27/03/2019

Filmpalast – 06
Filmkritik

Wilhelm Hengstler zu
The Sisters Brothers

Regie
Jaques Audiard, 2018
122 min

Silberner Löwe, Venedig, 2018

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27/03/2019

The Sisters Brothers. Bild s. Link: uncut.at

The Sisters Brothers

Die anrührendste und bitterste Szene in Jaques Audiards Western The Sisters Brothers ist jene, in der Eli, der leicht behinderte, dabei möglicherweise klügere der beiden Killer-Brüder mit einer dicken Hure eine Romanze inszeniert: Sie soll ihm sein geliebtes, rotes Schlaftuch zum imaginären Abschied schenken. Erst macht sie das gefühllos, eben wie auf Bestellung. Aber Eli übt mit ihr und als sie sich umarmen, bittet die Hure aus Angst, dass die Inszenierung sie zu sehr an verschüttete, echte Gefühle erinnert, gehen zu dürfen.
Der erste Film aus Hollywood war ein Western und der letzte wird ein Western sein, hieß es, bevor das Genre seinen Fans immer mehr abhanden kam. Die feudale Freiluftromantik entsprach nicht mehr dem Lebensgefühl einer urbanen Zivilisation; die Schweigsamkeit seiner Helden passte weder zur postmodernen Ironie noch in den Kult der Selbstdarstellung. Und mit dem Zerbröseln klassischer Männerrollen gingen die Frauen auch dazu über, sich ihre eigenen Kinokarten zu kaufen. Allerdings ist der Western als Genre genau so wie seine Helden robust, er hat sich immer wieder, oft mit europäischer Assistenz, neu erfunden. Nach dem Italowestern punktete der 2013 der Deutsche Thomas Arslan mit Gold und Verena Grisebach hatte mit ihrem modernen Western (!) sensationellen Erfolg.
Und nun The Sisters Brothers nach einem Roman von Patrick deWitt, gedreht von dem französischen Regisseur Jaques Audiard in Spanien. Die Sisters Brothers Charlie (Joaquin Phoenix) und Eli (John C. Reilly) räumen für den „Commodore“ unliebsame Konkurrenten, die seinen Geschäftsinteressen in die Quere kommen, aus dem Weg. Aktuell steht Hermann Kermit Warm im fernen Kalifornien auf der Liste, dessen Erfindung, das im Wasser verborgene Gold sichtbar zu machen, der Commodore seinem Imperium einverleiben will. Der Raubtierkapitalismus in Oregon City 1852 unterscheidet sich also wenig vom gegenwärtigen und die Sisters Brothers sind die gleichzeitig privilegierten wie abstiegsgefährdeten Troubleshooter der Globalisierung. Und mit dem Erfinder und Goldsucher Hermann Kermit Warm, der eine sozialistische Kommune plant, wird dieser Western gleichzeitig um eine soziale Utopie ergänzt.

Audiard führt seine lakonische Kapitalismuskritik, sowohl visuell wie verbal aus: Visuell ist die Reduktion des “Commodore“ und seines omnipräsenten Systems auf ein Logo, die toxische, oft tödliche Jagd nach Gold oder der Ozean, der sich hinter einer Hügelkette nach einem langen Ritt quer durch den Kontinent erstreckt; nicht nur die geografischen, alle Ressourcen sind am Ende.
Charlie und Eli sind Nutznießer und Verteidiger des Systems, dabei aber ohne Rechte und für ihr tödliches Risiko schlecht und eher willkürlich entlohnt. Audiard steigt gewissermaßen seitlich in den Diskurs in sein Thema ein: Die von Neid, Ressentiment, Alkoholismus und gegenseitiger Abhängigkeit geprägten Streitereien der Brüder sind auch ein ironischer Diskurs über Erwerbsleben im 21. Jahrhundert. Dabei macht Audiard scheinbar banale Details, wie etwa den Gebrauch einer Zahnbürste wie Tarantino in Pulp Fiction für den harter Genrefilm fruchtbar. Audiards The Sisters Brothers erinnert an Robert Altmans McCabe & Mrs. Miller, der gleichzeitig illusionsloser und atmosphärischer ist. Der Spieler McCabe (Warren Beatty) überzieht sein Blatt und wird deshalb von einem fernen Konsortium zum Tode verurteilt. Er siegt zwar im Showdown mit den Killern, erfriert dann aber angeschossen im Schnee. Für Audiard ist es aber typisch, dass er seinen Genrefilmen völlig unerwartete Wendungen verleiht. Seine Sisters Brothers, kommen zwar weil sie sich selbständig machen, ebenfalls auf die Todesliste, überleben aber weil der Comnmodore (der Kapitalismus?) rechtzeitig den Alterstod an Altersschwäche stirbt. Die Vorlage von The Sisters Brothers ist ein knapper, pikaresker Roman von Patrick deWitt. Nicht zufällig erinnern Charlie und Eli, die beiden unterschiedlichen Killer, an den berühmten Roman von Cervantes und sein berittenes Paar Don Quijote (Charlie) und Sancho Pansa (Eli).

The Sisters Brothers beginnt mit einem fast abstrakten Tableau aus nächtlichem Schwarz, das, begleitet von erratischen Rufen, von Mündungsfeuern erhellt wird. Audiard inszeniert Gewalt zumeist elliptisch, die Logistik klassischer Revolverduelle ist ihm so gleichgültig wie das infantil-surreale Geknalle von Italowestern.
Westernfans mit ihrem unschuldigen Verlangen nach Pulverdampf werden nicht ganz auf ihre Rechnung kommen. Aber wer sich in den Pausen zwischen den Aktionen auf einen erhellenden Diskurs über die globalisierte Dienstleisungswelt einlässt, wird viele Aha-Erlebnisse haben.

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