23/06/2017

Eine Stadt in den Wechseljahren

Emil Gruber anlässlich politischer Umbauarbeiten in Graz im Jahr 2017

23/06/2017

La Strada, 2007, bei der Oper Graz

©: Karin Wallmüller

Grazer Rathaus mit düsterem Sonnenrad in Schwarz-Grün. Screenshot aus dem Film 'Schatten über Graz' der FPÖ zur Gemeinderatswahl 2012

Sie haben etwas über 15 % der Wählerstimmen erhalten, verfügen über acht von 48 Sitzen im Gemeinderat und können einen von sieben Stadträten stellen.
Mathematik hat ein längeres Haltbarkeitsdatum als jede Ideologie. So darf nach der SPÖ, den Grünen und der KPÖ nun die Grazer FPÖ nach langer Abstinenz am Stockerl zumindest Juniorpartner in einer Koalition mit der ÖVP sein.
Politische Ehen sind amöbenhafte Gebilde, deren Substanz viele Dehnbarkeitstests aushalten muss. Vergessen ist die wichtigste Erinnerungsarbeit. Beschimpfungen, Attacken, Unterstellungen, beweisbare und aus der Luft gegriffene Vorwürfe, alles wird, wenn Ungleich und Ungleich sich zu eh Gleich verbinden, aus der Öffentlichkeit radiert oder verblasst im lang geübten Schwamm-Drüber-Dauerlächeln langsam. Amnesie breitet sich aus über der Stadt. Erst wenn das Gleiche aus dem Gleichgewicht gerät, dann setzt nach und nach wieder die Erinnerung ein. Übrig bleiben zwei klare Standpunkte. Ich gut, Du böse. Derzeit ist einmal noch alles gut.
Nicht so vergesslich ist das Netz. Vieles, das aus Kalkül und akut ausgebrochener politischer Nächstenliebe von einem Server verschwunden ist, taucht auf einem anderen wieder auf. Eine Erinnerung: 2012 betätigte sich die FPÖ in der anstehenden Grazer Gemeinderatswahl mit Schatten über Graz als Filmemacher. Statt Heimatfilm bevorzugte die Partei das Genre Horror. Horror im Stil der schlecht gemachten B-Gruselmovies der 1950er, als Angst noch billig fabriziert werden konnte.  
Blitze rasseln vom Himmel. Silhouetten der Grazer Wahrzeichen wabbern im Nebel. Ein fahles Leuchten dominiert den Horizont. Der Film zittert. Ein schauriger Choral setzt musikalisch Akzente. Fledermausgleich flattert in Grausig-Grün ein zerfleischter Schriftzug mit Schatten über Graz durch das Bild. Die Dramatik wächst gegen Crescendo, als groß das Rathaus ins Bild kommt. Dahinter ein bedrohlich sich drehendes, düsteres Sonnenrad in Schwarz-Grün. "Das hat uns die Nagl-ÖVP eingebrockt!", der Teaser für alles Nachfolgende präzisiert die Hauptanklagepunkte: Schulden, Kriminalität, Stau (so weit das Auge reicht!), Bettelei (an ALLEN Ecken!), Moscheen. Zur Verstärkung der Botschaft belebt bebend und bedeutungsvoll akzentuiert eine sonore Männerstimme den Text nochmals.
Ein Porträt eines angstvoll Nägel kauend wirkenden Bürgermeisters flackert auf. Wieder zucken Blitze, diesmal durch den ÖVP-Politiker. Eine brennende Schrift erscheint an der Wand (für bibelfeste Leser Stichworte: Menetekel, Babylon). Die FPÖ klagt an: Graz ist die Hölle und ihr Bürgermeister heißt Siegfried Nagl. Das Urteil: Schuldig! Schuldig aller Todsünden. Während es im Hintergrund grünlich weiter wabbert, wird es nun Zeit für den Auftritt des Chefanklägers, den Cherubim der Gerechtigkeit, den herabsteigenden blue Star Mario Eustacchio. Furchtlos wie Hagen stellt er sich als schwarz-weißes Kontrastmittel dem Bürgermeister entgegen, während die sonore Hintergrundstimme bis sieben zählt:
Gier! Völlerei !! Lust !!! Eitelkeit !!!! Neid!!!!! Faulheit !!!!!! Zorn !!!!!!!
Erschreckendes, Unvorstellbares, ja unfassbar Grausames wird nun – zwar etwas hölzern, aber hey es geht um die Inhalte! – vorgetragen, um nicht zu überfordern, auf kurze Sätze reduziert:
Ein Best of:
"Todsünde Lust: Nagls Lust an der Macht zeigt er durch seine Personalpolitik – Topjobs nur an ÖVP-Freunde."
oder
"Todsünde Neid: Nagl hat die Aufsichtsratsposten durch schwarz-grüne Mitlieder ersetzt, dadurch wurde die demokratische Kontrolle abgeschafft."
oder
"Todsünde Zorn: Kritisiert man dann den Bürgermeister, reagiert er mit Zorn und Wut, er kündigt einseitig Koalitionen und setzt zum politischen Alleingang an."
Nach dem Angriff auf die schwarze Armee der Finsternis klart aber doch noch der Himmel auf. Ein Regenbogen erscheint am stahlblauen Himmel und an dessen Ende der Schatz, die Hoffnung, die Rettung vor allem Übel: Die FPÖ, die es besser macht.  Und Mario Eustacchio, dessen Herz für Graz schlägt. (Wobei die im Film eingeblendete Herzfrequenz einige Arrhythmien aufweist).

Fünf Jahre später. 2017. Mario Eustacchio ist seit kurzem Vizebürgermeister. Bürgermeister Nagl ist weiterhin Bürgermeister. Schatten über Graz ist vom Online-Portal der FPÖ entfernt worden. Aber das Internet....
Wenn politischen Parteien Glaubwürdigkeit als ein wesentliches Gut einer Demokratie sehen und ernst genommen werden wollen, bleiben Fragen an den Absender und den Adressaten des Films offen. Wieso geht ein Bürgermeister mit einem Mann, der ihn demütigt und ihm alle christlichen und sozialen Werte abspricht, eine politische Partnerschaft ein? Wieso geht ein FPÖ-Mann mit einem Mann, den er vor fünf Jahren dämonisiert und für den Ruin von Graz verantwortlicht macht, eine politische Zweisamkeit ein? Thema Stau, die Exzellenz von verfehlter Verkehrspolitik. Stillstand statt Fluss. Einer von den Vorwürfen der FPÖ in den Schatten über Graz.

----- Exkurs 1 -----
Ab 2012 konnte Eustacchio beweisen, wie man es besser macht. Er wurde Verkehrsstadtrat. Fünf Jahre später: Die Feinstaubwerte haben sich nicht verbessert, der öffentliche Verkehr stagniert. Der eben eröffnete Südgürtel erweist sich als  Staubringer statt Verkehrsentlaster. Ergebnis? Mario Eustacchio als Verkehrsstadtrat ist Vergangenheit. Eine Todsünde? Eine Offenbarung? Es herrscht Meinungsbildungsfreiheit.
----- Exkurs 1 Ende -----

----- Exkurs 2 -----
Eustacchio als Stadtrat 2.0 parkt aktuell im Wohnungsreferat ein. Und fordert gleich einmal via Kronenzeitung neben Nagls Containern ein Gasthaus für den Stadtpark. Das ist leider krasse Themenverfehlung:
1. Gasthäuser gehören nicht zur Agenda eines Stadtrates für Wohnbau, denn
2. Gasthäuser können Wohnungssuchenden nur temporäre Aufenthaltsmöglichkeiten anbieten.
3. (zur Sicherheit): Das Forum Stadtpark ist und bleibt ein Kunstverein.
----- Exkurs 2 Ende -----

Wir zitieren: "Todsünde Neid: Nagl hat die Aufsichtsratsposten durch schwarz-grüne Mitlieder ersetzt, dadurch wurde die demokratische Kontrolle abgeschafft." Als eine der ersten Amtshandlungen ersetzte nun auch die FPÖ zahlreiche Aufsichtsratsposten durch parteinahe Mitglieder.
Frage: Wie können solche Neubesetzungen (Stichworte: Demokratie, Kontrolle, Abschaffung) eingeordnet werden, ohne dass die FPÖ anfangen muss, bei sich selbst bis sieben zu zählen?
Wir zitieren: "Todsünde Lust: Nagls Lust an der Macht zeigt er durch seine Personalpolitik – Topjobs nur an ÖVP-Freunde.“
Seit knapp einen Monat  ist zum Beispiel die Leitung der Grazer Baubehörde neu besetzt. „Ihre Qualifikation hat uns alle überzeugt“, betonte Mario Eustacchio, der in der neuen Stadtregierung auch Personalreferent ist, die einstimmige Wahl. Die Wahl fiel auf eine ehemalige Pressesprecherin eines FPÖ-Stadtpolitikers und Obfrau des von der FPÖ einstens injizierten Vereins der Bürger für Schutz und Sicherheit.
Auch der langjährige Pressesprecher von Eustacchio soll vor dem Wechsel in die Beamtenschaft  stehen.
Lust und die Dreieinigkeit von Politik, Topjob und gute Freunde – wie zählt man das zusammen?
Wir zitieren: "Todsünde Zorn: Kritisiert man dann den Bürgermeister, reagiert er mit Zorn und Wut, er kündigt einseitig Koalitionen und setzt zum politischen Alleingang an."
Wie habt ihr diese Hürde gemeistert, liebe FPÖ? Ist Kritik am Koalitionspartner ab sofort aus der Agenda gestrichen? Wenn ja, bitte nicht lächeln.

feyferlik

mario, der banker - der auch nur in einer filiale hinter der budel stand - im neu deusch heißt das heute prokura. man dreht sich, man weht sich, man windet sich und schwindelt sich bis es eben passt. solange der wähler das mit seiner stimme koalitionsfähig macht ist alles erlaubt ...

Di. 27/06/2017 5:01 Permalink
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