29/03/2022

Filmpalast – SONDERNUMMER

Ausstellungsempfehlung und Filmkritik von Wilhelm Hengstler

29/03/2022

Das Cinema in Graz, 1980er (Fotograf unbekannt, Multimediale Sammlungen/UMJ)

Ausstellungen in Heimatkundemuseen, selbst wenn sie sich „Museum der Geschichte“ nennen, werden eher selten überregional wahrgenommen. Aber die Ausstellung „Film und Kino in der Steiermark“ von Maria Froihofer und Karl Wratschko im barocken Palais Herberstein ist nicht nur für Grazer unbedingt sehenswert, sie verdient eine weit überregionale Wahrnehmung. Dabei aber macht es ihre Intensität und Vielfalt schwer, den ehernen journalistischen Grundsatz beizubehalten, niemals zwei Geschichten gleichzeitig in einem Text zu behandeln. Dieser Text gleicht also der Kinokarte, die der Filmtheoretiker Kubelka mit einem Faustkeil verglichen hat, mit dem sich die Kinogeher auf die Jagd in die dunkle Höhle begeben. Er kann also nur auf eigene Gefahr gelesen (oder geschrieben) werden.

Schon bei der Eröffnung im 2. Stock des Palais Herberstein gaben meine Beine ein bisschen nach und ich musste mich gegen die stuckverzierte Wand lehnen. Vielen der Anwesenden – Filmemacher, Produzenten oder einfach Kinogeher – war ich im Lauf meines Lebens immer wieder begegnet und was mich mit ihnen verband, war bei allen Intrigen oder Eifersüchteleien der unleugbare Heroismus, mit dem sie von der Provinz aus ihren universalen Traum des Filmens verfolgten. Wie in meiner Jugend das Fliegen als reiner Luxus galt, erschien uns auch der Film als ultimativ, eine Kunst die zu betreiben gleichzeitig Privileg und Verpflichtung war; nichts war technisch avancierter, komplexer und teurer. Beim Anblick dieser wie einer Zeitmaschine entsprungenen Gefährten wurde das Palais Herberstein zum Stadtpalais der Guermantes und mich befiel wie den Erzähler in Prousts „Recherche“, „ein Gefühl der Müdigkeit und des Grauens bei dem Gedanken an diese ganze so lange Zeit, die nicht nur ohne Unterbrechung von mir gelebt, gedacht und wie ein körperliches Sekret in mir abgelagert worden war…“ Je länger ich dann dem Parcours aus 125 Jahren Kinogeschichte folgte, desto tiefer gelangte ich in meine eigene Vergangenheit, zu fast allen Exponaten konnte ich eine persönliche Beziehung herstellen, Gegenstände, Bilder, Namen wurden zu materiellen Ablagerungen einer von mir gelebten Traumzeit in der die Wahrheit 24mal in der Sekunde festgehalten wurde.  

Maria Froihofer und Karl Wratschko haben ihre Ausstellung zwar chronologisch angeordnet, aber in ihrer Gesamtschau werden so viele Aspekte gleichzeitig angesprochen oder überlagern einander, dass daraus eine faszinierende Mentalitätsgeschichte wird: Entwicklung der Kinematografie, Geburt der Filmkunst aus dem Geist des Vaudevilles, Grazer Kino- und Stadtgeschichte, Verweise auf Monumentalfilme, Höhepunkte steirischen Filmschaffens… Jeder Raum gerät zu einer historischen Wunderkamme und alle Kammern zusammen ergeben eine Art Film, dessen Bilder an den Wänden fixiert sind, während sich die Besucher vor ihnen bewegen. Mein eingangs geäußerter Ansatz passt also zu dieser Ausstellung, die auf regionaler Ebene dem globalen Menschheitstraum „Film“ nachspürt.

Erst jetzt, beim Schreiben, wird mit bewusst, was ich alles übersehen habe. Vielleicht hatte ich es lag auch zu eilig, weil ich im Anschluss an die Ausstellung noch „The Card Counter“ im KIZ Royal ansehen wollte. Schon als ich die alten Filmapparate mit ihren heimeligen Kombination aus Messing und Holz sah, fühlte ich mich von diesem phantasmagorischen Beziehungswahn erfasst. Meine Trophäe zum Wiener Filmpreis 1985, ein Pathe Baby-Filmprojektor für Amateure aus den frühen 20erjahren, hätte gut hierher gepasst. Gleich darauf war ich wie gebannt von einem frühen Stummfilm, in dem Flößer einen schäumenden Fluss hinab jagten. Da war keine Inszenierung, die Kamera hatte einfach die ideale Position über dem tief eingeschnittenen Flussbett eingenommen und schon wegen dieser reinen Kinobilder von Geschwindigkeit und Gefahr lohnt es sich die Ausstellung noch einmal zu besuchen. Und wieder überfiel mich mein Beziehungswahn: Hatte ich nicht für einen Film über das steirische Eisenwesen, als es schon lange keine Flößer mehr gab, eine Holzriese – eine Rutschbahn aus Stämmen – gefilmt, die von den Nachfahren einer Hammerherrendynastie gleichsam als Hobby noch erhalten wurde?

Als Gegensatz zum Dokumentarmaterial präsentiert die Ausstellung auch das Projekt eines Monumentalfilmes, in dem der steirische Erzberg als Pyramide diente.  Schon wieder dieser Beziehungswahn! Der Erzberg war auch das Zentrum meines Spielfilms „Tief Oben“, da allerdings nicht als Kulisse, sondern als Wechselspiel mythologischer Motive und historischer Ereignisse.

Mit der Industrialisierung wurde auch die Freizeit industrialisiert, was den Boom der Lichtspieltheater auch in Graz erklärt. Zu den großen Palästen zählten das Annenhof, das Thalia und das Girardi. Ich erinnere mich an die Busse die Filmfans aus Jugoslawien zu „Dr. Schiwago“ mit Julie Christie und Omar Sharif ins Girardikino karrten. Daneben gab es noch andere Kinos wie das Opernkino, das Schubert, das Non Stop, das Orpheum, das Rechbauer Kino, das Union, das Ring Kino oder das Murkino, um einige zu nennen. Und die ganz exotischen wie das Falken Kino, das Westend oder das Filmtheater Andritz lagen an der Peripherie. Eine heroische Rolle spielte das KIZ, das während des sogenannten Kinosterbens in einem Saal der Landwirtschaftskammer in der Burggasse und dann jahrelang im Augartenkino spielte, ehe es zum KIZ Royal, dem ehemaligen Girardi mutierte.

Insbesondere widmet sich dieser Teil der Ausstellung dem Kinopionier Otto Gierke, der noch mit Apparaten von Lumiere begann und später nicht nur das Annenhof- und Girardikino, sondern ca. 20 weitere Kinos errichtete. Beherrscht mich noch immer der Beziehungswahn? Meine Mutter war eine Zeitlang Haushälterin bei „den Gierkes“ und ich erinnere mich, sie gelegentlich in der Villa nahe dem Hilmteich besucht zu haben. Dort traf ich auf ein etwas älteres Mädchen und gemeinsam fuhren wir mit einem Babyelefanten auf Rädern durch die große Vorhalle. Ich begegne dem Mädchen heute noch, es ist die Malerin Edith Temmel. Und dazu gehört, dass Jahre später im Annenhof die Steiermarkpremiere meines bekanntesten Filmes in Anwesenheit von LH Krainer stattfand.

In einem dieser der Frühzeit des Kinos gewidmeten Räume stößt man auch auf „Thaliwood“, dem Studio am Thalerhof, in dem während der Nachkriegszeit immerhin 14 Filme, darunter einer auch von Curd Jürgens, gedreht wurden. Thaliwood verfügte über so große Studios, wie es sie vorher oder nachher nirgendwo in Österreich gab, ist aber trotzdem weitgehend vergessen. Zu dieser Nachkriegszeit gehören auch die Super 8 Filme. Froihofer und Wratschko haben an die 150 digitalisieren und in drei „Wimmelbildern“ zu einer sinnenverwirrenden Schau des steirischen Amateurfilms komprimieren lassen. Die insgesamt vielen hundert Filmstills der Ausstellung reibungslos „auf Knopfdruck“ abrufbar zu machen, stellt eine beachtliche Leistung dar.
Mein Beziehungswahn wirkt auch hier. Walter Schweighofer, der Inhaber der Haydn Film, hatte mir immer wieder von seinem Traum erzählt „Thaliwood“ zu neuem Leben zu erwecken. Aber bevor es soweit war, starb er an Hämochromatose, sein Körper konnte das überschüssige Eisen nicht mehr abbauen. Vor Jahren hatte ich in seinem Studio eine Unzahl sprechender Porträts an der Wand – Wimmelbilder – in einer langen Kamerafahrt von einer Schauspielerin erläutern lassen und alles vom Bandmaterial herunter- und zusammenkopiert. Analog war das keine Kleinigkeit und nur möglich durch die technische Supervision Walter Schweighofers, der mich wie niemand sonst an die genialischen Geschäftemacher aus der Frühzeit des Kinos erinnerte.

Ein Raum der Ausstellung ist den VHS-Kassetten und den Videoläden gewidmet. Mit ihnen war es das erste Mal möglich, Filme ohne ins Kino zu gehen anzusehen, sie zu sammeln und wie Bücher ins Regal zu stellen. Leute, die zufällig über keinen Schneidetisch verfügten, waren nun imstande, Szenen anzuhalten, zu wiederholen oder nach „unsichtbaren“ Schnitten zu suchen. Die sogenannte Film- und Bildgrammatik, bisher eher exotisch, wurde zu einer gängigen Weltsprache, wie es sich die Anhänger von Esperanto träumen lassen.

Auch zu „Fegefeuer“, dem Film mit dem ich in der Ausstellung vertreten bin, habe ich mich mit Film Noir Beispielen auf VHS eingedeckt. Dabei stammt eine Schlüsselszene dieser Verfilmung des autobiografischen Romans von Jack Unterweger aus einem anderen Genre. Jack bekommt von seiner Mutter Besuch im Gefängnis, die Beiden stehen, getrennt durch ein Gitter, einander gegenüber, nur ihre Hände scheinen sich zu berühren. Das ist ein Zitat aus „American Gigolo“ (Ein Mann für gewisse Stunden) von Paul Schrader, der in den Siebzigerjahren mit dem Drehbuch für „Taxi Driver“ berühmt geworden ist. Der junge Richard Gere ist lieber ins Gefängnis gegangen, als die Liebe der schönen und reichen Lauren Hutton zu akzeptieren. Wenn die Hände des Paares sich auf der trennenden Glasscheibe aneinanderlegen, ist das natürlich wieder ein Zitat – diesmal aus „Pickpocket“ von Bresson. Schrader hatte nicht  zufällig ein Buch mit dem Titel „Transzental Style in Film: Bresson. Ozu. Dreyer“ geschrieben.

VHS-Kassetten sind längst passé und den DVDs und Blue Rays schlägt auch schon das Totenglöckchen. Mit ihnen verschwindet das letzte materielle Substrat des Films. Die Streamingangebote entziehen sich sowieso jeder haptischen Berührung. Aber es scheint, dass die jüngeren Vertreter des steirischen Filmes auch sehr gut ohne diesen Zugang auskommen. Die ausgewählten Filmbeispiele zeigen eine große thematische und formale Bandbreite und sind von einer technischen Geläufigkeit, die während unserer Pionierphase vor 40 Jahren undenkbar war. Keine Rede davon, dass keine guten Filme mehr gemacht würden; die Frage ist nur, wie schwer es bei dem überreichen Angebot an Filmen für den einzelnen ist, ein Standing zu erringen und zu halten.

Als ich dann „die Prunkstiege des Palais Herberstein hinunterstieg, fragte ich mich, ob es Beziehungswahn war, der mich einen Zusammenhang zwischen „Film und Kino“ und „The Card Counter“ sehen ließ, zu dem ich nun ins KIZ Royal hetzte. Selten hatte ich in einer Ausstellung so oft den Wunsch nach einem Katalog  gehört. Das mochte an den vielen Perspektiven der Ausstellung liegen, die aus dem Stoff unserer Träume zusammengesetzt war. Oder daran, dass wir uns gern an Fakten halten, sobald wir aus dem Schlaf erwachen, der unser Leben umschließt. Was hatte Kracauer wohl mit „The Redemption of Physical Reality“, „Die Errettung der äußeren Wirklichkeit“, diesem Untertitel seiner berühmten „Filmtheorie“ gemeint?

Ich schaffte es dann noch rechtzeitig zu „The Card Counter“, der zu den besten Filmen des mittlerweile achtzigjährigen Paul Schrader gehört. Wir hatten den Regisseur vor Jahrzehnten ins Forum Stadtpark eingeladen, auch deswegen war ich neugierig auf diesen Film. Es geht in ihm um einen US-Folterknecht, der wegen Abu Ghuraib eine zehnjährige Gefängnisstrafe verbüßt und sich danach als schuldgepeinigter Berufskartenspieler in einer unauffälligen Existenz versteckt. Aber er wird von der Vergangenheit eingeholt, wie ich von der Ausstellung „Film und Kino“. Der Card Counter tötet den davon gekommenen Mastermind der Foltertruppe und wird erneut eingesperrt. Die schon zitierte letzte Einstellung zeigt wieder die Berührung zweier Hände, die durch die Glasscheibe des Gefängnisses voneinander isoliert sind – das ultimative Bild einer Sehnsucht nach unerreichbarer Nähe. Wie immer geht es um Sündenfall, Verdammung und Erlösung. Es scheint, als ob große Künstler immer den gleichen Film drehen, den gleichen Roman schreiben, das gleiche Bild malen. Aber ironischerweise sind in diesem letzten Eigenzitat Schraders die aufgeklebten Nägel der schwarzen Geliebten des Card Counters extrem lang.

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