05/08/2013

ASTRID RADNER (*1990) studierte Deutsche Philologie an der Philologisch- Kulturwissenschatlichen Fakultät und Kommunikationswissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien. Neben ihrer Arbeit beim Radio kann sie auf Veröffentlichungen in der Zeitschrift "Profil" zurückblicken. Im Wintersemester 2011/12 war sie in Auckland, Neuseeland, wo sie ein Praktikum im "Department of Communication Studies" der Hochschule Unitec absolvierte.

05/08/2013

Im Februar 2011 zerstörte ein Erdbeben etliche Gebäude im Stadtzentrum von Christchurch, darunter auch das Wahrzeichen der Stadt, die Christchurch Cathedral.

©: Astrid Radner

Anstatt die Kathedrale zu restaurieren, soll an ihrer Stelle ein neuer Stadtkern entstehen. Dazu wurde ein internationaler Architekturwettbewerb ausgeschrieben. Das Ergebnis soll im August vorliegen.

©: Astrid Radner

Neuseeländische Architektur lebt von der natürlichen Szenerie, die sie umgibt.

©: Astrid Radner

Bauliches Erbe am anderen Ende der Welt

Während der Grazer Uhrturm um das Jahr 1841 bereits auf seinen 600. Geburtstag zuging, wurde gerade einmal das älteste Gebäude Aucklands, der größten Stadt Neuseelands, errichtet. Und zwar keine Kirche, keine politisches Bauwerk, keine Burg aus längst vergangenen Tagen, sondern – für altertumsverwöhnte Europäer unspektakulär – das schlichte Haus eines Händlers. Mit weißen Holzfassaden versehen, unterscheidet es sich nur durch ein Merkmal von den restlichen Häusern in Aucklands Suburbs: Es ist älter. Vielleicht wurde es auch deshalb eigens in einen Park transportiert und unübersehbar beschildert: „Historischer Platz“

Viel Raum für wenig Architektur
Als jüngstes besiedeltes Land der Welt steckt Neuseeland noch in baulichen Kinderschuhen. 4 1/2 Millionen Menschen leben auf Nord- und Südinsel, ein Drittel davon in Auckland. Auf einem Quadratkilometer findet man im Schnitt 16 Einwohner, in Österreich sind es 100. Dementsprechend viel Boden ist daher bislang unberührt geblieben.
Neuseeländer verstehen den Begriff „historisches Erbe“ in Bezug auf Architektur deshalb auch anders als Europäer. „Bauliches Erbe ist ein Problem in Neuseeland“, meint Tony van Raat, Rektor des „Department Architecture“ der Hochschule Unitec in Auckland, „wir haben keine 800 Jahre alten Kirchen wie in Europa. Was wir haben, ist ein 100 Jahre altes Holzhaus.“ Nicht verwunderlich also, dass den meisten Kiwis der Mund einige Sekunden offen steht, wenn sie zum Beispiel die Prager Karlsbrücke oder den Wiener Stephansdom sehen. Einmal nach Europa! Einmal das Altertum in seiner vollen Pracht erleben! Das ist der Traum vieler Neuseeländer.

Was nach dem Thron folgt
Heißt das, dass in Neuseeland historische, also primär viktorianische Architektur einen höheren Stellenwert hat als in Europa? Eben aufgrund seiner Seltenheit? „Im Gegenteil“, denkt Tony van Raat, „wir glauben nicht, dass unsere Gebäude denselben Wert wie in europäischen Ländern haben. Neuseeländern fehlt das geschulte Bewusstsein dafür, was an unseren Bauten wertzuschätzen ist und was nicht.“

Österreicher wüssten im Gegensatz dazu schon um den Wert ihrer Architektur. „Die Identifikation mit historischen Gebäuden ist in Österreich relativ hoch. Österreichische Architektur ist aufgeladen mit persönlicher Identität“, sagt Christian Brugger, Landeskonservator der Steiermark.

In Neuseeland ist das anders. Die viktorianische Baukultur der Kolonialmächte ist nur ein wenig bedeutender Teil der architektonischen Geschichte. „Obwohl diese Gebäude für uns wertvoll sind, stehen sie kaum in Verbindung zu den Menschen, die jetzt in Neuseeland leben. Die interessanteste Architektur in unserem Land wurde nach 1940 entworfen. Unser bauliches Erbe passiert somit in diesem Moment, in der Gegenwart“, meint der Architekt Adam Wild, der sich auf die Erhaltung von historischen Gebäuden in Neuseeland spezialisiert hat. Neuseeland entscheidet somit jetzt über das historische Erbe der Zukunft. „Wenn wir nicht jetzt beginnen, unseren Bauten Wert zuzuschreiben, werden sie auch in der Zukunft nicht wertvoll sein. Darum geht es in der Pflege von historischer Architektur: nämlich Verantwortung dafür zu übernehmen, was wir unseren Kindeskindern weitergeben.“

Mutter Architektur
Architektur Down Under beginnt sich demnach erst jetzt zu entwickeln. Aber gibt es in einer globalen Welt einen typischen neuseeländischen Baustil? „Nein“, sagt Tony van Raat, „keiner von uns ist mehr ausschließlich von einem Ort beeinflusst, genauso wenig wie unsere Gebäude. Architektur ist heute eine internationale Disziplin.“
Dennoch gibt es Spezifika. Während sich in der Stadt ein internationaler Trend fortsetzt, verstecken sich im ländlichen Raum die architektonischen Highlights. Denn was Neuseeland vom Rest der Welt unterscheidet, was sich nicht nur Filmemacher aus aller „Herr(en)-der-Ringe“-Länder, sondern auch heimische Architekten zunutze machen, ist die einzigartig vielfältige Landschaft. „Neuseeländer erachten viel mehr die Landschaft als ihr wertvollstes Erbe, nicht den vom Menschen erbauten Lebensraum.“ Neuseeländische Architektur lebt von der natürlichen Szenerie, die sie umgibt, bettet sich in eine weite Kulisse aus Bergen, Flüssen und Wäldern und erlangt erst dadurch ihre Einzigartigkeit. Dabei geht es um das Spiel mit Aussicht, Sonne und Licht.

In der Baukultur der neuseeländischen Ureinwohner, der Māori, spielt außerdem Holz eine große Rolle. Vor allem die Gestaltung von Oberflächen mit verschiedensten Schnitztechniken steht im Vordergrund, nicht nur als bloße Dekoration, sondern als Teil der baulichen Struktur. „Māoris sehen Gebäude als ihre Vorfahren. Sie haben daher Arme, Hände, einen Kopf und sprechen zu uns, als ob sie Personen wären“, erläutert Van Raat.

Ver(d)erblich
Die Erhaltung und Gestaltung von historischen Bauten wird von der neuseeländischen Regierung kaum unterstützt. Das zeigt sich laut Wild am Beispiel der Stadt Christchurch. Ein Erdbeben kostete im Februar 2011 185 Menschen das Leben und zerstörte etliche Gebäude im Stadtzentrum, darunter auch das Wahrzeichen der Stadt, die Christchurch Cathedral. Anstatt sie zu restaurieren, wird nun darüber diskutiert, sie ganz abzureißen. Und schon ist Platz für einen völlig neuen, modernen Stadtkern. Wie dieser aussehen soll, wird demnächst das Siegerprojekt eines internationalen Architekturwettbewerbs zeigen.

Adam Wild sieht es als „unverzeihliches Verbrechen“, historische Gebäude einfach durch neue zu ersetzen. „Das Großartige an Städten ist deren Komplexität, die durch die Spannung aus verschiedenen Stilen und Bautypen entsteht. Offensichtlich ist die Erhaltung von historischen Gebäuden zu teuer und risikoträchtig für die neuseeländische Regierung. Das ist enttäuschend.“ Tony van Raat sieht die Defizite nicht in der Erdbebenresistenz der neuen Gebäude. Vielmehr befürchtet er, dass der Wiederaufbau architektonisch schlecht und billig ausgeführt werden könnte: „Wir können Gebäude konstruieren, die sicher genug sind. Es geht jedoch darum, Gebäude zu konstruieren, in denen wir uns wohl fühlen.“

Wie würde man in Europa damit umgehen? „Denkmalschutz in Europa sieht jedes Objekt als Stück der Geschichte“, so Brugger, „auch durch Kriege oder Naturkatastrophen hervorgerufene Zerstörung ist als Teil der Geschichte zu akzeptieren. Nicht nur in Österreich gibt es kaum historische Gebäude, die seit ihrer Errichtung unverändert existieren. Sie wurden immer wieder den jeweiligen Erfordernissen angepasst.“ Restaurierung und die Anpassung an zeitgemäße Bedingungen sind deshalb auch heute möglich. „Solange die Teile, die dazukommen, nicht vorgeben, sie seien „original“, ergänzt Brugger. Das denkt auch Adam Wild: „Das würde nur bedeuten, dass wir alle Bedeutungen und Geschichten, die über die Zeit entstanden sind, zu einem bestimmten Moment zurückdrehen. Historische Gebäude sollten die ganze Geschichte erzählen und Veränderungen miteinbeziehen.

Architektonisches Erbe hat demnach sowohl in Europa als auch in Neuseeland eine Vergangenheit. Aber auch eine Zukunft.

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