand der neoliberale Technokrat. Besondere Beachtung bekamen die Hände jenes Mannes, der ‚die unsichtbare Hand‘ des freien Marktes symbolisierten. Später, vor seiner Pensionierung, verteidigte Camdessus seien Haltung im Foto. Er sei nicht arrogant gewesen; er wusste einfach nicht, wohin mit den Händen.“ Und er erinnert an Prinzessin Mononoke (1997) und die Enthauptung des Waldgottes, dessen Kopf Unsterblichkeit versprach, der daraufhin aber nicht sofort stirbt. Eine schleimige Substanz trieft aus der Wunde und verwandelt sich in viele sich ausbreitende Hände, als die Gottheit rachsüchtig ihren Kopf sucht. „Die Held*innen der Geschichte, Prinzessin Mononoke und ihr Freund Ashitaka, holen am Ende den Kopf zurück und überreichen ihm dem Waldgott, woraufhin seine Gestalt im Morgenrot zusammenbricht, nachdem das Sonnenlicht das Land überflutet und seine ursprüngliche Ganzheit wieder hergestellt hat.“ Trotz ihres verlorenen Arms überlebt Lady Eboshi, seine Gegnerin, die der Eisenhütte zugehörig war, und kann als ein Hinweis gelesen werden, dass das Eisenwerk weiter bestehen wird, ohne den Wald zu plündern und damit zu zerstören. „Der Film weckt(e) die Hoffnung auf einen erneuerten gemäßigten Kapitalismus, der sich ohne Interventionen reguliert, denn die Mächte des Gottes verteilen sich überall in viele körperlose Hände, die gemeinsam als eine uns ‚unsichtbare Hand‘ wirken und eine gestörte Welt wieder in Balance bringen.“ Der Film kam am 12. Juni 1997, zehn Tage nachdem die Regierung Thailands den Bath „schweben“ ließ und das Finanzchaos in Asien lostrat. Aus dieser Sicht lässt sich der Film als eine Metapher der Krise deuten, „wo einige Ökonomien Ostasiens vom Waldgott dargestellten orientalischen Despotismus zur totalen Marktöffnung wechseln“, repräsentiert von den Händen, die aus dem enthaupteten Staat auftauchen. „Oder aus der Perspektive des IWF: Nur wenn auf den Kopf des asiatischen Diktators gezielt wird, kann ‚die unsichtbare Hand des freien Marktes‘ seine magische Wirkung entfalten. Aber was, wenn die Enthauptung des Staates diesen nicht komplett zerstört? Was ist, wenn der Staat überlebt, aber in einer anderen Gestalt, in anderen Körpern? Was oder wer wären diese Körper?“ Mit solchen Fragen im Kopf fuhr Ho 2018 nach Japan, auf der Suche nach einer neuen Gestalt des Staates. Er ging nach Hag, die ehemalige Bürgstadt in der Präfektur Yamaguchi. Wo sollte er sonst anfangen, wenn nicht beim ersten Land, das sich dem Westen „geöffnet“ hatte? Und er begann an der Geschichte zu arbeiten, und diese Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt.

Titelzitat aus dem Film Prinzessin Mononoke von Hayao Miyazaki aus dem Jahr 1997.

Verfasser / in:

Bettina Landl

Datum:

Fri 15/10/2021

Infobox

Jetzt ist alles aus, der Wald ist tot!

Ausstellung: Ho Rui An. The Ends of a Long Boom in der Kunsthalle Wien, Karlsplatz. 17.07. - 10.10.2021

Im Juli 1997, kurz vor dem Ausbruch der „Asienkrise“, veröffentlichten die amerikanischen Zukunftsforscher Peter Schwartz und Peter Leyden in der Zeitschrift Wired den Essay The Long Boom: A History of the Future, 1980–2020, worin sie ein „radikal optimistisches“ Szenario von andauerndem Wirtschaftswachstum und einer zunehmenden globalen Verflechtung von 1980 bis 2020 entwarfen, das in dieser Form niemals eintrat. Ein Jahr nach dem Ende ihres falsch vorhergesagten Goldenen Zeitalters und ein Jahr nach dem Ausbruch einer globalen Pandemie, lässt sich als eine Reaktion darauf weltweit die Forcierung neoliberaler Strategien zugunsten der Wirtschaft beobachten.

Rezension von Bettina Landl

.

Kontakt:

Kommentar antworten