14/06/2005
14/06/2005

Günter Domenig (+2012), Lebbeus Woods und Susanne Baumann-Cox 2005 in der Neuen Galerie Graz bei der Medien und Architektur Biennale Graz

Am 14.06.2005 traf Susanne Baumann-Cox den Architekten Lebbeus Woods zum Interview. Woods war damals bei der Medien und Architektur Biennale von ARTIMAGE zu Gast in Graz.  GAT veröffentlicht das nachfolgende Gespräch anlässlich seines Todes am 30.10.2012 in New York .

Häuser, die auf dünnen Stahlsäulen weit in den Himmel ragen, mit Drahtseilen am Boden verspannt, Spuren der Zerstörung an Gebäuden, mit Stahlelementen versehen, architektonischer Wundschorf , künstliche Landschaften in horizontaler Schwingung als Reaktion auf seismische Kräfte und jetzt, unzählige Linien, mal kurz, mal lang, zarte Bewegungen in verschiedene Richtungen – Vektoren im Raum: das ist Architektur aus der Hand von Lebbeus Woods, Professor an der Cooper Union, New York und Mitbegründer des Institutes für experimentelle Architekur, RIEA.
Auf Einladung von Peter Noever, MAK, Wien befindet er sich derzeit in Österreich, um sein Projekt „System Wien“ fertigzustellen. Im Rahmen der Programmreihe „Austellung als Medium und Experiment“ der Medien und Architektur Biennale Graz referierte er in den Räumen der Neuen Galerie Graz.

Wenn man von experimenteller Architektur spricht, denkt man sofort an Lebbeus Woods, dem wohl bekanntesten Vertreter dieser Richtung. Sie haben mit konventioneller Architektur begonnen und in einigen sehr renommierten Büros gearbeitet. Was hat Sie zur experimentellen Architektur inspiriert?

Woods: Während meiner Arbeit in den Architekturbüros in den 1960ern wurde mir klar, dass mein Interesse, die Architektur zu untersuchen, bzw. herauszufinden, was Architektur sein kann, durch die Anwesenheit der Kunden konterkariert wurde – ich war nicht frei. So habe ich mich Stück für Stück von der normalen Berufspraxis verabschiedet, um herauszufinden, was ich wirklich tun könnte. Diese Entscheidung barg natürlich zwei Aspekte: Ich hatte einerseits keine Kunden mehr, anderseits gewann ich die Freiheit.

Die Orte, für die Sie Ihre Eingriffe vorschlagen, sind häufig Orte der Zerstörung.

Woods: Da ich herausfinden möchte, was sich an einem Ort entwickeln kann, interessieren mich Krisenschauplätze. Es muss nicht unbedingt Krieg sein, es kann sich auch um soziale oder wirtschaftliche Krisen handeln oder um schwierige politische Umstände. Eine Problemsituation erfordert neues Denken. Alles was normal und in Ordnung ist, braucht keine Neuerung. Innovative Ideen entstehen in der Krise und deren radikalste Form ist, wenn etwas beschädigt oder zerstört wird.
Wenn wir etwas wieder aufbauen möchten, müssen wir uns also den Schaden genau ansehen. Was wurde beschädigt? Sind Menschen betroffen? Viele Fragen, die frisches Denken erfordern. Das ist die Rolle, die ich mir zugesprochen habe: die des frischen Denkers! Ich bin einer, der Fragen stellt und neue Ansätze sucht. Das ist der Grund, warum mich Krisensituationen anziehen.

An Umsetzbarkeit müssen Sie nicht denken?

Wood: Ja und nein, ich möchte mich nicht nur auf die Fantasie beschränken. Ich bin immer Architekt. Ich verstehe mich nicht als Künstler, Philosoph oder Fantast – sonst wäre ich beim Film. Ich bin Architekt und mich interessiert die Wirklichkeit. Ich kann nicht von vornherein davon ausgehen, dass neue Ideen  nicht umsetzbar sind. Man muss sie ausprobieren. Eine Möglichkeit ist, sie in einer Publikation oder Ausstellung vorzuschlagen. Das sind wichtige Elemente meiner Praxis.

So sind Sie der Architekt, aber Ihre Kunden sind Künstler oder Denker, wie im Falle von Paul Virilio für die Cartier Foundation in Paris oder auch Peter Noever für das MAK in Wien.

Wood: Ja, mit meinen Büchern und Ausstellungen habe ich keine konventionelle Klientel angezogen. Es hat mich noch niemand gebeten, sein Privathaus für ihn zu bauen.

Wie sieht das bei den Entwürfen für öffentliche Gebäude aus? Die gewünschten Vorschläge sollten im Normalfall ja das sozio-politische Umfeld unterstützen. Sind ihre Vorschläge vielleicht zu radikal?

Woods: Oft handelt es sich um problematische Situationen, die eine Veränderung erfordern. Bei unserem Kuba-Projekt, wo wir Mitte der 90er Jahre eine visionäre Stadtplanung am Modell Havannas untersuchten, war das totalitäre Regime ja immer präsent und unsere kubanischen Kollegen mussten sehr aufpassen nicht der Ketzerei angeklagt zu werden. In diesem Fall spricht man also nicht von Revolution sondern von verschiedenen Projekten. Und diese Projekte erfordern natürlich eine andere Regierung.

Sie sagen von sich, dass Sie Architekt sind und kein Künstler. Manche Architekten in der deutschsprachigen Welt haben umgekehrt das Bedürfnis, das künstlerische Element ihrer Arbeit hervorzuheben und nennen sich zu diesem Zwecke ‚Baukünstler‘. Was können Sie bauenden Architekten mitgeben, die Ihre Ideen aufgreifen und etwas bauen möchten, das über ‚cooles‘ Aussehen hinausgeht?

Woods: Ich habe immer Sachen gemacht, die nicht unbedingt gut aussehen sollten, auch wenn sie gut gezeichnet waren. Ich wollte etwas machen, das auf gewisse Weise eine Herausforderung darstellt für das ästhetische Empfinden der Menschen. Das ist mir zu einem gewissen Grad auch gelungen, man hat mir nach einem Vortrag einmal dazu gratuliert „the genuinely strange“ geschaffen zu haben. Ich mochte die Bezeichnung „strange“, denn ich wünsche mir ein fremdes, beunruhigendes Element in meinen Arbeiten, um damit unsere vertrauten Prämissen herauszufordern.

Sie untersuchen die Systeme, die Ordnung, die in den Dingen liegt.

Woods: Wenn ich mit bestimmten Bedingungen konfrontiert bin, schaue ich mir das darunterliegende System genau an. Zum Beispiel eine Stadt wie San Francisco, die sich in einem Erdbebengebiet befindet. Ich untersuche die Disparitäten zwischen Erdbeben und Gebäuden. Hier setze ich an und versuche sie miteinander zu versöhnen, nicht auszulöschen. In meinen Erdbebenprojekten habe ich versucht das Phänomen Erdbeben in die Architektur aufzunehmen und zu diesem Zweck Zeichnungen und Modelle angefertigt. Ich schlage also die architektonische Lösung vor. Ich möchte eine Frage aufwerfen und richte sie nicht nur an Architekten sondern an jedermann. Das unterscheidet mich auch vom Künstler, der eine fertige Arbeit abliefern muss. Ich sehe das, was ich mache niemals vollendet.

Ist das auch eine Entwicklung Ihrer selbst?

Woods: Es geht dabei nicht um mich und nicht darum, dass ich mich selbst ausdrücke. Ich möchte etwas untersuchen, verwirklichen.

Architektur ist Form und Raum. In früheren Arbeiten haben Sie sich mehr auf die Form konzentriert, jetzt hat es eine Verschiebung gegeben.

Woods: Ich interessiere mich jetzt mehr dafür herauszufinden, was Raum ist. Um ein Bewusstsein für den Raum entwickeln zu können, muss man eine konzeptionelle Erwartung haben. Man kann nicht alles der Form überlassen. In der Architektur wird unendlich viel von Raum gesprochen und es ist erstaunlich, wie wenig darüber wirklich nachgedacht wird. Raum ist nicht nur eine Folge von Form. Ich würde mir gerne einen Raum ohne Form vorstellen. Mathematisch ist das durchaus möglich, denken Sie an Einstein. Österreich ist zum Beispiel auch ein wirklicher Raum, es ist da, aber die Linie, die diesen Raum festlegt, ist unsichtbar. Dennoch gibt es sie in unseren Köpfen. Raum ist das Produkt unseres Geistes und nicht der unmittelbaren Erfahrung. Es ist nicht einfach diesen Gedanken in die Architektur aufzunehmen, da wir keine Architektur mit Wandstärke = 0 machen können. Der postmoderne Trend, der Architektur eine symbolische Bedeutung zu verleihen, hat nirgendwo hingeführt. Es war einfach eine Modeerscheinung. Wir müssen uns den abstrakten Elementen zuwenden. Damit beschäftige ich mich derzeit. Architektur ist abstrakt!

In Ihrem Projekt für Wien, „System Wien“ – geht es um Eingriffe in den urbanen Raum und um Energie.

Woods: Wenn wir Gebäude, Stein, Glas und uns selbst als Energie und nicht als Objekte sehen, verstehen wir, dass diese Systeme konstant interagieren, Energie absorbieren und abgeben. Im Prinzip keine neue Idee in der kognitiven Wissenschaft. Aber neu in der Architektur, weil es hier um Objekte und materielle Dinge geht, und ich spreche nicht von Heizenergie. Ich meine das gesamte System sozialer, physikalischer und emotionaler Energien.

Wie kann man diese Energie zeigen?

Woods: Es geht darum, wie wir über sie sprechen, welcher visuellen Sprache wir uns bedienen. Energiesysteme müssen über Energie am Leben erhalten werden. Sonst verfallen sie, wie ein Haus, das unbewohnt ist; wir alle kennen die thermodynamischen Gesetze des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Für Wien planen wir mit unserem kleinen Mitarbeiterstab Energie in den ersten Bezirk zu injizieren. Wir arbeiten hier mit Vektoren, mit Linien und Konturen als Konvention für Energie. Die Vektorstäbe, die wir entwickelt haben, enthalten die physikalische und mentale Energie, die sie in den Raum stellt. Auch meine Energie ist darin enthalten, auch wenn ich die Stäbe nicht selbst trage, aber ich habe sie konzipiert. Es ist wichtig, neue Möglichkeiten für Veränderungen zu finden. Man muss versuchen, auch mit wenig Geld und einem Minimum an Mitteln größere Veränderungen herbeizuführen. Wenn es uns in Wien gelingt, zu verändern wie die Menschen ihre Stadträume wahrnehmen, hat unser Projekt schon eine große Wirkung. Natürlich ist es eine Momentaufnahme, aber es wird auch danach noch ein Bild davon bei den Menschen bleiben. Es ist ein Versuch, eine Art Präludium für das Bauen. Für ein dauerhafteres, nachhaltigeres Bauen.

Sie sind für viele junge Architekten ein Idol, was möchten Sie ihnen mit auf den Weg geben?

Woods: Sie sollten für sich selbst denken und beginnen sich gedanklich auch außerhalb der Beziehung zum Bauherren zu bewegen. Architekten haben auch im Auftrag der gesamten Gesellschaft zu handeln. Die meisten wissen, dass sie nicht nur den Menschen verantwortlich sind, die sie bezahlen. Der Grund, warum ich mir mein Leben so ausgesucht wie es ist, ist, dass ich immer untersuchen wollte, wie man Architektur außerhalb der Spielregeln praktizieren kann. Manche junge Studenten möchten das auch und daher finden sie mich interessant. Sie können sich aus meiner Arbeit herausnehmen, was ihnen zusagt und mich auch in Frage stellen. Die meisten Arbeiten meiner Studenten haben keinerlei Ähnlichkeit mit dem, was ich tue und das ist auch gut so.

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