22/04/2022

„Eine pudrige Fantasie, in den Sand gesetzt“

Stalinstadt, seit 1961 Eisenhüttenstadt, war die erste Modellstadt der DDR. Anfang der 1950er-Jahre als Wohnstadt für die Arbeiter*innen des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) auf der „grünen Wiese“ errichtet, zeugt Eisenhüttenstadt noch heute, über 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, mit breiten Paradestraßen und Fassaden im Zuckerbäckerstil von den Idealen des DDR-Städtebaus.

Ein fünfteiliger Podcast des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) erzählt nun von Aufstieg und Fall von Stalinstadt, mit einem prominenten Protagonisten: Friedrich Liechtenstein.

22/04/2022

Zurück in die Zukunft: der Künstler Friedrich Liechtenstein vor den Fassaden seiner Heimat Eisenhüttenstadt

©: rbb – Runfunk Berlin Brandenburg

Stalinstadt, seit 1961 Eisenhüttenstadt, war die erste Modellstadt der DDR. Anfang der 1950er-Jahre als Wohnstadt für die Arbeiter*innen des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) auf der „grünen Wiese“ errichtet, zeugt Eisenhüttenstadt noch heute, über 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, mit breiten Paradestraßen und Fassaden im Zuckerbäckerstil von den Idealen des DDR-Städtebaus. Ein fünfteiliger Podcast des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) erzählt nun von Aufstieg und Fall von Stalinstadt, mit einem prominenten Protagonisten: Friedrich Liechtenstein. 

Liechtenstein, bürgerlich Hans-Holger Friedrich, ist Jahrgang 1956 und in Eisenhüttenstadt großgeworden. Einem breiteren Publikum ist der Mann mit Sonnenbrillen, weißem Vollbart und sonorer Hörbuchstimme als schunkelnder Protagonist des EDEKA-Werbespots „Supergeil“ bekannt – eine Kunstfigur. Im Podcast „Liechtenstein in Stalinstadt“ begleitet ihn Fotografin Jennifer Endom jedoch auf einer sehr persönlichen Wiederbegegnung mit den nun leeren Straßen seiner Kindheit. Leer? Lebten Ende der 1980er-Jahre noch über 50.000 Menschen in Eisenhüttenstadt, waren es 2020 kaum mehr 25.000 – wie auch andere ostdeutsche Städte ist auch die ehemalige Stalinstadt von Abwanderung und einer Überalterung der Bevölkerung betroffen. Liechtenstein selbst ist Anfang der 1980er-Jahre aus „Hütte“ weggezogen – doch er merkt, dass die Stadt sein Wesen bis heute prägt.

Dem österreichischen Publikum dürfte Friedrich Liechtenstein außerdem über seine Affinität zum – ebenfalls schon seit Jahrzehnten verfallenden – Ex-Nobelkurort Bad Gastein bekannt sein, dem er 2014 in einem gleichnamigen – obgleich nur sehr lose zusammenhängendem – Konzeptalbum zwischen Spoken Word, Chanson und Elektronik huldigte (Prädikat: skurril, aber hörenswert). Auszüge aus „Bad Gastein“ untermalen den Podcast als Soundtrack. Bei Stalinstadt könnte einigen auch Graz in den Sinn kommen, das jedoch alles andere als eine sozialistische Planstadt war und ist. Das etwas geschmacklose und unbedachte Wortspiel „Stalingraz“ tauchte 2003 auf, als die Kommunistische Partei Österreich (KPÖ) bei den Gemeinderatswahlen erstmals an der 20-%-Marke kratzte. 2021, mit der Wahl der langjährigen KPÖ-Stadträtin Elke Kahr zur Bürgermeisterin, ist „Stalingraz“, verbunden mit dem Gespenst des kommunistisch/sozialistischen Städtebaus, kurz in den öffentlichen Diskurs zurückgekehrt. Doch in der Realität ist die KPÖ vielmehr mit der mühsamen Eindämmung des unkontrollierten, investorengetriebenen Zubetonierens der steirischen Landeshauptstadt beschäftigt, als mit städtebaulichen Retrotopien …

Doch kehren wir zurück zur „echten“ Stalinstadt, bzw. nach Eisenhüttenstadt 2022: Ein einsamer Posaunist spielt in der Lindenallee, der ehemaligen Leninallee; für wen eigentlich? Die ehemalige Prachtstraße der Planstadt scheint wie leergefegt, als Friedrich Liechtenstein und Jennifer Endom sie auf ihrer Erkundungstour beschreiten. Dabei war Stalinstadts Anfang vielversprechend: Adelheid Meisel, heute 88, war hier ab 1956 Bauleiterin und erzählt in der ersten Podcast-Folge von der Faszination, die damals von der sozialistischen Vorzeigestadt im Osten Brandenburgs ausging: Es gab moderne und helle Wohnungen, hochwertigere Lebensmittel, bessere Löhne als im Rest der DDR. Kein Wunder, dass vor allem junge Familien hierher zogen. Mit den neuen Kinderkrippen, großzügig verteilten Gaststätten und Kultureinrichtungen war auch infrastrukturell viel vorhanden – eine Stadt der kurzen Wege. Motor und Wirtschaftsgarant Nr. 1 blieb aber stets das riesige Hüttenwerk mit Hochöfen, einem Stahlwerk, mit Warm- und Kaltwalzen. Solange es dem EKO – mit bis zu 16.000 Beschäftigten – gut ging, ging es auch Eisenhüttenstadt gut. 

Ab den 1980er-Jahren jedoch begann das wirtschaftliche und soziale Gefüge des Arbeiter- und Bauernstaates DDR endgültig zu bröckeln – selbst im „Paradies“ Eisenhüttenstadt. Davon erzählen im Podcast Kathrin Schilling, heute 50, damals Teenie, und Ottokar Wundersee, von 1988 bis 1990 just in der Zeit des Berliner Mauerfalls als von außen berufener Oberbürgermeister in „Hütte“. Der endgültige Abstieg Eisenhüttenstadt vollzog sich dann in den 1990er-Jahren mit der wirtschaftlichen Zerschlagung des im wiedervereinigten Deutschland unrentabel gewordenen Hüttenwerks. Städtebauliche Fehler der letzten 30 Jahre wie ein neues Shopping-Center in der Peripherie, das im Zentrum für Geschäftssterben sorgte und die Präsenz einiger Immobilien-Investoren bzw. „Auf-Rendite-Wartender“, die jahrelang eben nur auf ihren Bauten „saßen“, anstatt sie zu sanieren und aufzuwerten, haben zum aktuellen Bild einer menschenleeren Hauptstraße mit einem einsamen Posaunenspieler geführt.

Die Hoffnung besteht jedoch, dass „Hütte“ die nochmalige Wende schafft: Martin Maleschka, 39, Architekt und Fotograf, befasst sich seit Jahren mit der DDR-Baugeschichte und will als Kulturbotschafter Eisenhüttenstadts wieder mehr junge Menschen in die momentan am stärksten schrumpfende Stadt Brandenburgs bringen. Die städtebauliche Substanz, meint Maleschka, sei durch die kluge Stadtplanung der kurzen Wege und gut organisierten Stadtviertel gegeben – nur müsse eben auch richtig in diese brachliegenden Strukturen investiert werden. Ein Gespräch zwischen Maleschka und Meisel, dem heutigen Kulturbotschafter und der ehemaligen Bauleiterin, wäre in diesem Kontext aufschlussreich und wünschenswert gewesen, kommt aber leider nicht im Podcast vor. Stattdessen (zu) viel ausschweifende Gedankengänge Liechtensteins und Endoms über Gott und die Welt …

Dass am Ende der fünf je halbstündigen Episoden doch das Gefühl bleibt, nicht allzu viel Hintergrundwissen über die Stadt selbst, ihre Dynamiken und ihre Geschichte erfahren zu haben, kann an zwei Schwachpunkten der Produktion festgemacht werden. Friedrich Liechtenstein ist zwar ein charmanter und humorvoller Erzähler, aber kein (Zeit-)Historiker, und kann auch nicht die gesamte Geschichte Stalinstadts, geschweige denn der DDR, glaubwürdig abdecken. Hier hätte man anderen Personen – Expert*innen wie Lai*innen – mehr Raum geben können. Zudem merkt man „Liechtenstein in Stalinstadt“ an, dass beinahe krampfhaft ein möglichst junges Zielpublikum angesprochen werden soll – flapsige Verallgemeinerungen, ein etwas überproduzierter Einstieg … Weniger Effekte, mehr Fakten wären hier wünschenswert gewesen.

„Liechtenstein in Stalinstadt“ gibt der Kunstfigur Liechtenstein insgesamt mehr Raum als der Planstadt, was nicht unbedingt zum Erkenntnisgewinn über den DDR-Städtebau beiträgt. Ungeachtet dieser Kritik umgeht die rbb-Produktion die populären Fallen „DDR-Nostalgie“ und „Sozialismus-Bashing“, präsentiert den Hörer*innen Licht- und Schattenseiten der Geschichte Eisenhüttenstadts. „Eine pudrige Fantasie, die in den Sand gesetzt wurde“, sagt Friedrich Liechtenstein einmal zu seiner Heimat. Dieser Podcast weckt zumindest die Lust darauf, die – sich nun im Rentenalter befindliche – Planstadt selbst zu erkunden.

Karin Tschavgova

Interessanter Beitrag für alle und das sind sicher viele, die die Geschichte von Stalinstadt (das ursprünglich Karl-Marx-Stadt heißen sollte, dann aber, kurz nach dem Tod Stalins seinen Namen tragen musste) in der Niederlausitz nicht kennen. Auch die Kritik an der angeblich vordergründigen Selbstbespiegelung von Friedrich Liechtenstein macht neugierig auf den Podcast. Abschalten kann man den dann immer noch. Nur: ob mir darin erklärt werden wird, was ein Endom ist? Zitat: „Endoms über Gott und die Welt ….“ Wenn’s mir nicht einmal Google verraten kann und mich mit Endometriose oder einem Firmennamen in der Slowakei abspeisen will.
Schön wäre gewesen, wenn man zumindest ein, zwei Bilder über Stalinstadt, heute Eisenhüttenstadt, beigefügt hätte, vielleicht eines über den gebauten Historismus in der Lenin- äh! Lindenallee (z.B. Foto: Walter Fricke, copyright Stadtarchiv Eisenhüttenstadt). Oder eines der Plattenbausiedlungen, aber die kennt man ja aus Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz, und von hundertfach anderswo.
Übrigens hat laut Medienberichten im September 2021 Tesla Interesse an den Wohnblöcken/leerstehenden Wohnungen in Eisenhüttenstadt gezeigt, weil sie in der Nähe dort ihr großes Europäisches Werk bauen wollen, in dem bis zu 15.000 Menschen arbeiten sollen. Eisenhüttenstadt gerettet?

Fr. 22/04/2022 20:03 Permalink
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